Franz Kafka - BetrachtungDiese Sammlung von 18 kurzen Prosatexten ist 1913 vom Rowohlt-Verlag veröffentlicht worden und gründete Kafkas Ruf als außergewöhnlicher Schriftsteller.
Kinder auf der Landstraße: Aus der Sicht eines Jungen unbestimmten Alters geschrieben, der in einem Dorf aufwächst und aus diesem ausbrechen will. Bereits zu Beginn schildert er seine Eindrücke, welche die Außenwelt ihm in seinem Zimmer bietet. Als er mit einer Gruppe von Dorfkindern im Wald spielt, hört er einen Eisenbahnzug, sieht dessen beleuchteten Fenster und kehrt nicht wie die anderen ins Dorf zurück, sondern wendet sich Richtung Stadt, in der laut Dorfbewohner die Narren leben, die nie schlafen.
Entlarvung eines Bauernfängers: Der Ich-Erzähler ist auf dem Weg zu einer Abendgesellschaft, zu der er eingeladen ist. Auf dem Weg dorthin hängt sich ein flüchtiger Bekannter an, der ihn zwei Stunden bis zum Hauseingang verfolgt und sich erst am Ende abschütteln lässt (späteren Figuren bei Kafka gelingt es kaum noch mehr, eigene Ziele und Wünsche durchzusetzen). Am Ende kommt der Ich-Erzähler zur Erkenntnis, dass es sich um einen Bauernfänger, also einer Person, die in Gasthäusern Männer zu einer Prostituierten verführen will. Der Ich-Erzähler merkt an, dass diese Typen seine ersten Bekannten gewesen seien und jetzt von ihnen lerne, unnachgiebig zu sein.
Der plötzliche Spaziergang: Ein kurzer Text, der nach neun Konditionalsätzen mit „Wenn“ schließlich zu einem „Dann“ führt, welches mit einem zehnten „Wenn“ verstärkt wird. Der Modus ist der Indikativ. Worum geht es also? Der Erzähler bereitet sich im Kreise der Familie während eines Schlechtwetterabends auf das Zu-Bettgehen vor, zieht sich jedoch nochmal straßenmäßig an und verlässt das Haus, fühlt sich entschlussfähig und fühlt sich während des Entlanggehens in langen Gassen aus der Familie „ausgetreten“. Verstärkt wird dies, wenn man zu einem Freund geht. Familie versus Freundeskreis, Entschlussfähigkeit versus Zögerlichkeit. Klassisch Kafka. Ob es so geschieht oder nicht, weiß man trotz des Indikativs nicht. Diese Form hat Kafka mit dem Text Auf der Galerie zur Perfektion geführt.
Entschlüsse: Auch in diesem sehr kurzen Text geht es wieder um Lebensänderung, die sich diesemal jedoch nicht mehr umsetzen lässte. Aus dem „elenden Zustand“ genüge eine Muskelanspannung des sich Erhebens aus dem Sessel, die Begrüßung von Freunden sei die Befreiung. Jedoch besteht eine Angst vor Fehlern, daher sei der beste Rat, „alles hinzunehmen“, das als Gespenst übrige Leben mit der Hand niederzudrücken und eine „grabmäßige Ruhe“ zu „vermehren“. Wieder das bekannte Kafka-Thema des Eingesperrtseins in die Verhältnisse und den Ausbruch, der nur ein kleiner Schritt wäre, nicht zu wagen.
Das Unglück des Junggesellen: Ein ganz kurzer, reflektierender Text über einen Junggesellen im Alter, der allein ist, dessen Wohnungstüren nur zu anderen Familien öffenen, der nur fremde Kinder anstaunen kann. Am Ende schlägt er sich an die Stirne, symbolisch ein weggeworfenes Leben beklagend. Vermutlich eine Alterseinsamkeit, welche Kafka für sich selbst befürchtet. Etwas Positives ist im Text nicht formuliert.
