Arrakai schrieb:Die ganze Diskussion passt jedenfalls zu unserer radikal individualistischen Zeit. Irgendwann wird sich auch dieser Zeitgeist wieder ändern. Es kommen existenzielle Probleme auf uns zu (Folgen des Klimawandels wie z.B. Migration, Unwtter und Dürre, aber auch Kriege).
Individualisierung und ein gewisses Streben nach Einzigartigkeit sind nach meiner Beobachtung nicht von der Hand zu weisen. Das muss ja nicht negativ interpretiert werden; Jugendliche und junge Erwachsene können sich ausprobieren, freier leben und lassen sich nicht mehr so viel gefallen.
Andererseits wirken sie manchmal nicht wirklich frustrationstolerant und empfinden bereits scheinbar kleine Alltagsanforderungen als große Belastung. Meine Erfahrung nach 25 Jahren Arbeit mit psychisch erkrankten jungen Menschen im stationären Wohnbereich.
Vor 20 Jahren hatten wir sehr viele Mädchen mit Essstörungen, dann fast nur noch BPS und Selbstverletzungen. Die Arten der Selbstverletzungen waren vor 10 Jahren noch viel extremer (Schlucken von Rasierklingen u.ä.), was zum Glück zurückgegangen ist. Auch haben wir nun weniger junge Leute, die den Betreuern gegenüber verbal und körperlich aggressiv sind. Und Socia Media spielt heute eine größere Rolle. Das führt dazu, dass viele kaum noch aus ihren Zimmern kommen und nicht mehr in Gemeinschaft essen oder etwas unternehmen wollen.
Der Aufnahmegrund bei uns ist immer eine psychiatrische Diagnose (oder bei Jugendlichen: eine vermutete). Die jungen Leute wohnen auf mehrere Häuser verteilt bei uns in Wohngruppen und sind zwischen 16 und 25. Die allermeisten sind aber volljährig. Fast alle gehen keiner Tätigkeit nach bzw. nicht in die Schule. Fast alle (früher wie heute) berichten von früheren Mobbing-Erfahrungen in der Schule.
Vor 10 Jahren war Transgender bei uns gar kein Thema und nun "fluten" uns Mädchen und junge Frauen, die mit männlichem Personalpronomen und Wunschnamen angesprochen werden möchten (was wir selbstverständlich respektieren). Die hiesige Kinder- und Jugendpsychiatrie, mit denen wir zusammen arbeiten, bestätigt diese Entwicklung.
Ein Trans-Mädchen hatten wir bisher nur einmal. Umgekehrt sind es die Hälfte der Bewohner, die mittlerweile Trans-Jungs sind.
Unabhängig von Transgender:
Bei den Jungs sind die Diagnosen im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte ziemlich gleich geblieben, bei den Mädchen scheint es da Veränderungen zu geben (siehe oben).
Eine Hormontherapie hat noch keiner durchlaufen, wohl auch, weil viele nicht regelmäßig zum Arzt gehen wollen und vieles abbrechen bzw. keine Kontinuität zeigen können. Wie das nach dem Auszug bei uns dann sein wird, kann ich nicht sagen.
Einige haben die Vorstellung, dass sich ihr Leben zum Positiven ändert, wenn sie eine Hormontherapie oder später mal eine Geschlechtsangleichung vornehmen lassen, treiben das aber aktuell nicht voran.
Bei manchen ist es auch nicht an der Kleidung/Frisur zu erkennen, dass sie sich nun als männliche Person fühlen. Sie tragen an manchen Tagen Kleider, Push Up..., einige auch durchgängig, und aufgrund der Sehgewohnheiten muss ich darauf achten, dass ich dann nicht ins falsche Personalpronomen falle, wenn ich über sie spreche (z.B. bei der Übergabe).
Die meisten binden sich aber die Brüste ab.
Was mir auch aufgefallen ist: fast alle bezeichnen sich als asexuell oder leben zumindest ohne sexuelle Beziehungen. Einige wenige haben Sex, dann oft mit beiden Geschlechtern.
Wie sich das alles noch entwickeln wird, kann ich nicht sagen. Was aber über die Jahrzehnte wohl bleiben wird: viele junge Leute haben ziemlich viel Trouble mit sich selbst. Dass die sich mit Klimawandel und Politik beschäftigen, ist eher selten. Zumindest bei uns.