Der Killer, den die Wiener Schickeria liebte
Vor 20 Jahren wurde Jack Unterweger wegen Mordes an neun Frauen verurteilt und erhängte sich in seiner Zelle. Sein Fall ist bis heute einzigartig in der österreichischen Kriminalgeschichte.
27.06.2014 | 10:46 | Maria Kronbichler (DiePresse.com)
„Sein bester Mord", kommentierte ÖVP-Justizsprecher Michael Graff zynisch, als er vom Tod Jack Unterwegers erfuhr. Der 43-Jährige war in der Nacht auf den 29. Juni 1994, wenige Stunden nach seiner Verurteilung zu lebenslanger Haft, erhängt in seiner Zelle gefunden worden. Es war der Schlusspunkt eines Falls, der sich von Österreich bis in die USA spannte und gleich in mehrfacher Hinsicht Kriminalgeschichte schrieb.
20. Jahrestag: Jack Unterwegers rätselhaftes Ende
Die Strafakte Jack Unterweger beginnt mit Diebstählen und Zuhälterei. Mitte der 1970er-Jahre attackiert er mehrere Frauen, vergewaltigt eine von ihnen. Am 12. Dezember 1974 raubt er mit einer Freundin in Deutschland deren Nachbarin Margret Schäfer aus. Anschließend fährt er mit dem Opfer in einen Waldweg, lässt sie sich nackt ausziehen und aussteigen. Dann schlägt Unterweger mehrmals mit einer Stahlrute auf Schäfer ein und erdrosselt sie schließlich mit ihrem BH. Im Juni 1976 verurteilt ihn das Landesgericht Salzburg dafür zu einer lebenslangen Haftstrafe.
Unterwegers "Fegefeuer"
In der berühmt-berüchtigten Haftanstalt Krems-Stein bildet sich Unterweger weiter und entdeckt sein Talent zum Schreiben. Das ORF-Radio sendet 50 seiner Kindergeschichten im Gute-Nacht-Programm „Das Traummännlein kommt". Besonderes Interesse erregt sein autobiografischer Roman „Fegefeuer". Darin gibt er sich geläutert und erklärt seine kriminelle Vergangenheit mit einer schweren Kindheit. Unterweger wurde 1950 in Judenburg als Kind einer Österreicherin und eines US-Soldaten, den er nie kennen lernte, geboren. Als er zwei Jahre alt war, kam die Mutter ins Gefängnis, er selbst zu einem angeblich saufenden Großvater.
Prominente Intellektuelle sind fasziniert von dem „Häf'n-Poeten". Sie starten eine Kampagne für seine Begnadigung Unterwegers. „Wir handelten hauptsächlich nach dem Grundsatz: Gibt's was zu unterschreiben für eine gute Sache, dann unterschreibst halt. Edel sei der Promi, hilfreich und gut. (...) Das Dunkle an so einem Typen, das macht die Intellektuellen an", wird der Journalist Günter Nenning, damals unter den Unterstützern, Jahre später selbstkritisch schreiben.
Im Justizministerium stößt die Kamapagne auf offene Ohren. SP-Minister Christian Broda träumt zu dieser Zeit von einer gefängnislosen Gesellschaft. Unterweger wird in der Öffentlichkeit zum „Paradefall des erfolgreich resozialisierten Verbrechers" hochstilisiert.
673 Tage in Freiheit
Am 23. Mai 1990 entscheidet das Gericht über einen Antrag auf bedingte Entlassung. Eine junge Psychologin gibt eine knappe positive Stellungnahme ab. Eigentlich habe sie kaum Zeit für die Beurteilung gehabt und außerdem habe der Anstaltsleiter sie gebeten, möglichst nichts Negatives zu schreiben, wird sie vier Jahre später erklären. Unterweger kommt frei, eine Therapie muss er nicht machen.
"In den ersten Monaten in Freiheit war Jack der Liebling der Wiener Schickeria", wie der Journalist John Leake in seinem Unterweger-Buch "Der Mann aus dem Fegefeuer" schreibt. Der 39-Jährige verkehrt in Künstlerkreisen und den schicksten Klubs Wiens, stets umgeben von schönen Frauen. Dem 1,70 Meter kleinen Mann mit dem bubenhaften Gesicht wird eine ungeheure Ausstrahlungskraft attestiert. Er veröffentlicht weitere Werke, kassiert öffentliche Förderungen. Im „Club 2" diskutiert Unterweger, in weiße Seide gehüllt, über Resozialisierung.
