Mila_ schrieb:Ich werde nie verstehen warum man auf biegen und brechen am Leben festhalten muss.
Wir wachsen in einer Gesellschaft auf deren Doppelmoral uns lehrt das Leben höher zu halten als den Tod.
Und das ist gut so, denn das Leben bietet Möglichkeiten, der Tod tut das nicht.
Aber so normal, menschlich und gesund Doppelmoral auch ist, genauso fragwürdig ist die Intensität mit der manche Menschen sie bei sich tragen.
Ich wurde gelehrt, dass man ein Urteil über andere nicht leichtfertig spricht und mir wurde beigebracht zu hinterfragen was genau mich nun zu diesem Urteil "befähigt"/"berechtigt".
So habe ich gelernt mit Urteilen über Andere mehr als nur zurückhaltend zu sein.
Ich frage mich manchmal was in Menschen vorgeht die ernsthaft glauben sie hätten irgendeine Form von "übergeordneter Weisheit", die sie befähigt sich Entscheidungen mit denen die, die wirklich betroffen sind sich schwer tun mal eben aus dem Ärmel zu schütteln und die scheinbar keine Kenntnis haben, von dieser Grenze die zwischen unserer eigenen Wahrnehmung und der aller Anderen verläuft.
Aber das übersteigt meinen Vorstellungshorizont mehr als nur ein bisschen.
Ich habe Menschen gesehen, die sich an einem Leben festkrallen von dem völlig außer Frage stand, dass es nicht die gewünschte Zeit überdauern wird.
Und auch wenn mich das in Momenten in denen ich nicht der Mensch bin der ich gerne pausenlos wäre innerlich mit dem Kopf schütteln lässt weiß ich trotzdem, dass diese Lebensbejahung in unserer Kultur ausdrücklich erwünscht ist, auch wenn sie alle Grenzen der Realität sprengt.
Mein Vater war nicht dement, nicht dumm, nicht ungebildet.
Er war nicht ignorant.
Einfach nur sturer als ein Sack Kartoffeln.
Saß auf der Palliativstation quatschte über seine Entlassung nach Hause, wenn es ihm besser geht.
Trieb seine Frau und manch anderen fast in den Wahnsinn, denn er brauchte ja ganz dringend Internet, denn er müsse die neue Festplatte für seinen PC zu Hause so bestellen, dass er nicht erst drauf warten muss, wenn er wieder daheim ist.
Der Mann der uns nicht einmal als Kindern vormachen konnte, dass er keine Angst vor Spritzen habe ließ sich sämtliche Venen zerstechen um Infusionen zu legen mit Antibiotika die nichts, aber auch gar nichts mehr an der Tatsache ändern konnten, dass sein Körper in einen Sterbeprozess eingetreten war den auch die Sturheit dieses Mannes nicht stoppen konnte.
Das er länger gelebt hat als jede Prognose ihm zugestand hat niemanden der ihn kannte überrascht aber irgendwann läuft das, was im englischen Sprachgebrauch aus gutem Grund als "borrowed time" bezeichnet wird eben ab.
Aber obwohl ich das wusste und auch weniger emotional betrachte als es "normal" wäre, wäre es mir nicht im Traum eingefallen zu ihm hinzugehen und zu sagen:
"Weisste was Pappilein?
Du belügst Dich zum ersten Mal in Deinem Leben selbst, kostest die Menschen die Dich lieben und das Krankenhauspersonal ne Menge Zeit und Nerven, den Steuerzahler (bzw jeden der in die Krankenkasse einzahlt) mehr Geld als nötig und ändern wird das an der Realität gar nischt, also sei doch bitte so nett und vernünftig und mach mal nen Punkt und die Äuglein zu, alles hat ein Ende, nur die Wurst hat Zwei, weisste doch."
ICH hätte das nicht getan und vermutlich auch ohne zu zögern jeden ausm Fenster geworfen, der sowas versucht hätte.
Denn mein Vater brauchte dieses Umfeld indem keiner ihm vorgab ob und wie er mit seinem Leben abzuschließen hatte.
Das bisschen Kontrolle, dass ihm bis zuletzt keiner nehmen konnte, das war der entscheidende Punkt, der letzte Hauch Würde, den ein Mensch niemals verlieren sollte.
Bei Menschen die völlig irrational am Leben festhalten wird das in unserer Gesellschaft nicht nur akzeptiert sondern explizit bejaht und gefördert.
Ich begreife nicht warum man Menschen die von der anderen Seite ins Fenster schauen und beschließen, dass sie nu genug von dem Zirkus haben nicht der gleiche Respekt entgegen gebracht wird.
Womit ein Mensch leben kann ist individuell und niemand kann einem Menschen aufzwingen mit etwas leben zu können bzw zu wollen, was dieser Mensch einfach mal nicht aushält.
Hätte meine Schwester ein Kündigungsschreiben von ihren Beinen erhalten, dann wär sie, soweit noch möglich von der nächsten Brücke gesprungen.
Ich wollte den Rollstuhl in blau und nach Abklappern der entsprechenden Tierschutzvereine fand ich den perfekten Schlittenhund zu davorspannen.
Aber das gibt mir nicht die Kompetenz und gleich gar nicht das Recht einem Menschen der ein Leben auf Rädern einfach mal nicht WILL zu beurteilen und ihm in die Birne zu quatschen, dass er nu nicht rumnörgeln soll, denn immerhin gehts mir ja auch gut.
Nicht nur weil mein Respekt vor anderer Leute Perspektiven mir das verbietet, sondern weil ich weiß, dass es statistisch betrachtet ausgeschlossen ist, dass da draußen nicht jeden Tag Menschen aufstehen und mit einem Lächeln in den Tag starten und ein Leben genießen können das ich mich weigern würde zu leben.
So gern ich Mathematik auch mag, Statistik konnte ich noch nie leiden aber es gibt nun einmal Dinge bei denen die Statistik immer Recht hat.