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7.342 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Bücher, Lesen, Literatur ▪ Abonnieren: Feed E-Mail

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01.06.2024 um 14:43
Roberto Simanowski - Digital Art and Meaning

Simanowski-Digital Art

Roberto Simanowski ist deutscher Literaturwissenschafter und spezialisierte sich auf digitale Literatur und digitale Kunst. Er gilt als einer der weltweit anerkannten Experten und war an verschiedensten Universitäten tätig, derzeit arbeitet er an der Freien Universität Berlin.

Dieses umfangreiche Werk wurde 2011 bei der University of Minnesota Press veröffentlicht und umspannt digitale Kunst von den 1980er Jahren bis etwa 2010, wobei Simanowski einen hermeneutischen Ansatz mittels der Methode des Close Reading, also des Lesens nahe am Text bzw. Werk anwendet, was zum Teil zu überaus interessanten Schlussfolgerungen führt. Einige der analysierten Werke habe ich in den letzten Tagen in meinem Blog vorgestellt.

Simanowski positioniert sich eindeutig für eine kritische Auseinandersetzung und Reflexion mit Literatur und Kunst und gegen eine Event-Orientierung, gegen eine reflexionslose Nachemfindung bzw. Immersion (Eintauchen) in ein Kunstwerk, an einer Stelle nennt er das Publikum bei interaktiven Events "interaktive Versuchskaninchen (interactive guinea pigs)".

Faszinierend sind frühe Versuche, Textgeneratoren zu entwickeln. Eine der frühesten Versuche ist der von Theo Lutz mit einem Zuse Z22 auf Basis des Wortcorups von Kafkas Das Schloß (siehe meinen Blogeintrag). 1992 hat der Informatiker Scott Turner mit dem Minstrel-System eine auf Algorithmen basierende Textmaschine entwickelt (englischsprachige Beschreibung auf Grand Text Auto). Deren Sätze sind zwar noch einfach gehalten, Gefühle können kaum zum Ausdruck gebracht werden, aber die Storys sind schräg, so der Text über eine rachsüchtige Prinzessin, The Vengeful Princess:
Once upon a time there was a Lady of the Court named Jennifer. Jennifer loved a knight named Grunfeld. Grunfeld loved Jennifer.
Jennifer wanted revenge on a lady of the court named Darlene because she had the berries which she picked in the woods and Jennifer wanted to have the berries. Jennifer wanted to scare Darlene. Jennifer wanted a dragon to move towards Darlene so that Darlene believed it would eat her. Jennifer wanted to appear to be a dragon so that a dragon would move towards Darlene. Jennifer drank a magic potion. Jennifer transformed into a dragon. A dragon moved towards Darlene. A dragon was near Darlene.
Grunfeld wanted to impress the king.
Grunfeld wanted to move towards the woods so that he could fight a dragon. Grunfeld moved towards the woods. Grunfeld was near the woods. Grunfeld fought a dragon. The dragon died. The dragon was Jennifer. Jennifer wanted to live. Jennifer tried to drink a magic potion but failed. Grunfeld was filled with grief.
Jennifer was buried in the woods. Grunfeld became a hermit.
Mit diesen Entwicklungen sind Fragestellungen eröffnet, die sich heutzutage mit immer mächtigeren KI-Tools dringlicher denn je ergeben: Können Texte von Maschinen Bedeutung tragen? Wenn ja, welche? Kann eine Intention unterstellt werden? Wenn ja, wessen? Des Programmierers/Entwicklers oder der Maschine? Wer hat das Urheberrecht auf diese Texte?

Interessant auch der Abschnitt über die Abbildung des Internet-Traffic. Mittels Überwachungsprogramme werden Tiefenstrukturen an den Tag gefördert, auch wenn sie auf den ersten Blick bedeutungslos erscheinen. In Realität wird jedoch dieses Mapping von Informationen, wie es genannt wird, auch benutzt. Kunstprojekte abstrahieren diesen Prozess zu einer "non-cognitive visualisation", was eine enge Zusammenarbeit von Softwareentwicklern und Künstlern benötigt. Dass bei manchen dieser Projekte Spionagesoftware eingesetzt wird, ist beim Betrachten dieser Installationen nicht bewusst gemacht.