Am 5. Juni 1991 sendet „Ö1" im „Journal Panorama" den Beitrag „Die Angst im Rotlichtmilieu", gestaltet von Jack Unterweger. Es geht um das Verschwinden von vier Wiener Prostituierten im April und Mai. Zwei der Frauen wurden erdrosselt im Wienerwald gefunden. Die Polizei tappt im Dunklen. „Muss es für einen Beamten nicht frustrierend sein, wenn man sozusagen gegen diese tote Wand rennt?", fragt Unterweger in einem Interview für seinen Radio-Beitrag den Leiter des Sicherheitsbüros, Max Edelbacher.
Zu den Prostituierten-Morden gehen Hinweise auf 130 mögliche Verdächtige bei der Polizei ein. Einer davon stammt von einem pensionierten Salzburger Polizisten: Der ist überzeugt, dass Unterweger im April 1973 eine 23-Jährige in Salzburg ermordet hat. Er sei aber nie angeklagt worden, da er danach wegen des Mordes in Deutschland "ohnehin lebenslänglich" bekommen habe.
Edelbacher (der erst nach dem Interview erfahren hat, wem er da eigentlich gegenüber saß) lässt Unterweger erneut in sein Büro kommen. Diesmal stellt er die Fragen: Ob Unterweger ein Alibi für die Nächte habe, als die Frauen verschwanden? Unterweger verneint. Doch seine Überwachung ergibt nichts, und auch sonst findet man keine weiteren Hinweise.
Tatort Graz
Monate später bittet die Grazer Polizei im Fall von zwei Prostituiertenmorden die Wiener Kollegen um Hilfe, die sich kurz vor jenen in Wien ereignet hatten. Es stellt sich heraus, dass Unterweger in den fraglichen Nächten in der Nähe von Graz war. Und: In Bregenz wurde im Dezember 1990 ebenfalls eine Prostituierte ermordet, auch da hatte er einen Auftritt in der Nähe. Jede dieser Frauen wurde in einem Wald auf dem Bauch liegend gefunden, die Hände auf den Rücken gefesselt, nackt bis auf den Schmuck. Sie wurden mit eigenen Wäschstücken stranguliert, die auf spezielle Weise um den Hals geknotet waren. Hinzu kommt die Aussage einer Grazer Prostituierten, Unterweger habe sie im Oktober 1990 nackt mit den Händen auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt. Von der Polizei dazu befragt, leugnet Unterweger den Vorfall zunächst, um kurz darauf umzuschwenken. Zu einer der Grazer Mordnächte gibt er als Alibi ein junges Mädchen an, das dieses nicht bestätigt.
Im Februar 1992 übergibt der damalige Leiter der Wiener Mordkommission, Ernst Geiger, dem Staatsanwalt einen Bericht über Unterweger. Dem reichen die Indizien für einen Haftbefehl aber nicht aus. Das Innenministerium setzt eine Sonderkommission unter Geigers Leitung ein.
Schließlich handelt die Justiz in Graz: Am 13. Februar beantragt die Staatsanwaltschaft Haftbefehl. Doch Unterweger gelingt die Flucht. Mit seiner 18-jährigen Freundin Bianca fliegt er nach Miami. Von dort aus ruft er live in einer ORF-Sendung an, stellt sich als Opfer einer Hetzjagd dar. Eine seiner Affären in Wien, die für die Zeitschrift „Erfolg" arbeitet, bittet Unterweger um Geld. Deren Chef bietet 10.000 Euro für ein Interview - allerdings nur zum Schein. Als Unterweger sein Konto für einen Vorschuss nennt, gibt der Herausgeber die Daten an Geiger weiter. Am 27. Februar 1992 nehmen US-Marshalls das flüchtige Paar vor einer Bank in Miami fest. Unterwegers 673 Tage in Freiheit sind zu Ende.
Während er in Auslieferungshaft sitzt, fragen die österreichischen Behörden in Los Angeles nach ungeklärten Fällen von Prostituiertenmorden. Denn Unterweger war im Sommer 1991 für einen Monat in die Stadt gereist, war für eine Reportage sogar auf Polizeistreife mitgefahren. Treffer: Drei Morde fallen in diese Zeit, und sie ähneln frappierend den Taten, die Unterweger in Wien, Graz und Vorarlberg zur Last gelegt werden. Und auch in Tschechien wird man fündig: Von 14. bis 16. September hielt sich Unterweger in Prag auf, am 15. September wurde dort die 30-Jährige Blanka Bockova ermordet.
