Kafka-Gesamt

Folgende Sammlung habe ich der illustrierten Gesamtausgabe (siehe Cover-Bild) entnommen.

Das Schweigen der Sirenen: Odysseus habe sich nicht selbst vor den Sirenen mit angekettet an den Mast mit Wachs in Ohren geschützt. Die Sirenen hätten einfach geschwiegen. Und vielleicht hat er dies sogar gewusst und der Welt ein Märchen von Manneswillenskraft erzählt. Kafka und Frauen sind ein schwieriges Feld zu bestellen.

Das nächste Dorf: Kurzes Prosastück aus 1920, das nur ein Zitat des Großvaters enthält, dass das Leben so kurz sei, dass es oft nicht reiche, auch nur ins nächste Dorf zu reiten, ohne befürchten zu müssen, die Lebensspanne reiche dafür nicht aus. Eine Parabel, bei der das „nächste Dorf“ eine weite Interpretationsspanne bietet. Sehr pessimistisch bezüglich des Erreichens von Lebenszielen während eines Menschenalters.

Der Geier: Dieser Kurztext stammt aus 1920. Ein Geier hackt in die Beine des Erzählers und der Helfer erklärt umständlich, dass er von zuhause ein Gewehr holen wolle. Nach seinem Aufbruch fährt der Schnabel durch das Maul seines Opfers und ertrinkt in dessen Blut. Drei Interpretationsansätze sind gegeben: der Geier ist eine Metapher des Vaters, das Blut weist auf Kafkas Tuberkolose, der unbrauchbare Helfer symbolisiert meiner Ansicht nach eine Gesellschaft, die nicht fähig ist, einem Einzelnen in Not beizustehen.

Der Jäger Gracchus: Erzählung über einen Untoten aus dem Jahr 1917. Der Erzähler befindet sich in Riva am Gardasee und beschreibt den idyllischen Ort vom Kai aus, als eine Barke mit einer Bahre einfährt. Der Tote wird zum Bürgermeister gebracht und der Tote erzählt, er sei der Jäger Gracchus, der im Schwarzwald von einem Felsen zu Tode gestürzt sei, doch der Fährmann habe den Weg in das Totenreich nicht gefunden, so fahre er nun in alle Ewigkeit über die irdischen Gewässer der Lebenden. Dass sich Kafka (tschechisch „Dohle“) damit meint, geht aus dem Namen des Jägers hervor (italienisch „gracchio“ heißt ebenso „Dohle“). Ein Bezug zu Ahasver, dem Ewigen Juden, dürfte gegeben sein.

Der Kübelreiter: Eine 1917 entstandene Ich-Erzählung wie der letzte Traum eines Erfrierenden. Der Erzähler ist mittellos einem eiskalten Winter ausgesetzt und ihm ist die Kohle zum Heizen ausgegangen. Er reitet schwebend auf dem leeren Kohlenkübel zum Kohlenhändler, um auf Leihe um die schlechteste Kohle zu bitten. Der Händler ist seiner Bitte zugänglich, doch seine Frau gibt vor, nichts zu hören und niemanden zu sehen, geht aus dem Keller hoch und verjagt den Bittenden mit ihrer Schürze. Dieser entschwebt auf dem Kübel „in die Regionen der Eisgebirge“ und verliert sich „auf Nimmerwiedersehen“, wohl in den Tod. Realer Hintergrund ist der kalte Kriegswinter, metaphorisch ist das Ausgeschlossensein aus einer hartherzigen Gesellschaft zu erkennen, ein für Kafka typisches Motiv wie auch dasjenige, dass eine Frau diese Hartherzigkeit auslebt.

Der Schlag ans Hoftor: Der Ich-Erzähler reitet mit seiner Schwester außerhalb eines Dorfes bei einem Bauernhof vorbei und seine Schwester schlägt mit der Faust gegen das Hoftor. Im Dorf werden sie von Berittenen eingeholt, die Schwester kann entkommen, der Ich-Erzähler wird eingesperrt, auch wenn nicht mal gesichert ist, dass die Schwester überhaupt ans Tor geschlagen hat. Auf eine Entlassung hofft er nicht. Diese Parabel aus 1917 greift ein häufiges Thema Kafkas auf: Unverhältnismäßig harte Strafe für eine Tat, die nicht (selbst) begangen worden ist.