Ausblick gibt Simanowski auch auf die Entwicklungen des Internet. Dass frühe Computerkunst sehr sprachlastig war, sei für ihn keine Umkehr des Visualisierungstrends moderner und postmoderner Kunst wie Lebensweise. Dies sei der noch unausgereiften Technik geschuldet und je mächtiger diese wird, desto mehr werden Bilder und Videos zur Kommunikation eingesetzt werden. Er sieht dies bereits in den frühen Twitter-Entwicklungen. Meines Erachtens gibt ihm der Trend bis heute recht.

Auch der Frage, ob das Internet Räume zur Demokratisierung bzw. eines demokratischen Diskurses eröffnen könne, steht Simanowski skeptisch gegenüber. Er sieht dadurch, dass eher Exklusion als Inklusion die Diskussionen präge, durchaus eine Bedrohung für die Demokratie. Die aktuelle Bubble-Diskussion scheint ihm im Rückblick ebenfalls recht zu geben.


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07.06.2024 um 19:05
Paul Krugman - End This Depression Now

Krugman-End

Zum Zeitpunkt des Erscheines dieses Buchs 2012 war der Nobelpreisträger Paul Krugman Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Princeton, New Jersey. Politisch gilt Krugman als linksliberal und seine wirtschaftswissenschaftlichen Theorien fußen auf Maynard Kenyes.

Kerngebiet seiner Analyse der Krise ab 2008 sind die USA, ein Kapitel ist den Besonderheiten der Eurozone gewidmet. Die Antwort, wie die Krise zu beenden sei, sieht Krugman darin, dass der Staat mit erhöhten Ausgaben Arbeitsplätze schaffen und somit die Kaufkraft steigern soll, sodass die Wirtschaft auf dem Niveau tätig sein kann, das ihr inhärent ist. Die Mittel sind vorhanden, damit dies nicht zu einer Inflation führt. Und dass dies funktioniert, hat die Kriegswirtschaft in den USA ab 1939 gezeigt, nur dass diesmal nicht in Kriegsmaterial investiert werden muss.

Bei Schulden müsse generell zwischen privaten bzw. geschäftlichen einerseits und Staatsschulden andererseits unterschieden werden. Hohe private und Geschäftsschulden machen eine Wirtschaft anfällig. Ihr Stand lag in den USA Anfang der 1930er Jahre wie 2008 in der Höhe des Bruttoinlandsprodukts. 2008 führte das Platzen der Immobilienblase zu einer Kettenreaktion und in die Liquiditätsfalle. Selbst ein Leitzins von null Prozent konnte die Vollbeschäftigung nicht wiederherstellen und tiefer kann er nicht fallen. Liquiditätsfalle bedeutet somit auch, dass weniger konsumiert wird, als produziert werden könnte. Während einer Liquiditätsfalle Geld ins System zu pumpen führe anders als in Nicht-Krisenzeiten nicht zu einer Inflation. "No boom, no inflation."

In eine fallende Wirtschaft (weniger Kaufkraft ist im Umlauf) komme nun das Entschuldungs-Paradox. Private Haushalte und Firmen beginnen nun Schulden abzubauen und gleichzeitig einen Sicherungspolster anzusparen. Geld wird dem Wirtschaftskreislauf entzogen. Und nun müsse einer der Player einspringen, um der Abwärtsspirale entgegenzuwirken und Geld in den Kreislauf zu stecken: der Staat.

Erschwerend kam die Deregulation seit den 1980er Jahren hinzu (Reagan-Jahre) und schließlich 1997 die Möglichkeit, dass Investment- und Kommerzialbanken fusionieren durften. "Bankers ran wild." Die Folge der Deregulation war, dass die oberen ein Prozent (und darunter die obere eine Promille) der Bevölkerung unverhältnismäßig reicher wurde. Geld, das der Mittelschicht nicht zur Verfügung stand, deren Ausgaben für ihren angemessenen Lebensstil (Ausbildung der Kinder) immer mehr über Kredite finanziert werden mussten. Private wurden damit krisenanfälliger. Krugmans Vergleich ist, dass die fünf bestbezahlten Hedgefond-Manager so viel im Jahr verdienten wie 80.000 Schullehrer in New York.

