Die Göhrde-Morde
25.05.2014 um 12:37Das hast du Recht.
AngRa schrieb:Anders wäre es nur wenn die Polizei erneut an einen bestimmten Zeugen herantritt, von dem sie meint, dass er mehr weiß, als er früher gesagt hat und wenn sie versuchen würde ihm sein Wissen zu entlocken.Da gebe ich dir Recht. Allerdings denke ich, dass dies schon längst geschehen wäre, wenn dem so sei. Wie wir alle wissen, gibt es nun auch neue Erkenntnisse aus polizeilicher Quelle. Auf dieser Basis hin, so denke ich, wären Polizei und Staatsanwaltschaft unlängst an besagte Personen herangetreten.
In Anbetracht des Tatablaufs sieht man, welch ein erhöhtes Risiko der Täter bei einem Doppelmord eingeht.Diesen Gedanken finde ich sehr interessant: Es handele sich um einen Sadisten, der sich noch den ganz besonderen Kick verschaffte, indem sein Opfer dabei zusehen musste wie ein anderer Mensch - auch noch sein vermeintlicher Partner - ermordet wurde. Dabei wissend dass es ihm/ihr genauso ergehen würde.
Dieses Risiko würde er bei der Tötung einer Person nicht eingehen. Er könnte sich sexuelle Befriedigung also auf weniger risikoreiche Art verschaffen.
Wenn er dieses Risiko auf sich nimmt, muss es für einen sexuell motivierten Täter dafür einen besonderen Grund geben. Dieser Grund müsste darin bestehen, dass es ihn sexuell besonders erregt, wenn Frauen mit ansehen müssen, wie der eigene Mann getötet wird. Dann käme ein solcher Täter allerdings zunächst mal nicht für Morde an einzelnen Personen in Betracht und es gäbe das Problem, dass jemand innerhalb kurzer Zeit nur zwei Doppelmorde begangen hat, und das obwohl er nicht gefasst worden ist generell Gelegenheit für weitere Taten hatte. Weitere Doppelmorde an Paaren sind nach 1989 aber nicht bekannt. Außerdem gebe ich auch zu bedenken, dass Pärchenmorde statistisch gesehen sehr selten sind, vermutlich weil sich das erhöhte Risiko für einen sexuell motivierten Täter in keiner Weise lohnt.
Das Fantom von Himmelpforten
Sie hat alles nah beieinander. Ihre Welt ist auf die nächste Umgebung des Sessels geschrumpft. Vor ihren Knien befindet sich das seit neuestem farbige Fernsehfenster. Rechts der Beistelltisch mit der Programmzeitschrift, dem Telefonapparat, der Brille und einer Tasse Tee aus der Thermoskanne, den ihr die Nachbarin zubereitet, wenn sie zwei, drei Mal am Tag nach ihr sieht. Ringsum auf engsten Raum Stühle, auf denen Kleidung aufgeschichtet ist. Das Wichtigste in Griffweite.
Sie geht kaum noch aus dem Haus seit dem Tod ihrer Mutter. Schon der Weg aus dem Sessel in der Stube zum Bett im Schlafzimmer ist ihr zu weit. So eine sinnlose Mühe. Sie schläft im Sessel, in dem sie die Tage verbringt. Sie hat es mit den Hüften, sagt sie zur Erklärung. Die ganze Geschichte behält sie für sich. Wie das Leben einfach verrinnt.
Der alte Ölofen ächzt. Wie jetzt im Winter friert die Ölleitung häufig ein auf dem kurzen Weg vom Tank auf der Veranda in die Stube. Dann ruft sie Rolf W* an, den Inhaber von „Fliesenfachmarkt, Kachelofen- und Kaminbau W*“. Auch er ein Nachbar: Sein Büro und der Ausstellungsraum mit den Kaminen und Öfen befinden sich nur ein paar Häuser die Straße hinauf. Nach ihrem Anruf kommt er prompt und bringt das Öl wieder zum Fließen. Eine Rechnung stellt er dafür nicht.
Mit Rolf W* schnackt sie bei der Gelegenheit ein bisschen. Nur Worte, halbe Sätze, die beweisen, dass sie noch reden kann. W* ist Ende Dreißig, sie kennt ihn noch als dummen Jungen in kurzen Hosen. Viele Leute sieht sie sowieso nicht mehr. Eigentlich nur die Nachbarin, die täglich kommt. Und den Jungen, Rolf, wenn der Ölofen streikt. Einmal war der Pastor da, ein ganz junger, und sie war so schweigsam, dass er nach ein paar Minuten Schamfrist wieder gegangen ist.