Die Sorge des Hausvaters: Diese kurze Erzählung aus dem Jahr 1920 beschreibt einen etwas derangierten Zwirnstern mit dem Gattungsnamen Odreadek, der ein Eigenleben führt, in Häusern und Wohnungen auftaucht und wieder verschwindet. Er wird als Kind angesprochen, seine lungenlose Stimme raschelt wie ein Blatt. Der Erzähler kontrastiert diese Leblose, aber wohl mit einem Bewusstsein ausgestattete Ding mit Lebewesen. „Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu.“ Die Vorstellung, dass Odradek ihn überleben könnte, sei für ihn schmerzlich. In der Literaturwissenschaft ist dieses Odradek vielfältig interpretiert worden, bis hin zum Davidstern. Interessant scheint mir die Kontrastierung mit dem unweigerlichen Tod von Lebendem, einer Ausläschung.

Ein Bericht für eine Akademie: Bisher die witzigste Erzählung, die ich von Kafka kenne. Ein vermenschlichter Affe schreibt einen Bericht an eine Akademie. Er ist während einer Jagdexpedition der Firma Hagenbeck an der Goldküste gefangen worden und da das Leben in einer Kiste nicht artgerecht ist, entscheidet er, von den Matrosen am Schiff menschliche Eigenschaften anzunehmen, die da sind: Hände schütteln, spucken, Pfeife rauchen, Schnaps saufen. Im Suff spricht er noch auf dem Schiff sein erstes Wort: „Hallo!“ In Hamburg tritt er in einem Varieté auf und nebenbei eignet er sich die „Durchschnittsbildung eines Europäers“ an. Die Beschreibung seines Lebensstils am Ende des Berichts:
Die Hände in den Hosentaschen, die Weinflasche auf dem Tisch, liege ich halb, halb sitze ich im Schaukelstuhl und schaue aus dem Fenster.
Kommt Besuch, empfange ich ihn, wie es sich gebührt. Mein Impresario sitzt im Vorzimmer; läute ich, kommt er und hört, was ich zu sagen habe.
Am Abend ist fast immer Vorstellung, und ich habe wohl kaum mehr zu steigernde Erfolge. Komme ich spät nachts von Banketten, aus wissenschaftlichen Gesellschaften, aus gemütlichem Beisammensein nach Hause, erwartet mich eine kleine halbdressierte Schimpansin und ich lasse es mir nach Affenart bei ihr wohlgehen.
Wie so oft bei Kafka, ist dieser Text vielschichtig zu lesen. Angesprochen wird der brutale Umgang mit Tieren durch den Menschen, die Menschwerdung als Gattungswesen, aber durchaus auch die Frage nach der Assimlierung der Juden. Erschienen ist die Erzählung erstmals 1917 in der von Martin Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude.

Ein Besuch im Bergwerk: 1920 veröffentlicht. Der Ich-Erzähler ist Bergarbeiter und berichtet vom Besuch von 10 Ingenieuren, die Ausmessungen vornehmen, um neue Stollen zu legen. Bewundernd wird über die Jugend der Ingenieure geschrieben, auch wenn es welche darunter gibt, die eigenbrötlerisch oder gar kindisch sind, und einer schiebt den Messwagen, was eigentlich die Aufgabe eines Dieners wäre. Ein solcher folgt den Ingenieuren und ist sehr hochmütig, was die Ingenieure nicht seien. Die Unterbrechung der Arbeit durch die Ingenieure führt dazu, dass an diesem Tag weniger als üblich gearbeitet wird. Der Text ist zwiespältig. Einerseits gibt es eine Bewunderung der Ingenieure, andererseits werden zum Teil skurrile Charaktere geschildert. Ob ihre Tätigkeit von Relevanz ist, bleibt offen.