Krugman kritisiert auch die Mitglieder seinen eigenen Zunft stark, dass sie die Lehren aus der Wirtschaftskrise ab 1930 vergessen hätten und sich immer mehr zu Austeritären (Anhänger einer Sparpolitik) entwickelt hätten. Austeritätspolitik sei aber zum Beispiel in Deutschland die Ursache dafür gewesen, dass die Wirtschaftskrise ab 1930 so heftig ausfiel. Der Internationale Währungsfond hätte in einer Studie mit 173 Fällen von Sparpolitik zwischen 1978 und 2009 belegen können, dass Austeritätspolitik wohl kausal zu erhöhten Arbeitslosigkeitsraten führe.

In Bezug auf die Eurozone ist Krugman Euroskeptiker. Durch den Boom in den Jahren vor der Krise seien die GIPSI-Staaten (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien) durch den Euro überbewertet und die Produktionskosten seien zu hoch (in Deutschland seien sie vergleichsweise billig, weshalb dort der Export boome). Wenn die GIPSI-Staaten eine eigene Währung hätten, könnten diese abgewertet werden und die Ökonomien somit wettbewerbsfähiger werden. Mit dem Euro laufe dies über sinkende Löhne und diese können nur sinken, wenn die Arbeitslosigkeit hoch sei. Das Krisenmanagement produziere unzählige Tragödien. Island sei das Gegenstück: Dort wurde die eigene Währung radikal abgewertet und die Wirtschaft laufe wieder wie am Schnürchen, viele Privattragödien konnten verhindert werden.

Eine interessante Beobachtung, die Krugman für die USA anführt und nicht auf Krisenzeiten beschränkt ist: Je niedriger die Steuerquote, desto höher die Arbeitslosigkeit.

Tax-Unemployment



Wenn Krugman politisch wird, kann er nicht umhin, sich an den Republikanern zu reiben. Diese seien in den Jahren der Deregulation immer radikaler geworden und hätten sich Kompromissen immer mehr verschlossen.


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08.06.2024 um 12:52
Franz Kafka - Josefine, die Sängerin

Kafka-Josefine

Dies ist Kafkas letzte Erzählung. Das Mäusevolk ist ein unmusikalisches Volk, das nur pfeifen kann. Josefine hat eine besondere Begabung und ihr Gesang lockt eine große Zahl an Publikum zu ihren Gesangsvorträgen. Sie entwickelt einen gewissen divenhaften Dünkel und möchte von anderen Arbeiten freigestellt werden, was aber den Unmut der Mäuseschaft erregt. Sie tritt immer weniger auf. Ihr wird prognostiziert, dass auch sie wie viele Helden des Volkes nach ihrem Ableben vergessen sein wird, da das Mäusevolk keine Geschichte treibe.

Wie oft in Kafkas Werken könnte das Mäusevolk für das jüdische Volk stehen, die Interpretationmöglichkeiten sind jedoch wie so oft vielschichtig und schwer zugänglich. Der Wiener Literaturwissenschafter Wendelin Schmidt-Dengler hat in Josefine eine Personifizierung des Wiener Journalisten Karl Kraus gesehen.


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10.06.2024 um 17:24
Erstaunlich, dass man in diesem Forum überhaupt Bücher vorstellen darf, wo doch ein großer Teil davon nicht im Internet nachlesbar ist.
Ich stelle mal einem Klassiker vor, bei dem letzeres sogar möglich ist und zwar Christa Winsloe "Das Mädchen Manuela". Auf der Gutenbergseite kann der komplette Roman nachgelesen werden, allerdings unter dem Titel "Mädchen in Uniform". https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/winsloe.htm Dem Roman ging ein Theaterstück voraus. Christo Winsloe lebte vor der Machtübernahme der Nazis offen lesbisch in Berlin und schrieb ein Theaterstück "Ritter Nerestan". Dieses wurde auf Postsdamer Bühnen aufgeführt und 1931 unter dem Titel "Mädchen in Uniform" in den Hauptrollen mit Dorothea Wieck und Herta Thiele verfilmt. In den 50-er Jahren gab es ein Remake mit Romy Schneider und Lilly Palmer. Christa Winsloe weigerte sich nach der Machtübernahme der Nazis der Reichsschrifttumkammer beizutreten. Ihren Roman "Das Mädchen Manuela", in dem das Thema des Stücks nochmal aufgenommen wird, konnte wegen des Inhalts nicht mehr in Deutschland erschienen. Zuletzt lebte sie im Exil in Frankreich, wo sie wegen angeblicher Kollaboration mit den Deutschen von einem Angehörigen der Resistance 1942 erschossen wurde.