Der Kaufmann: Auch hier ist das Thema der männlichen Vereinsamung im Zentrum. Wir begleiten einen Kaufmann, dessen Denken und Sorgen sich nur um sein kleines Geschäft dreht und um die Angst, dass sein Geld, das sich in fremden Händen befindet, von den Schuldnern verprasst oder in die USA gebracht wird. Der Kaufmann befindet sich auf seinem kurzen Heimweg, möchte eigentlich einen längeren Spaziergang machen und im Haus die Treppen hochsteigen, nimmt aber den Lift (wieder die Entscheidungsunfähigkeit), in dem er vor dem Spiegel ein Selbstgespräch an eine nicht näher bestimmte Gruppe (2. Person Plural) über das Wegfliegen nach Paris oder in eine ländliche Idylle mit einem Bach bzw. einem Panzerschiff mit tausend Matrosen. Er sinniert über einen Raubüberfall an einem „unscheinbaren Mann“, den zwei berittene Polizisten nicht interessiert, und der danach „traurig“ seines Weges geht. Bei seiner Wohnungstür öffnet dem Kaufmann ein Mädchen die Tür, er verschwindet in seiner unbekannten häuslichen Welt. Wer ist dieser Kaufmann? Es könnte der väterliche Betrieb sein, der Mann eine Mischung aus seinem Vater (Kaufmann) und sich selbst (Entscheidungsunfähigkeit).
Zerstreutes Hinausschauen: Ein ganz kurzer und rätselhafter Text. Ein Wir-Erzähler schaut an einem schönen Frühlingsabend aus dem Fenster und sieht ein Mädchen, dessen Wange durch den Schatten eines es überholenden Mannes verdunkelt wird und danach wieder hell erstrahlt. Der Erzähler lehnt seine Wange an die Fensterklinke. Erotisch mit vollgepfropfter Symbolik? Frühlingsgefühle? Gefahr der Entehrung durch Männer? Helligkeit als Reinheit und Unschuld? Dann wäre es ein klischeehafter Text.
Der Nachhauseweg: Eine sehr frühe Skizze aus den Nullerjahren des 20. Jahrhunderts. Der Ich-Erzähler ist auf dem Nachhauseweg hochgestimmt, rühmt sich seiner Verdienste, seines lauten Polterns in Gasthäuser und denkt an Liebespaare in ihren Betten und an Sex in Bordellen. Vergangenheit und Zukunft scheinen ihm „vortrefflich“, die Gegenwart überstrahlt beide noch. Nur als er in sein Zimmer tritt, wird er „nachdenklich“, da hilft auch keine Musik, die von außen durchs offene Fenster dringt. Grandiose Außenwelt gegen bedrückende Innenwelt. Ein Kafka-Thema. Ob der Ich-Erzähler eine Mischung aus Vater und Kafka selbst ist?
Die Vorüberlaufenden: Die Leserschaft mit einem Wir einbeziehend, überlegt der Erzähler, von einem weinseligen Abend nach Hause kehrend, ob er dem von einen zweiten Mann verfolgten, ihm in einer Gasse entgegen laufenden Mann, stoppen soll. Er lehnt ab, da die Sachlage nicht gewusst werden kann. Es kann sich um einen fliehenden Täter handeln, er könnte jedoch auch einem Mörder versuchen zu entkommen und wir könnten uns der Mittäterschaft schuldig machen. Der kurze, 1907 entstandene Text, greift eine sehr aktuelle ethische Fragestellung auf, die der Rechtmäßigkeit von Zivilcourage, und relativiert sie aus der Perspektive verschiedener Möglichkeiten.
Der Fahrgast: Der Ich-Erzähler steht auf einer Straßenbahn-Plattform und denkt über seine Unsicherheit in der Welt nach. Ein aussteigendes Mädchen beobachtet er detailgenau und wundert sich über ihr Schweigen. Sich aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen zu fühlen, ist ein klassisches Kafka-Thema. Hier kommt ein beinahe aufdringlicher Voyeurismus hinzu, besonders in der Beschreibung der Ohrform der jungen Frau. Ob das nicht unbedingt logische Erwarten, dass das Mädchen etwas sagt, ein Fehlen an Kenntnis sozialer Regeln spiegeln soll, wie es bei Einzelgängern durchaus vorkommen kann?
Kleider: Auch in diesem kurzen Text bricht der Voyeur Kafka mit seinen problematischen Frauenbeziehungen durch. Alternde Kleider werden gleichgesetzt mit dem Altern von jungen, hübschen Mädchen, die wieder im Detail beschrieben werden. Neu ist das Vanitas-Motiv: Es bleibt nichts, wie es ist, und das Alter ist gnadenlos.