Ein Brudermord: 1917 veröffentlicht. Der Ort ist eine dunkle Gasse in kalter Nacht. Schmar passt sein Opfer Wese mit einem Messer ab, als dieser von der Arbeit nach Hause geht. Wese wird mit drei Stichen ermordet. Ein Pallas schaut von seinem Fenster aus voyeuristisch zu, greift aber nicht ein. Nach dem Mord wirft sich die Frau des Opfers schützend über den Leichnam, Schmar lässt sich widerstandslos festnehmen. Das Verhältnis zwischen Täter und Opfer ist nicht eindeutig erschließbar. Wese wird „Freund, Bierbankgenosse“ genannt. Ein Motiv ist nicht erkennbar. Schreib- und Darstellungsweise wird in der Literaturwissenschaft mit Formen des Films verglichen (visuelle Elemente, Dramatisierung der Handlung, kurze Sätze wie Filmaufschriften), auch weil Kafka ein passionierter Kinogänger gewesen sein soll.

Ein Landarzt: 1917 geschrieben. In der Ich-Perspektive erzählt ein Landarzt, wie er zu einem schwerkranken Jungen 10 Meilen entfernt in einem Nachbarort gerufen wird, aber sein Pferd verendet ist. Auf der Suche nach einem Pferd findet sein Dienstmädchen Rosa zwei in einem vermeintlich leerstehenden Schweinestall. Der Pferdeknecht spannt sie an, fällt über Rosa her und verfolgt sie, die Tür zerbrechend, in das Haus des Landarztes. Dieser ist in Windeseile bei dem Kranken, hält ihn zunächst für gesund, legt sich aber nach einem Brauch nackt zu ihm, findet eine blutende Wunde an der Hüfte, aus der Würmer kriechen. Währenddessen versammelt sich die Dorfgemeinde vor dem Haus. Der Schulchor singt, dass der Arzt getötet wird, wenn er nicht heilen kann. Der Arzt erklärt dem Jungen, dass die Wunde heilbar ist, während die zwei Pferde durch das aufgestoßene Fenster ins Zimmer blicken. Danach schwingt sich der Arzt nackt auf die Kutsche, doch diesmal geht die Fahrt langsam. Der denkt an das Schicksal der jahrelang kaum beachteten Rosa. „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.“ Ob er wie der Kübelreiter oder der Jäger Gracchus auf Ewig reisen muss wie Ahasver, ist nicht ausgeführt. Sehr deutlich ist das Triebopfer Rosa ausgearbeitet. Der Pferdeknecht lebt seinen Sexualtrieb gewaltsam und ungehemmt aus, während der Landarzt triebgehemmt ist, nicht Herr über sein Leben.

Ein Traum: Veröffentlicht 1920. Josef K. träumt, an einem sonnigen Tag unter Jubel auf einem Friedhof spazieren zu gehen. Bei einem frischen Grabhügel stellen zwei Männer einen Grabhügel auf, ein Künstler mit einem Bleistift malt „Hier ruht …“, jedoch stockt er beim Namen und stapft mit dem Fuß auf. K. versteht und gleitet in das frische Grab. Der Künstler vollendet die Aufschrift, K. wacht auf. Die Interpretation in der Literaturwissenschaft ist breit gefächert: Es könnte ein Romanfragment aus dem Process sein, eine Annäherung an das Freitod-Tabu, damit K. dem Prozess ein Ende setzt. Auch wird Kafkas Schreibblockade als Thema angenommen. Die Schrift sei etwas Totes, das sich dem Lebendigen nur annähern kann.