Aber zurück zum Roman

Nach dem Tod ihrer Mutter kommt Manuela von Meinhardis in ein Internat in Preussen, in der die Töchter höherer Militärs zu guten Soldatenmüttern erzogen werden sollen. Anders als im Theaterstück wird auch die Kindheit und Jugend Manuela von Meinhardis beschrieben. Zuhause hat Manuela relativ viel Freiheit und man kann sich daher den Schock vorstellen, plötzlich täglich dem strengen Regiment der Oberin ausgesetzt zu sein. Einziger Lichtblick für Manuela ist die von allen umschwärmte Lehrerin Elisabeth von Bernburg, von der etwas Wärme ausgeht und die zwar streng aber fair ist. Manuela verliebt sich in sie, eine Zuneigung, die nicht so ganz einseitig zu sein scheint. Zum Geburtstag der Oberin wird ein Theaterstück aufgeführt, was etwas Abwechslung in den Alltag reinbringt. Anschließend wird noch gefeiert. Manuela hatte ein paar Gläser Alkohol zu viel, wobei sie lauthals ihre Gefühle für Elisabeth von Bernburg offenbart. Zu ihrem Unglück kommt just in diesem Moment die Oberin hinzu. Manuela wird von den anderen isoliert und soll in Zukunft auch keinen Unterricht mehr bei Elisabeth von Bernburg haben. Trotz strengem Kontaktverbot begeben sich die Mitschülerinnen am Ende des Romans auf die Suche nach Manuela,die nirgends auffindbar ist und um die sie sich berechtigte Sorgen machen. Sie können aber ihren Selbstmord nicht mehr verhindern. Das ist im Theaterstück "Ritter Nerestan" genauso.

Das Ende wurde in beiden Filmen verändert, wobei die 50-er Jahre-Fassung wesentlich geglätterter ist. Ich kann dennoch beide Filme empfehlen. Nach Sissi muss es für Romy Schneider geradezu befreiend gewesen sein, diese Rolle zu bekommen. Das Zusammenspiel mit Lilly Palmer ist großartig. Die Geschichte beruht auf dem realen Fall einer Mitschülerin von Christa Winsloe, die im Gegensatz zu ihrer Protagonistin aber überlebt hat und bei der Filmpremiere 1931 auch anwesend war.


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11.06.2024 um 00:29
Zitat von WMWM schrieb:https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/winsloe.htm
Link repariert: https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/winsloe.html

@WM

Vielen Dank für die Vorstellung dieses Werks.
Zitat von WMWM schrieb:Erstaunlich, dass man in diesem Forum überhaupt Bücher vorstellen darf, wo doch ein großer Teil davon nicht im Internet nachlesbar ist.
Geht halt um Bücher hier und nicht um eine Themendiskussion, daher scheint die Regel mit der offenen Zugänglichkeit hier nicht zu gelten. Würde ja auch keinen Sinn ergeben, außer man will nicht, dass über Bücher diskutiert wird.


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11.06.2024 um 06:13
Har jemand von Thomas Mann- Der Zauberberg gelesen?


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11.06.2024 um 18:05
Zitat von nagi61nagi61 schrieb:Thomas Mann- Der Zauberberg
Ja, ich. Vor etwa 30 Jahren. Unfassbar gutes Buch.


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11.06.2024 um 20:01
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:Unfassbar gutes Buch.
trifft es genau.
Kann man auch immer wieder mal lesen :lv:


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15.06.2024 um 11:30
Dubravka Ugresic - Karaokekultur

karaokekultur

Dubravka Ugresic (verstorben 2023) war bis 1993 slawistische Literaturwissenschafterin mit Schwerpunkt russische Avantgarde in Zagreb sowie Schriftstellerin. Nach der Unabhängigkeit Kroatiens wurde sie aus ihrem Beruf wie auch dem Staat geekelt, da sie sich öffentlich gegen einen neuen Nationalismus sowie faschistische Tendenzen in den neu erstandenen Staaten sowie in Kroatien ausgesprochen hat. Sie ging nach Amsterdam ins Exil und war an niederländischen wie US-amerikanischen Universitäten tätig.