Prozess wegen elffachen Mordes
Am 28. Mai 1992 wird Unterweger nach Österreich überstellt. Die Staatsanwaltschaft Graz klagt ihn wegen Mordes an elf Frauen an: sieben in Österreich, drei in den USA, eine in Tschechien (Chronologie der Morde: siehe Factbox unten). Der Prozess startet erst am 20.April 1994. Es wird der erste in der Geschichte Österreichs, der sich auf eine DNA-Spur und eine Tatortanalyse als Beweise stützt. Im BMW des Angeklagten wurde ein Haar gefunden, das laut Analyse vom Prager Mordopfer stammt. Auch ein Profiler des FBI wird eingeflogen, um die Ähnlichkeiten der Taten in den drei Ländern zu untermauern.
Unterweger präsentiert sich während der 30 Verhandlungstage wie immer eloquent und charmant. "Ich möchte es mit ihnen so haben wie im Kaffeehaus", sagt er zu Prozessbeginn zu den Geschworenen. "Wenn Sie mich bei einer Lüge erwischen, dann verurteilen Sie mich." Der Angeklagte schüttelt nun doch Alibis aus dem Ärmel - doch zwei der Genannten, seine Mutter und eine Freundin, bestätigen das nicht. Eine weitere Zeugin sagt aus, sie habe zu einem der Tatzeitpunkte mit Unterweger telefoniert - gegenüber der Polizei hatte sie sich an die genaue Uhrzeit aber nicht erinnern können.
Der Gerichtspsychiater Reinhard Haller beurteilt Unterweger als „zurechnungsfähig, aber geistig abnorm". Er leide an einer „tiefgreifenden narzisstischen Persönlichkeitsstörung mit sadistischen Handlungen".
Nach stundenlangen Beratungen fällen die Geschworenen am 28. Juni ihr Urteil: Mit 6:2 Stimmen sprechen sie ihn in neun Fällen schuldig (in zwei Fällen waren die Leichen beim Fund schon zu verwest für genauere Feststellungen). Unterweger kündigt Berufung an, dann wird er abgeführt. Sechs Stunden später entdeckt ein Wärter den 43-Jährigen tot in seiner Zelle, um den Hals die Kordel seiner Turnhose. Das Urteil wurde so niemals rechtskräftig.
Psychiater Haller hegt bis heute Zweifel, ob sich Unterweger tatsächlich umbringen wollte: „Vieles spricht dafür, dass er nach der Verurteilung zu lebenslanger Haft einen Suizidversuch im Sinn eines Appells oder Protestes vortäuschen wollte, dies aber unglücklicherweise schiefgegangen ist.", erklärte er im „Presse"-Interview anlässlich des 20. Jahrestags des Urteils. Zu der Theorie würde passen, dass Unterweger zuvor bereits mehrmals halbherzige und vorgetäuschte Selbstmordversuche unternommen hatte. Sicher ist nur, wie Haller in einem Nachwort zu „Der Mann aus der Unterwelt" feststellt: Der Fall Unterweger steht nicht nur für eines der größten Verbrechen Österreichs, „sondern für eine Gesellschafts- und Justizgroteske, die ihresgleichen sucht".
Chronologie der Morde
15. September 1990: Blanka Bockova wird an einem Fluss bei Prag ermordet
26. Oktober 1990: Brunhilde Masser wird in einem Wald bei Graz ermordet
5. Dezember 1990: Heide Hammerer wird in einem Wald bei Lustenau ermordet
7. März 1991: Elfriede Schrempf wird in einem Wald bei Graz ermordet
8. April 1991: Silvia Zagler wird im Wienerwald ermordet
16. April 1991: Sabine Moitzi wird im Wienerwald ermordet
28. April 1991: Regina Prem wird im Wienerwald ermordet
7. Mai 1991: Karin Eroglu wird im Wienerwald ermordet
19. Juni 1991: Shannon Exley wird auf einem leeren Grundstück bei Los Angeles ermordet
28. Juni 1991: Irene Rodriguez wird auf einem Parkplatz bei Los Angeles ermordet
3. Juli 1991: Sherry Long wird auf einem Hügel bei Malibu ermordet
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