Ein altes Blatt: Nomaden fallen nach Einladung des Kaisers ein und ein Schuster erzählt von der Angst dieser sprachlosen, wie Dohlen schreienden Invasoren und wie sie von den Gewerbetreibenden, vor allem vom Fleischer versorgt werden, damit sie einen in Ruhe lassen. Doch werde der Kaiser, der die Szenen vom Fenster aus beobachtet, die Händler und Gewerbetreibenden beauftragen, die Nomaden zu vertreiben, auch wenn sie dafür gar nicht geeignet seien. Ein ziemlich beeindruckender Text über die Hilflosigkeit normaler Menschen gegenüber den nicht nachzuvollziehenden Entscheidungen von Herrschenden bzw. der rohen, tierischen Gewalt.
»Wie wird es werden?« fragen wir uns alle.
»Wie lange werden wir diese Last und Qual ertragen? Der kaiserliche Palast hat die Nomaden angelockt, versteht es aber nicht, sie wieder zu vertreiben. Das Tor bleibt verschlossen; die Wache, früher immer festlich ein- und ausmarschierend, hält sich hinter vergitterten Fenstern. Uns Handwerkern und Geschäftsleuten ist die Rettung des Vaterlandes anvertraut; wir sind aber einer solchen Aufgabe nicht gewachsen; haben uns doch auch nie gerühmt, dessen fähig zu sein. Ein Mißverständnis ist es; und wir gehen daran zugrunde.«
Eine kaiserliche Botschaft: Eine Parabel in zwei Teilen, einem irrealen und einem realen wie in Auf der Galerie. Einem „jämmerlichen Untertanen“ lässt der Kaiser durch einen Boten eine Botschaft übermitteln, die nur für ihn bestimmt ist. Doch in Wirklichkeit (großteils im Konjunktiv) findet der Bote nicht mal den labyrinthischen Weg aus dem Palast und kommt nie mit der Botschaft eines Toten beim Empfänger an. Wie oft ist auch hier die Entfremdung einer Autorität vom Beherrschten, der sich Kontakt wünscht, zum Thema. Es können politische Autoritäten sein wie der kurz vor Abfassung dieses Textes verstorbene Kaiser Franz Joseph oder es kann Kafkas Vater sein. Aber eines ist sicher: Es ist eine Parabel, die auf jedes hierarchische, autoritäre System zutrifft. Der Untergebene wartet auf Zuwendung, der Autorität ist dieser egal, sie hat sich verbarrikadiert.

Elf Söhne: In dieser Erzählung beschreibt und charakterisiert ein Vater seine Elf Söhne und lässt an keinem ein gutes Haar, selbst an dem nicht, dem er als einzigen wünscht, dass er Kinder haben sollte. Der elfte Sohn, den er gar nicht mag, spricht ihn an, dass er der Letzte (der Familie?) sein wird. Die Sprache ist distanziert, beschreibend, charakterisierend und wirkt wie die eines Gutachters. Auch hier ist die Interpretationsbandbreite sehr weit. Sie geht bis dahin, dass von Kafka überliefert ist, dass er elf Charaktere aus elf Geschichten darstelle. Das Vater- und Autoritätsthema ist wieder sehr vordringlich anwesend.

Fürsprecher: 1922 geschrieben. Der Ich-Erzähler befindet sich in einem ihm unbekannten Gebäude, auf dem er auf der Suche nach Fürsprechern ist, die nicht nur vor Gericht, sondern in der ganzen Gesellschaft notwendig sind. Doch in dem Gebäude sieht er nur „alte dicke Frauen“, die als Fürsprecher nicht geeignet sind. So geht er weiter die Treppen hinauf ins Unbekannte. Wieder ein einsames, auf sich allein gestelltes Ich in einer nicht durchschaubaren Gesellschaft. Ein sehr weit interpretierbares Kafka-Motiv. Beachtenswert die Beobachtung über die Kürze und Nicht-Vergeudbarkeit der Lebenszeit.
Die dir zugemessene Zeit ist so kurz, daß du, wenn du eine Sekunde verlierst, schon dein ganzes Leben verloren hast, denn es ist nicht länger, es ist immer nur so lang, wie die Zeit, die du verlierst.
Nachts: Kafka geht in dieser Prosaskizze an die Ränder der Zivilisation. Während der Erzähler nachts über die ringsum in ihren Betten schlafenden Menschen nachdenkt, kommt er zu dem Schluss, dass dies nur eine „unschuldige Selbsttäuschung“ sei. In Wirklichkeit sei es „wie damals einmal und wie später“ein Lager im Freien“ in einer „wüsten Gegend“ mit einer „unübersehbaren Zahl Menschen“. Der Erzähler selbst ist „einer der Wächter“, denn „einer muss wachen, heißt es. Einer muß da sein.“ Ob Kafka das Judentum reflektiert (wie in Interpretationen geschrieben) oder die Menschheit? Wie bei vielen Texten Kafkas: Der Bedeutungsspielraum ist groß.