Verwandte hat sie keine mehr, seit die Mutter tot ist, mit der sie ihr Leben in dem Häuschen Nummer 2 in der Lohestraße verbracht hat. Sie müsste mühsam nachrechnen, wie viele Jahre die Mutter schon tot ist. Im Gleichmaß ihrer Zeit ist es wie ein Tag, wie gestern.
Am Sonntag, den 30. Januar 1983 will eine Nachbarin der 74-jährigen Mariechen Poppe wie jeden Tag das Frühstück bereiten und ihr beim Anziehen helfen. Frau Poppe ist schwer gehbehindert und verlässt kaum ihr Häuschen in der Himmelpfortener Lohestraße. Die meiste Zeit verbringt sie in einem Sessel in der Wohnstube, in dem sie auch schläft. Als die Nachbarin an diesem Morgen die Haustür öffnet, quillt ihr dichter Rauch entgegen; auf Rufe erhält sie keine Antwort.
Die Nachbarin alarmiert die Feuerwehr. Genauer gesagt, sie telefoniert mit Rolf W*, den Ortsbrandmeister, der ebenfalls in der Lohestraße wohnt. Um Viertel nach neun heulen die Sirenen.
Rolf W* muss auf seine Kameraden warten, denn ohne Atemschutzgerät kann er das völlig verqualmte Haus nicht betreten. Beruflich, als Ofenbaumeister, war er gelegentlich bei der alten Dame; vier, fünf Mal im Jahr streikte die Heizung. Sobald er sich in der Wohnstube umsehen kann, erkennt W*, dass es sich um Brandstiftung handelt.
Der Sessel, auf dem die Rentnerin immer saß, ist regelrecht „in den Boden eingebrannt“. Kleidungsstücke und Zeitungen, die stets auf zwei Stühlen in Griffweite aufgeschichtet waren, sind angezündet worden. Der Schwelbrand wird rasch gelöscht. Doch keine Spur von der Bewohnerin.
Es dauert eine Weile, bevor einem Feuerwehrmann einfällt, das Bett zu inspizieren, das „wie frisch gemacht“ aussieht und ja tatsächlich nie benutzt wurde. Unter den Decken verborgen liegt Mariechen Poppe. Sie ist erwürgt worden.
Die gerichtsmedizinische Untersuchung ergibt, dass der Tod zwischen vier und sechs Uhr in der Nacht eintrat. Hat der Mörder sich demnach drei Stunden in dem Haus aufgehalten? Oder haben die geschlossenen Türen und Fenster das Feuer in der Wohnstube so lange schwelen lassen? Hätten sich bei mehr Sauerstoffzufuhr Flammen entwickelt, ist Rolf W* sicher, wäre das reetgedeckte Haus binnen kurzem von den Lohen verschlungen worden.
3 000 Mark Belohnung werden ausgesetzt, aber die Hinweise aus der Bevölkerung führen auf keine heiße Spur. 19 Monate später wird der Fall wieder aktuell.
Meta von Ahn war in Himmelpforten als „wunderliche Alte“ bekannt. Nach dem Tod ihrer Mutter, mit der sie in einem winzigen Haus am Hüperskamp neben den Hallen der Stader Saatzucht gelebt hatte, wurde sie zusehends schrullig. „Sie lief vor sich hin schreiend durch den Ort“, erzählt ein ehemaliger Arbeiter der Saatzucht. Eine Nachbarin erinnert sich: „Nachts hörten wir, wie sie mit dem Kochlöffel auf den Küchentisch haute.“ Oft strich die zierliche Frau, die mitleidig belächelt wurde, ruhelos im Dunkeln durch die Straßen.
Vielleicht während sie unterwegs ist, steigt der Mörder in ihr Häuschen ein. Am 5. August 1984 wird die bereits verweste Leiche der 62-Jährigen entdeckt. Sie ist seit wenigstens sieben, höchstens 14 Tagen tot. Wie Mariechen Poppe ist sie erdrosselt worden. Beide Frauen wurden nach ihrem Tod bis über den Kopf zugedeckt.