In diesem 2012 erschienenen Band sind Essays gesammelt, die urspünglich in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht wurden. In vielen von ihnen setzt sie sich mit der Entwicklung des Kultur- und Kunstschaffens am Westbalkan auseinander, die aufschlussreiche Einblicke in - wie sie schreibt - von Mafiosos und Kriminellen regierten neuen Staaten bieten. Breiten Raum nimmt der auch im Westen sehr bekannte serbische Filmregisseur Emir Kusturica mit dessen pseudohistorischem Holzdorf Drvengrad ein, wo er wie ein Mafiapate herrscht. Damit sei Kusturica Teil einer Karaokekultur geworden, die amateurhaft Originales nachahmt. Wörtlich:
Künstler gibt es nicht mehr, es gibt Gesten, die zur Kunst erklärt werden können, aber nicht müssen.
Diese Karaokekultur (so der Titel des längsten Essays) sei für die weltweite Kultur dominierend geworden. Nicht mehr das Originelle oder Originale sei Kennzeichen der Kultur, sondern das Amateurhafte, das Nachahmende. Den Verlust formuliert sie - und dies bringt sie selbst zum Zweifeln, ob dieser Standpunkt nicht elitär sei - folgendermaßen:
Die Wertekodexe haben sich geändert, die Wertunterschiede zwischen den Meistern und den Amateuren, zwischen guter und schlechter Literatur existieren kaum noch, weil niemand mehr es wagt, sie zu definieren. Diese Unterschiede werden nicht von den Verlagen definiert, denn es ist beinahe sicher, dass sie mit einem guten Autor Verluste machen, an einem schlechten jedoch gut verdienen. Diese Unterschiede werden nicht mehr von den Kritikern definiert, weil sie fürchten, man werde ihnen Elitismus vorwerfen. Außerdem sind die Kritiker verunsichert, sie wissen nicht mehr, womit sie sich befassen sollen, denn zur Kritik verpflichtet sie heute weder Berufsethik noch Kompetenz. Die Unterschiede werden nicht mehr von den Literaturabteilungen der Universitäten definiert, denn die Literaturwissenschaft hat sich ohnehin zu Kulturwissenschaften ausgewachsen. Die Unterschiede werden auch nicht mehr von den Theoretikern definiert, weil die Literaturtheorie ohnehin im Begriff ist auszusterben und der Teil von ihr, der bemüht war, sogenannte ästhetische Werte zu definieren, schon längst nicht mehr existiert. Auch die Literaturkritiker in den Feuilletons definieren keine Unterschiede mehr; sie werden schlecht bezahlt, außerdem gibt es für die Buchbesprechungen immer weniger Platz. Schließlich definieren auch die Literaturzeitschriften keine Unterschiede mehr, weil ihre Zahl immer weiter schrumpft, die auf dem Markt verbliebenen Zeitschriften teuer sind und daher von den Buchhandlungen nicht gern vertrieben
Mit der Kommerzialisierung und der weltweiten Verbreitung der Internetzugänge sei diese Tendenz stark steigend. Ugresic führt unzählige Beispiele für ihre These an. Wikipedia als Amateur-Enzyklopädie nimmt einen zentralen Platz ein, aber auch Fanfiction, Twitterliteratur ("Twitteratur") und Exhibitionismus von Amateuren ("Angst vor dem Tod"). Im Internet ersetzen das Pseudonym und der Avatar das Individuum, der anonyme Autor habe Macht, da er unverletzlich und ohne Verantwortung sich äußern kann.

Beim Lesen stellt sich die Frage, woher Ugresic all ihre Beispiele nimmt. In einem der Essays ist dies beantwortet: "Ich gehe spät ins Bett, stehe früh auf und surfe wie besessen im Internet". Ugresic ist also Teil der von ihr so heftig kritisierten Kultur. Eine Essaysammlung mit Augenzwinkern? Auf der anderen Seite sind da die Passagen über innereuropäischen Menschenhandel von Sexsklavinnen bis Ernte- und Pflegehelfer:innen in Schwarzarbeit sowie den chinesischen Organhandel.