Schakale und Araber: Deutlicher als hier (aus 1917) hat sich Kafka kaum mit dem Judentum auseinandergesetzt. Ein Europäer ist mit einer Karawane in der Wüste unterwegs und wird in eines Nachts von Schakalen angesprochen. Dieser solle den Streit zwischen Arabern und Schakalen beenden, sie von den Arabern befreien, damit sie ungestört ihre Reinigung durch Aasfressen durchführen können. Einer der Schakale will dem Europäer eine rostige Schere überreichen, als einer der Araber kommt, den Schakalen noch ein verendetes Kamel zum Fressen gegeben und danach diese mit einer Peitsche vertreibt. Schlusssatz des Arabers: „Wunderbare Tiere, nicht wahr? Und wie sie uns hassen!“ Die Symbolik ist eindeutig und dem antijüdischen Sprach- und Wahrnehmungsraum entnommen: Die Juden sind parasitäre Tiere, die sich von Aas ernähren, das vom höheren Volk der Araber ihn vorgeworfen wird. Sie warten auf einen Messias (einen „Europäer“), der als Herrschaftszeichen und Waffe eine rostige Nähschere erhalten soll. Kafka zeigt Bruchlinien und Denkweisen, die bis zum heutigen Tag ihre Gültigkeit haben. Ob Kafka einen Standpunkt einnimmt und was er offenbar kritisiert, ist nicht zu erkennen.

Hinweis: Am 4. April 1920 riefen Muslime in Jerusalem: „Palästina ist unser Land, die Juden sind unsere Hunde!“ (Mallmann)

Von den Gleichnissen: Ein sehr kurzer Text aus 1922, in dem Kafka vermutlich sein eigenes Werk reflektiert. Gleichnisse - im Gegensatz zu Gesetzen - haben in einer anderen Welt, in einem „Hinüber“ ihre Gültigkeit und sagen, „daß das Unfaßbare unfaßbar ist“. Laut Worten von Weisen seien sie „unverwendbar im täglichen Leben“. In einem kurzen Disput zwischen zwei Weisen ist die Quintessenz, es könne in der Wirklichkeit gewonnen werden, im Gleichnis jedoch habe man verloren.

Vor dem Gesetz: In dieser Parabel aus 1915 verlangt ein Mann vom Lande Zugang zum Gesetz, doch ein Türhüter blockiert diesen. Der Mann wartet Jahre lang, bis er schließlich vor seinem Tod fragt, warum sonst niemand den Zugang erbeten habe. Die Antwort des Türhüters: Dieser Zugang sei nur für ihn. Was für eine Parabel auf einen Rechtsstaat, der zwar jedem Recht geben kann, aber bei dessen Zugang praktisch unüberwindliche Hürden zu überwinden sind. Bis heute hat dieser Text seine bestechende Gültigkeit.

Kleine Fabel: Dies ist die berühmte kurze Geschichte aus 1920, in der die Welt einer Maus durch Mauern immer enger wird und von der Katze, die sie zur Laufrichtungsänderung auffordert, aufgefressen wird. Auch hier ist der Interpretationsspielraum sehr, sehr weit und es wird eine sehr pessimistische Weltschau vermittelt.

Die Wahrheit über Sancho Pansa: Ein kurzer Prosatext über den Wert des Lesens? Sancho Pansa bannt seinen Teufel durch das Lesen von Ritter- und Räuberromanen und lässt ihn „verrückteste Taten“ aufführn, die niemandem schaden. Gleichzeitig hat er eine „große und nützliche Unterhaltung“ dabei.

