Ayaan Hirsi Ali - Ich klage anHirsi Ali ist Somalierin, die aus einer oppositionellen Richter- und Politikerfamilie stammt, welche selbst aus politischen Gründen aus Somalia flüchten musste, da sich der Vater für ein demokratisches und republikanisches Somalia einsetzte.
Andererseits waren die Familienmitglieder strenggläubige Muslime, Hirsi Ali wurde klitorisbeschnitten, wurde von ihrem Koranlehrer, als sie den Unterricht verweigerte, mit dem Kopf gegen eine Wand geschleudert, dass sie einen Schädelbasisbruch davontrug, und sie wurde mit einem in Kanada lebenden Cousin zwangsverheiratet.
Auf dem Flug zu ihrem Ehemann nach Kanada floh sie 1992 während eines Zwischenaufenthalts in Deutschland aus dem Flugzeug und suchte schließlich in den Niederlanden um Asyl an.
In den Niederlanden war sie bis 2001 als Dolmetscherin vor allem für Frauen tätig und wandte sich immer mehr von ihrem muslimischen Glauben ab, schloss sich zunächst den Sozialdemokraten an, um schließlich für die konservative Partei VVD als Abgeordnete im Parlament vertreten zu sein. Gleichzeitig studierte sie Politikwissenschaften.
Als Proponentin von Frauenrechten begann sie ihren ersten Film "Submission" über die Unterdrückung von Frauen in islamischen Familien zu drehen, wobei sie von Theo van Gogh unterstützt wurde. Van Gogh wurde ermordet, im Bekennerschreiben ist eine Morddrohung an Hirsi Ali gerichtet.
Dies ist ihr erstes Buch, welches aus einer Sammlung von Essays und Interviews besteht. Der zweite Teil richtet sich an Frauen aus islamischen Familien, wie sie sich als freie Menschen in die niederländische Gesellschaft eingliedern können (mit vielen Informationen aus ihrer Zeit als Übersetzerin), bzw. setzt sie sich dafür ein, dass die Praxis der Frauenbeschneidung als Schwerverbrechen auch juristisch verfolgt wird.
Der erste Teil ist eine theoretische Abhandlung über das Verhältnis zwischen Islam und Individuum bzw. wie Muslime in eine westliche Gesellschaft wie die niederländische eingegliedert werden können, damit die Freiheit der Person sich entfalten kann.
Grundsätzlich sieht sie das Leben von Muslimen in islamischen Gesellschaften von drei Voraussetzungen geprägt:
1. Einer Angst vor einem allmächtigen Gott, Allah
2. Einem Moralkodex einer arabischen Stammesgesellschaft aus dem 7. Jahrhundert
3. Einer bedingungslosen Unterordnung der Frau unter den Mann
Ihr Ziel ist, alle drei Voraussetzungen zu brechen, um Muslimen das Leben von selbstbestimmten Individuen zu ermöglichen. Ansatzpunkt ist, dass innerhalb der muslimischen Gesellschaft eine Aufklärung stattzufinden hat, wie sie in der christlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts vollzogen wurde.
Allah muss gezähmt werden, wie der jüdische und der christliche Gott gezähmt wurde. In der Bibel (Altes und Neues Testament) finden sich Vorschriften für gewaltsame Gesellschaften wie im Koran, nur spielen sie für Christen und Juden keine autoritative Rolle mehr - mit Ausnahme vielleicht einer fundamentalistischen Minderheit.
Im Islam jedoch sind solche Vorstellungen von der Mehrheit der Imame bzw. der Gelehrten propagiert und von Muslimen mehrheitlich akzeptiert. Dies müsse durch eine Aufklärung gebrochen werden: die positiven Aspekte des Islam sollen erhalten bleiben (Nächstenliebe, Gastfreundschaft als Beispiel) und mit einer Philosophie der Individualrechte verbunden werden.
In westlichen Gesellschaften wie der Niederländischen sieht sie vier Ansatzpunkte, wie das Verhältnis zu Mitgliedern anderer Kulturen geregelt werden soll, und diese bewertet sie auch.
1. Der politisch-juristische Ansatz:
Dieser sieht vor, alle Menschen auf Basis der Gesetze gleichzustellen, aber mehr sei nicht nötig. Hirsi Alis Kritikpunkt ist, dass dies zu wenig ist, da der gesetzliche Rahmen für Einzelpersonen nicht erfahrbar ist, wenn sie weiterhin in ihren abgeschlossenen Gemeinschaften leben.