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16.06.2024 um 23:05
David Icke - Und die Wahrheit wird euch frei machen

Icke-WahrheitOriginal anzeigen (0,4 MB)

Eigenartiges Buch. Auf der einen Seite recherchiert Icke detailliert über politische und wirtschaftliche Netzwerke, andererseits vernichtet er seine Recherchen mit seiner eigentümlichen Idee, dass eine Elite von Außerirdischen, den "Manipulatoren der Vierten Dimension", beherrscht wird, welche wiederum mit Luzifer, Seth und was der Geier gleichgesetzt wird, die eine Weltregierung, eine Weltarmee, eine Weltwährung zum Ziel hat. Seit einer altägyptischen Bruderschaft würden diese Außerirdischen, die sich mit einer anderen, guten außeridirschen Macht im Krieg befindet, um die Herrschaft auf der Erde kämpfen. In Verbindung seien die Außerirdischen mittels einer Art von Telepathie und die Bösen hätten um die Erde ein Schutzschild gelegt, um die Channeling-Kommunikation zu den Guten zu unterbinden. Die Verbindung der Bösen zur Elite sei aber möglich. Und die Elite sind Rothschild, Rockefeller und deren Handlanger.

Sämtliche Herrschaftsstrukturen sieht Icke als pyramidische. Hier eine der vielen Grafiken in diesem Buch:

Icke-Pyramide

Und in diesem Organogramm stellt Ickle das hierarchische Beziehungsgeflecht der Elite dar, deren oberste Ebene direkten Kontakt zur Vierten Dimension (den satanischen Außerirdischen) habe:

Icke-ElitennetzwerkOriginal anzeigen (0,4 MB)

Praktisch ist für diesen Ansatz, dass jegliches welthistorisches Geschehen im Nachhinein als von der Elite auf Geheiß der satanischen Außerirdischen interpretiert werden kann. Wie der Kontakt wirklich zustande kommt, bleibt im Dunklen. Ausweg sei, so die Hoffnung Ickes, dass gute Menschen Channeling-Kontakt mit den guten Außerirdischen aufnehmen. Eine von Menschen gemachte und daher politisch beeinflussbare Entwicklung sieht Icke nicht. Daher ist für ihn "Demokratie" immer nur in Gänsefüßchen geschrieben.

Seine - als ehemaliger Linker und Grüner - Anbiederung an und Übernahme von ultrarechte(n) Standpunkten, obwohl er sich dauernd von Antisemitismus und Faschismus abgrenzen will, ist kaum nachvollziehbar. Icke sieht Konflikte (Kalter Krieg, Nahost-Konflikt) als von den Außerirdischen geplante und von der Elite umgesetzte Strategie einer Hegel'schen Dialektik: Der Kampf zwischen zwei Antipoden, von denen beide von der Elite finanziell unterstützt werden, führe zu einer Synthese, welche die von den satanischen Außerirdischen und der Elite gewünschen zentralistischen Weltherrschaft führe. Und das schon seit Jahrtausenden, was meiner Ansicht nach nicht sonderlich von Effektivität zeugt.

Warum Icke diesen eigenartigen Weg eingeschlagen hat, erschließt sich mir nicht. Angeblich habe ihm sein Alternativarzt, der seine Arthritis behandelt hat, ihm diese Flausen ins Ohr gesetzt. Die Akribie seiner Recherchen (falls er keinen Ghostwriter hat) hätte ihn durchaus befähigt, ein wirtschaftspolitisches Studium abzuschließen. So bleibt der Text trotz so mancher interessanter Quellen ein Kuriosum, das ihm langfristig vermutlich das Attribut "Spinner" einbringen wird. Aber vielleicht konnte damit in den 1990er- und 2000er-Jahren ordentlich Geld gescheffelt werden. Ob heute noch VT-ler:innen solch dicke Bücher lesen wollen, bin ich mir nicht ganz so sicher.


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17.06.2024 um 07:08
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:das ihm langfristig vermutlich das Attribut "Spinner" einbringen wird.
Du bist offensichtlich nie in den VT Rubriken unterwegs. :D
Icke wird dort schon lange als "Prämium 1A Vollspinner" angesehen.