Die Abweisung: Wohl einer der frühesten Texte Kafkas mit einem sehr toxischen Blick auf Frauen. Der Ich-Erzähler spricht auf der Straße ein Mädchen an mitzugehen, doch es geht stumm an ihm vorbei. Warum? Der Erzähler meint, er sei kein Herzog, habe kein athlethisches Aussehen, sei nicht weit gereist. Warum soll es mitgehen? Doch auch die Frau werde nicht von einem Auto kutschiert, ihre Brüste würden nur der Mieder formen, „Schenkel und Hüften“ werden abschätzig beschrieben und das Kleid sei aus der Mode. Deshalb sei es in Ordnung, dass sie alleine nach Hause gehen.
Zum Nachdenken für Herrenreiter: Anhand eines Siegers bei einem Pferderennen extrapoliert Kafka die Folgen, Sieger zu sein: Neid, Verlust von Freunden, Gefühl der Ungerechtigkeit bei Gerechten. Sieger blähten sich auf, müssen Hände schütteln, Salutieren, in die Ferne grüßen. Das Gockelhafte schreckt Damen ab. Am Ende steht die Einsamkeit des Siegers, der Himmel wird trüb, es regnet.
Das Gassenfenster: Zwei Sätze über einen Einsamen am Gassenfenster. Der erste im Konjunktiv, der zweite im Indikativ. Der Konjunktiv: Es könnte ein Arm vorbeigehen, an den man sich anhalten kann. Der Indikativ: Den Müden reißen Pferde in den Lärm und die „menschliche Eintracht“. Aber wohl nur in Gedanken. Pferde als Symbol von sexualisierter Unbändigkeit?
Wunsch, Indianer zu werden: Nur ein Satz im Konjunktiv. Als Indianer auf einem Pferd ohne Sporen, ohne Zügel, ohne Hals und ohne Kopf. Also ein wilder Ritt auf einem Pferdetorso. Sexuelle Zügellosigkeit und Haltlosigkeit?
Die Bäume: Das Wir (die Menschen) wird mit gefällten Baumstämmen im Schnee verglichen. Also leblos. Scheinbar sind sie leichte Opfer, um mit einem Fußtritt ins Rollen gebracht zu werden, jedoch ist das ein Trug. Sie sind fest mit dem Boden verbunden. Jedoch auch dies ist nur scheinbar. Was real erscheint, wird radikal in Zweifel gezogen. Die Wurzeln des Menschen (Kultur, Religion, Familie usw.) sind nicht das, was sie scheinen, sie bieten Halt, aber auch doch nicht. Denn dieser kann schmelzen wie der Schnee. Und dann können die Baumstämme (die Individuen) aus ihrem Verband (Gesellschaft, Freunde) wegrollen und vereinzeln.
Unglücklichsein: Diese Erzählung aus 1912 ist die längste. Es wird wieder das Thema des allein lebenden Junggesellen aufgegriffen, der in seinem Zimmer ist und von draußen den Lärm der Pferde hört. Es ist November und „unerträglich“. Die Tür öffnet sich und ein kindliches Gespenst erscheint, offenbar jedoch bereits alt genug, um eine sexuelle Beziehung zu haben. „Wenn Sie ein Mädchen wären, dürften Sie sich nicht so einfach mit mir in einem Zimmer einsperren.“ Das Gespräch verläuft eigentümlich, eine große Distanz vermittelnd, bis der Junggeselle die Wohnung verlässt und mit einem Mieter derselben Etage, der ihn als „Lump“ beschimpft, da er wieder ausgeht, ein Gespräch über Gespenster beginnt und betont, er glaube gar nicht an Gespenster: „Ja meinen Sie denn, ich glaube an Gespenster? Was hilft mir aber dieses Nichtglauben?“ Der Nachbar scheint sich lustig zu machen und betont, weibliche Gespenster könne man sogar „auffüttern“, worauf der Junggeselle keinen Spaziergang beginnt, sondern zurück in seine Wohnung und schlafen geht. Die Frage,die bleibt: Wer ist das Gespenst? Vermutlich tiefenpsychologisch nicht eindeutig zu beantworten.
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