Angeblich zerstückelter Landwirt aus Neuburg an der Donau
Familie zieht vor europäisches GerichtHelmut Reister, 22.04.2015 11:48 Uhr
Ein Bauer soll zerstückelt und an Schweine verfüttert worden sein. Dann wird die Leiche gefunden. Die zu Unrecht verurteilte Familie zieht jetzt vor Gericht
Neuburg am Inn - Einer der bizarrsten Kriminalfälle in der bayerischen Kriminalgeschichte ist ein Fall für den Europäischen Gerichtshof geworden. Die Richter in Straßburg müssen darüber entscheiden, ob die Familienangehörigen des zu Tode gekommenen Landwirts Rudolf R. aus Neuburg an der Donau eine Entschädigung bekommen. Die bayerische Justiz sträubt sich mit Händen und Füßen dagegen. 2001 war der Landwirt spurlos verschwunden. Spätestens im Herbst 2009, als das Auto des Landwirts mit seiner weitgehend unversehrten Leiche hinter dem Lenkrad aus der Donau gezogen wurde, entpuppte sich das Urteil des Landgerichts Ingolstadt von 2005 als abenteuerliches Fantasie-Produkt der Richter. Bis in die kleinsten Details war dort nachzulesen, wie die Ehefrau, die beiden minderjährigen Töchter (15 und 16 Jahre alt) sowie der Freund eines der beiden Mädchen das Familienoberhaupt töteten, die Leiche zerstückelten und die Teile an die Hunde und Schweine verfüttert hatten. Zu der aufgetauchten Leiche, noch dazu am Stück und ohne Spuren von Gewalteinwirkung, passte dieses Horror-Szenarium nicht.
„Von da ab ging es für die Justiz nur noch darum, ihr Gesicht zu wahren. Das gilt bis zum heutigen Tag“, sagt die Münchner Strafverteidigerin Regina Rick, die eine der beiden Töchter vertritt. Die junge Frau, ihre Schwester, der Freund und ihre Mutter wurden in einem zweiten Prozess vor dem Landgericht Landshut vom Tötungsvorwurf freigesprochen. Alle hatten zu diesem Zeitpunkt ihre Haftstrafen (zwischen zweieinhalb und achteinhalb Jahren) verbüßt. 25 Euro pro Tag beträgt die gesetzlich festgelegte Entschädigung für Menschen, die unschuldig im Gefängnis saßen. Für die Familienangehörigen des Landwirts gilt das nicht, alle entsprechenden Anträge wurden abgelehnt, zuletzt vom Oberlandesgericht.
„Die Justiz“, so Anwältin Rick, „ist der Ansicht, dass die Familienmitglieder selbst Schuld daran sind, im Gefängnis gelandet zu sein. Das ist der pure Hohn.“ Der Ingolstädter Rechtsanwalt Klaus Wittmann, der die Ehefrau des Landwirts betreut, schlägt in die gleiche Kerbe. „Dieses Verfahren hat mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun“, erklärt er. Im Mittelpunkt, auch im Fall von Haftentschädigung, stehen die Geständnisse, die die Frau, ihre Kinder und der Freund abgelegt, später aber, noch vor Prozessbeginn, widerrufen hatten. Daran beißen sich beide Seiten fest.
Die Familie hat ein falsches Geständnis abgelegt
Die Argumentationslinie der bayerischen Justiz, mit der sie die Ansprüche auf Haftentschädigung zurückweist, ist relativ einfach gestrickt: Das krasse Fehlurteil des Ingolstädter Landgerichts mit einer zerstückelten und an Tiere verfütterten Leiche, die es gar nicht gab, spielt dabei keine Rolle. Durch das Geständnis, so die Begründung auf Zurückweisung von Ansprüchen, habe sich die Familie selbst in diese prekäre Lage gebracht. „Ein schlechter Witz“, kommentiert Rechtsanwalt Klaus Wittmann die Haltung der Justiz. Für ihn gibt es keinen Zweifel, dass die Geständnisse durch Tricks und Suggestivfragen zustande gekommen seien. „Das lässt sich anhand der Ermittlungsakten klar belegen.“
Auch seine Kollegin Regina Rick spricht von unlauteren Ermittlungsmethoden. „Tage-, wochen-, monatelang wurde auf die Familie massiver Druck ausgeübt. Solange, bis die Beschuldigten das gestanden haben, was man hören wollte. Was die Geständnisse wert waren, sah man ja später, als die Leiche wieder auftauchte.“ Regina Rick spricht noch einen anderen Punkt an, der ein fragwürdiges Licht auf die Vernehmungsmethoden und die falschen Geständnisse zu werfen scheint.
Die geistig behinderten Beschuldigten waren den Ermittlern ausgeliefert
Die Strafrechtsexpertin sagt: „Alle damals Beschuldigten sind geistig behindert. Der Intelligenzquotient liegt zwischen 50 und 70, und damit weit unterhalb der Debilitätsgrenze. Solche Menschen sind Ermittlern mehr oder weniger ausgeliefert.“ Kritik von den Anwälten erntet im „Fall R.“ auch Landgerichtsarzt Hubert Haderthauer, gegen den seit längerem wegen der Modellauto-Geschäfte Ermittlungen der Staatsanwaltschaft laufen. Er trat in dem Verfahren als Gutachter bei der Frage der Schuldfähigkeit der Familienmitglieder auf. Wittmann sagt: „Mit einer neutralen Begutachtung hatte das nichts zu tun. Er meinte wohl, den Erfüllungsgehilfen der Justiz spielen zu müssen. Haderthauer war von der Schuld der Angeklagten überzeugt und hielt sie für schuldfähig.“ Wie ausgeprägt das Jagdfieber von Polizei und Justiz im „Fall R.“ war, erfuhr auch ein Schrotthändler. Er landete für fünf Monate in Haft, weil er nach Überzeugung der Ingolstädter Ermittlungsexperten das Auto des verschwundenen Landwirts verschrottet haben soll, um damit Spuren zu vernichten.
Ein völlig haltloser Vorwurf, wie sich später herausstellte. Ein Aspekt, der bei der Betrachtung des Falls nicht unberücksichtigt bleiben sollte, ist nach Ansicht von Regina Rick auch der soziale Abstieg der Familie nach ihrer Verhaftung. „Sie haben den Hof verloren, die Mädchen wurden unter Vormundschaft gestellt, kamen nach der Haftentlassung in ein Heim, später auch die Mutter.“ Die Anwälte haben den Europäischen Gerichtshof eingeschaltet, um die ohnehin alles andere als üppige Haftentschädigung zu bekommen. „Ob weitere Ansprüche gestellt werden, ist noch nicht entschieden“, so Wittmann.
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