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17.06.2024 um 12:01
Dass im u. g. Buch ultratrechte, antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet werden, hätte zu Beginn deiner Rezension erfolgen sollen, da man davon ausgehen kann, dass nicht alle sie bis zum Ende lesen:
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:David Icke - Und die Wahrheit wird euch frei machen
Dass VT mit Fakten gemischt werden, um sie glaubhafter zu machen, ist eine alte Masche -> Suggestion/Manipulation: Irrgeleitete Leserschaft nimmt an, wenn Inhalt auf S. xx wahr sei, sei wohl an der VT auch etwas dran.
Und dass gefährliche, staatsfeindliche Gruppierungen lange unter dem Radar des Staatsschutzes agieren und aufrüsten können, wenn sie nach außen als harmlose Spinner gelten, konnte man in den letzten Jahren beobachten; z. B. als Durchschnittsbürger den Sturm auf den Reichstag oder das Kapitol unterstützten.
Glaubhaftigkeit einer VT wird auch dadurch, suggeriert, indem man suggeriert, sie käme von Experten oder "konvertierten" Personen, was du in Gedankenstrichen extra hervorhebst:
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:Seine - als ehemaliger Linker und Grüner - Anbiederung an und Übernahme von ultrarechte(n) Standpunkten, obwohl er sich dauernd von Antisemitismus und Faschismus abgrenzen will, ist kaum nachvollziehbar.
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:Ob heute noch VT-ler:innen solch dicke Bücher lesen wollen, bin ich mir nicht ganz so sicher.
Müssen sie ja nicht unbedingt, solange die kruden Theorie häppchenweise immer noch verbreitet werden, wie z. B. in deiner Rezension - wenn auch in Zweifel verpackt. Die Grafiken, die du gepostet hast, sind schneller erfasst bzw. man versteht deren Botschaft auch ohne deinen Text zu lesen.
Ich erzähle dir hier sicherlich nichts Neues. Umso fragwürdiger finde ich deine Rezension.


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17.06.2024 um 16:25
Der schmale Grat zwischen Genie und Wahnsinn
Manches was der werte Herr sagt ich nicht falsch.

Gibt's da auch ein richtiges Buch zu dem Thema ?


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22.06.2024 um 00:19
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb am 01.06.2024:Faszinierend sind frühe Versuche, Textgeneratoren zu entwickeln. Eine der frühesten Versuche ist der von Theo Lutz mit einem Zuse Z22 auf Basis des Wortcorups von Kafkas Das Schloß (siehe meinen Blogeintrag). 1992 hat der Informatiker Scott Turner mit dem Minstrel-System eine auf Algorithmen basierende Textmaschine entwickelt (englischsprachige Beschreibung auf Grand Text Auto). Deren Sätze sind zwar noch einfach gehalten, Gefühle können kaum zum Ausdruck gebracht werden, aber die Storys sind schräg, so der Text über eine rachsüchtige Prinzessin, The Vengeful Princess
KI generierte Texte erinnern häufig an die Texte von guten Schriftstellern

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Vodun: African Voodoo

Ausstellungskatalog zu Voodoo skulpturen

Bei Voodoo (wie in anderen Kulten auch) geht es vor allem um Unterwerfung und Kontrolle


bv19562



voodoo001


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22.06.2024 um 12:50
Josef H. Reichholf - Einhorn, Phönix, Drache

Reichholf-Einhorn

Josef H. Reichholf ist bayrischer Zoologe mit Spezialgebiet Ornithologie (Vogelkunde) und ein "bunter Hund", was seine Thesen anbelangt. 2012 ging er Fabeltieren auf die Spur und brilliert mit umfangreichen zoologischen wie historischen Kenntnissen. Die drei Fabeltiere des Titels interpretiert er mit nachvollziehbaren Indizienketten wie folgt:

  • Der Einhorn-Mythos entstammt aus Afrika und die Grundlage ist ein nicht domestizierbares Tier: eine Antilope. Verpferdet und sexualisiert wurde das Einhorn im europäischen, christlichen Mittelalter.
  • Der Phoenix-Mythos entstammt ebenso aus Afrika und als Vorbild diente der seltene und schwer beobachtbare Flamingo.
  • Der Drache habe kein Tiervorbild. Während der Völkerwanderungszeit hätten Bergleute aus Mittel- und Ostasien auch in Europa Minen abgebaut und die Einheimischen mit Feuerspuk davon abgehalten, in die Nähe der Minen zu gehen. Ostasiatische Drachenumzüge hätten ihren Ursprung in der Rückkehrfeier der Bergleute mit ihrem Reichtum. Der Zwergenmythos ginge auch auf diese Bergleute zurück.


Gemeinsam ist allen Fabeltieren, dass die menschliche Fantasie im Laufe der Zeit sie reich ausgestattet habe.