Eine alltägliche Verwirrung: Zwei Personen aus benachbarten Orten schaffen es nicht, ein gemeinsames Geschäft abzuschließen. A will zu B, B geht zu A. Der Weg, den A zu B zurücklegt ist einmal zehn Minuten, das nächste Mal zehn Stunden. Beide sind gefangen in einer surrealen Welt. Woran sie wirklich scheitern, bleibt in dieser kurzen Erzählung aus 1917 komplett offen. Psychologisches ist nicht mehr zu finden.

Eine kleine Frau: Dies ist ein ziemlich misogyner Text, den Kafka 1923 in Berlin verfasst hat. Eine Frau fühlt sich vom Erzähler belästigt, obwohl sie gar keine Beziehung oder engeren Kontakt haben. Den Vorschlag, sich aus seinem Umfeld zu entfernen, lehnt sie ab. Den Erzähler stört dieses Verhalten der Frau dermaßen, dass er sie am liebsten „unter seinem Stiefel zertreten“ möchte. Alles von ihm hätte wirklich nicht veröffentlicht werden müssen.

Erstes Leid: Diese kurze Erzählung handelt von einem Trapezkünstler, der zur Vervollkommnung seiner Kunst sein Leben auf dem Trapez verbringt, wo er auch versorgt wird. Damit ist er komplett von der Gesellschaft getrennt. Die Reisen sind für ihn eine Qual, im Zug verbringt er sie im Gepäcksnetz. Bei einer solchen Reise wünscht er sich mit viel Emotion vom Impresario ein zweites Trapez, was ihm auch zugesagt wird. Doch zeigen sich erste Falten im Gesicht des Artisten. Er beginnt zu altern. Diese Erzählung ist nicht nur individuell interpretiert worden, sondern auch in Bezug auf das europäische Judentum. Der Artist sei der assimilierte Westjude, der den Kontakt zum bodenständigen Judentum verloren habe (Peter-André Alt).

Heimkehr: In diesem kurzen, parabelhaften Text kehrt der Erzähler nach langer Zeit nach Hause zurück, verharrt aber vor der Eingangstür und wagt nicht zu klopfen. Eltern (Landwirte) und Sohn sind sich zu Fremden geworden und werden immer mehr zu Fremden, je länger vor der Tür gezögert wird. Kernthema: Entfremdung.

Prometheus: In diesem sehr kurzen Text aus 1918 bietet Kafka vier alternative Versionen des Endes der Prometheussage an, die trotzdem „im Unerklärlichen enden“ müsse. Eine der Auseinandersetzungen Kafkas mit alten Mythen oder Stoffen.

Rede über die jiddische Sprache: 1912 hielt Kafka eine Rede über das Jiddische, das er „Jargon“ nennt. Dies sei einer Sprache, deren Wortschatz sich aus vielen Sprachen zusammensetze, somit als Weltsprache geeignet wäre, und deren Grammatik noch nicht kodifiziert sei, sondern durch ihre „Eile und Lebhaftigkeit“ nicht zur Ruhe komme, womit sich das Gedicht als beste Ausrucksform dieses Jargons eigne.

Vom Scheintod: Dies ist ein kurzes Fragment. Den Scheintod setzt Kafka nicht mit dem Tod gleich. Scheintote erfahren keinen Tod und können daher über diesen nichts aussagen. Gleichgesetzt wird dies mit Moses, als er vom Berg zu seinem Volk zurückkam. Auch er kann nichts über die letzten Dinge, über das Göttliche aussagen. Er war nicht dort. Aber nicht mal die Scheintoderfahrung möchte der Mensch durchleben, in einem Sarg aufwachen. Heißt das, der Mensch möchte dem Göttlichen nicht nahekommen? „aber nicht einmal in Gedanken wollten wir lebend und im Sarge ohne jede Möglichkeit der Wiederkehr oder auf dem Berge Sinai bleiben…“