Ob die Opfer ausgeraubt wurden, kann die Polizei nicht mit Sicherheit feststellen. Viel zu holen gewesen wäre bei beiden ohnehin nicht. Im Fall Meta von Ahn vermutet die Polizei außerdem eine Vergewaltigung, kann sie jedoch aufgrund des Zustand der Leiche nicht nachweisen.
Himmelpforten ist geschockt und ängstigt sich. Verdächtigungen machen die Runde. Weitere 3 000 Mark Belohnung provozieren zwar über 100 Hinweise, aber die Polizei stochert nach wie vor im Nebel. Vier Wochen später, mitten in die sich ausbreitende Besorgnis, am 10. September 1984, wird in Engelschoff eine 79-Jährige, auch sie wohnt allein und abgelegen, vergewaltigt und ausgeraubt.
Die Frau sitzt vor dem Fernseher, als sie Geräusche hört; gerade ist ein Fenster an der Rückseite des Hauses aufgehebelt worden. Bevor sie nachschauen kann, steht der Verbrecher vor ihr, im Parka, über dem Kopf eine rote Strickmütze mit Sehschlitzen, in der Hand ein 20 Zentimeter langes Messer.
Erst verlangt er Geld und steckt Schmuck, Uhren und Ringe zu sich. Dann missbraucht er die alte Frau. Nachher deckt er sie bis über den Kopf zu. „Ihr resolutes Auftreten“, glaubt der Ermittlungsleiter der Kriminalpolizei in Stade, „hat ihr das Leben gerettet.“
Einziger Anhaltspunkt: die Stimme des Täters. Doch unter den Sprechproben von Verdächtigen kann das Opfer keine identifizieren.
Im Geheimen patrouilliert die Polizei wochenlang nachts in Himmelpforten und Umgebung und überwacht Häuser, in denen alte Frauen alleine leben. Vergeblich, soweit es die Fahndung betrifft – der Täter rührt sich nicht mehr. Fünf Jahre lang nicht, bis zum 28. September 1989.
Gegen Mitternacht dringt der Unbekannte in das Schlafzimmer einer 81-Jährigen in Hammah ein und leuchtet ihr mit einer Taschenlampe ins Gesicht. „Ich will nur Geld“, sagt er. „Geben Sie mir das Geld, alles Geld, was Sie haben.“ Vergleichsweise höflich soll er sich ausgedrückt haben, sagt die Überfallene aus.
Die Frau schreit um Hilfe, da droht er mit einem Messer. Sie gibt ihm 65 Mark. Jetzt „fordert er den Geschlechtsverkehr“, wie es im Polizeiprotokolldeutsch heißt. Sie fühle sich nicht so gut, erwidert die Frau. Und wirklich lässt er von ihr ab.
Er fesselt sie und deckt sie bis über den Kopf zu. Das Zudecken hält der Ermittlungsleiter für sein Erkennungszeichen.
Die Frau verliert kurz das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kommt, ist der Mann fort. Gegen drei Uhr kann sie sich selbst befreien und die Polizei rufen.
Der Steckbrief des Angreifers: Etwa 30 Jahre alt, von kräftiger Gestalt und zirka 1,80 Meter groß; spricht hochdeutsch mit norddeutscher Färbung. Er verfügt über ausgezeichnete Ortskenntnis und hat seine Opfer gewiss vorher gekannt.
Über sein psychologisches Profil und sein Motiv lässt sich nur spekulieren. Lebt er, unterdrückt von ihr, mit seiner Mutter zusammen und entlädt seinen Hass deshalb an Frauen ihres Alters? Warum die Pausen zwischen den Taten? Ein schwerer Unfall, ein Auslandsaufenthalt? Warum endete die Serie? Ist Mutter gestorben und der Hass zur Ruhe gekommen?
Die Ermittlungen verlaufen im Sand. Der Mörder, Vergewaltiger, Brandstifter und Räuber bleibt ein Fantom. Dass sich nicht lang nach der letzten Tat ein sonderlingshafter junger Mann erhängt, gilt in Himmelpforten als Schuldeingeständnis. Der Ermittlungsleiter hat Zweifel. 2002 hofft er auf die moderne Kriminaltechnik: Spurenmaterial wird mittels DNA-Analyse untersucht. Liegt die Gen-Sequenz des Täters vor, sollen Speichelproben von Verdächtigen genommen werden. Doch das Spurenmaterial reicht nicht für eine Analyse. Der Unhold bleibt unerkannt. [© Uwe Ruprecht]