Hinzu kommen noch viele weitere Betrachtungen zu Mythen (die zwölf Proben des Herakles) und zu literarischen Tierrepräsentationen (dass Shakespeare in Romeo und Julia zum Beispiel die Heidelerche und nicht die Feldlerche gemeint haben müsse - "Es war die Nachtigall und nicht die Lerche").

Amüsant zu lesendes Buch.


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22.06.2024 um 13:26
Franz Kafka - Kurze Erzählungen

Kafka-Gesamt

Eine Beschreibung von Kafkas kurzen Erzählungen, die ich der illustrierten Gesamtausgabe (siehe Cover-Bild) entnommen habe, findet sich in meinem Blog.

Franz Kafka - Kurze Erzählungen


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23.06.2024 um 10:06
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:Der Drache habe kein Tiervorbild. Während der Völkerwanderungszeit hätten Bergleute aus Mittel- und Ostasien auch in Europa Minen abgebaut und die Einheimischen mit Feuerspuk davon abgehalten, in die Nähe der Minen zu gehen. Ostasiatische Drachenumzüge hätten ihren Ursprung in der Rückkehrfeier der Bergleute mit ihrem Reichtum.
Vieles, was als typisch europäisch oder germanisch gilt, hat seine Vorbilder in Ostasien. Die kulturellen Einflüsse dauern ununterbrochen bis heute an, siehe z.B. Manga Comics oder auch japanischer Einfluss auf moderne Architektur.


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26.06.2024 um 15:08
Ich lese gerade "Siebzehn" (Seventeen) und "Siebzehn II" (The Death of a Political Youth) von Kenzaburo Oe.

Das ist ein frühes Werk des späteren Literaturnobelpreisträgers und es handelt vom siebzehnjärigen (Titel!) Attentäter Otoya Yamaguchi, der 1960 während der Wahlkampfzeit den sozialistischen Politiker Inejiro Asanuma ermordet hat.

Yamaguchi ist mit voller Wucht mit einem Kurzschwert von der Seite in Asanuma hineingerannt.
Beim Nachstechen (siehe Photo) konnte er überwältigt werden.

https://en.wikipedia.org/wiki/Inejir%C5%8D_Asanuma#/media/File:Tokyo_Stabbing.jpg

Oe untersucht in "Siebzehn" die Hintergründe des jungen Rechtsextremisten, also seine persönliche Entwicklung, seine Familie und seine politischen Kontakte. "Siebzehn II" beschreibt die Einlieferung des Attentäters ins Gefängnis und seinen dortigen Suizid, vor dem er noch mit Zahnpulver radikale Parolen auf den Spiegel geschrieben hatte.

Noch heute gedenken japanische Rechtsextremisten des Attentäters und feiern seine Tat, die die Sozialistische Partei Japans führerlos zurückließ.


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26.06.2024 um 16:13
"Sanditon", den letzten und unvollendeten Roman von Jane Austen.
Marie Dobbs hat ihn vollendet und diese Variante lese ich gerade.
Es dreht sich wie immer um Pärchen die sich finden müssen und ums Heiraten und das geschieht diesmal im angehenden Küstenkurort Sanditon.
Ist ganz okay, auch wenn ich mich immer beim Lesen frage, ob Austen es wirklich so formuliert hätte, aber die Vollenderin macht eigentlich einen guten Job.
Bin auf das Ende gespannt.

Mein vorheriges Buch war "Adele Spitzeder: Der größte Bankenbetrug aller Zeiten" von Julian Nebel - einfach nur unglaublich krass!
Es handelt sich um einen Tatsachenbericht:
1872 bringt die ehemalige Theaterschauspielerin Adele Spitzeder mit einem Schnellballsystem ca. 30.000 Menschen (hauptsächlich ärmere Menschen, Arbeiter, Dienstleute etc.) um ihr Erspartes.
Das Geschäft mit angeblichen Zinsen läuft so gut, dass sie in München und Umgebung einige Häuser, Grundstücke und sogar Zeitungen kaufen kann. Letztere kauft sie, um positive Artikel über sich und ihr Geschäft produzieren zu lassen, denn eine andere Zeitung setzt ihr mit kritischen Berichten ziemlich zu und das macht irgendwann die Polizei auf sie aufmerksam und das Schneeballsystem beginnt zu schmelzen...


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26.06.2024 um 22:35
Ich hab mir von Wolf Dieter storl das Buch naturrituale gekauft


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