2. Der soziale Ansatz:
Dieser geht davon aus, dass eine materielle Mindestabsicherung allein dazu führt, die Nöte dieser Menschen zu lindern. Hirsi Ali betont die Kehrseite, dass dadurch der Wille, an der Gesellschaft zu partizipieren, sinkt. Für Frauen im Besonderen werde dadurch ihre Abgesondertheit im Familien- wie Sippenzusammenhang verstärkt, da keine Notwendigkeit besteht, am Berufsleben teilzuhaben.
3. Der multikulturelle Ansatz:
Dieser geht von der Gleichwertigkeit unterschiedlicher Kulturen aus, welche zu respektieren sei. Hirsi Ali kritisiert, dass damit auch Kulturaspekte wie Männerdominanz, Frauenisolation, aber auch Frauenbeschneidung stillschweigend akzeptiert wird. Dieser Kulturrelativismus habe sie schließlich aus der sozialdemokratischen Partei getrieben, da sie für ihre Initiative gegen Frauenbeschneidung auch auf Widerstand gestoßen ist.
4. Der integrative Ansatz:
Integration sieht vor, den einzelnen Menschen mit Hilfe staatlicher Unterstützung in die westliche (niederländische) Gesellschaft zu integrieren, und steht somit im Gegensatz zum multikulturellen Ansatz, der Gesellschaften bzw. Kulturen als Ganzes integrieren möchte. Dieser integrative Ansatz, der sich auf die Person konzentriert, entspricht Hirsi Alis Überzeugung, dass es eine Befreiung des muslimischen Menschen geben muss.
Interessant sind auch ihre Ausführungen, wie sich eine Gesellschaft zu einer männerdominierten Zwangsgesellschaft entwickeln konnte und wie Verhaltensweisen verstärkt werden.
Die in der arabischen Stammesgesellschaft (vor den Islam zurückreichend) war strukturell in drei Ebenen gegliedert: Familie - Sippe - Stamm. Das Erbrecht war patriarchalisch und nur über männliche Nachkommen blieb Eigentum und damit Einfluss und Ansehen in der Familie bzw. Sippe.
Die Folge: nur männliche Nachkommen waren erwünscht, weibliche Nachkommen sollen so früh wie möglich verheiratet werden und den Familienhaushalt verlassen. Die oft zugeteilten Ehemänner wollten nur "frische Ware", die Jungfräulichkeit der Mädchen wurde zur Ehrensache und schließlich zum Kult. Und um möglichst viele männliche Nachkommen zeugen zu können, ist Vielweiberei akzeptiert.
Diese Konstellation (Familie, Sippe) brachte eine logische Schlussfolgerung mit sich: Familie und Sippe hatte ein Interesse daran, dass Erbgut nicht an eine andere Sippe transferiert wird. Wie?
Die Verheiratung von Mädchen innerhalb der Sippe bzw. innerhalb der Familie (Verehelichung zwischen Cousin und Cousine) hatte materielle Vorteile wie auch Rückwirkung auf Macht und Einfluss der Familie wie Sippe. Sie wurde Usus wie ein akzeptiertes Faktum und wird auch in heutigen muslimischen Gesellschaften weiterhin gepflegt.
Abschottung von Familie und Sippe sowie die männliche Dominanz und der immer rigider werdende Ehrbegriff (wird ein Mitglied einer Sippe in seiner Ehre verletzt, werden Verwandte bis ins zehnte Glied mit in ihrer Ehre verletzt) hatte auch Auswirkungen auf männliche Verhaltensweisen:
- nach außen wird ein aggressives Verhalten zur Schau gestellt (Unverletzlichkeit der Ehre)
- je höher in der Sippenhierarchie, desto unehrenhafter ist Arbeit (erinnert mich an den Adels-Kodex)
- aufgrund der akzeptierten Vielehen sind Frauen Jagdvieh
- innerhalb der Ehe ist die Frau willenloses Spielgerät, das auch zerstört werden darf
Hirsi Ali sieht in diesen sich verhärteten Strukturen auch die Ursache, warum islamische Gesellschaften nach einigen Jahrhunderten Expansionsphase schließlich stagnierten, da eine soziale Durchlässigkeit im Sippensystem nicht gegeben ist, Bildung keinen sozialen Vorteil hat. Verstärkt werde dies noch durch die Überzeugung, dass Allah allwissend sei und im Koran wie Hadith die Lösungen aller irdischen Probleme zu finden seien.
Insgesamt ein spannend zu lesendes Buch mit sehr hohem Informationsgehalt, auch in der Übersetzung sprachlich hervorragend umgesetzt. Auch der erste, gesellschaftstheoretische Teil hatte für mich fast einen Suchtfaktor: ich habe in jeder freien Minute weitergelesen.