Guten Tag, allerseits,
vielen Dank an it-s-him für die ausführliche Recherche. Das bringt neuen Schwung in die Debatte. Und auch die Zusammenhänge mit anderen Fällen der Umgebung sind sehr erleuchtend. Ich habe ja auf Kannibalismus getippt, dass die Realität meine Vorstellung überholt, hätte ich vor drei Wochen auch nicht gedacht.
Es ist auch wichtig, dass wir nicht alles, was für uns glatt und einfach zu erklären ist, einfach so hinnehmen, sondern da danke ich
@AngRa, dass sie immer wieder hinterfragt und das Wissen, was wir hier zur Verfügung haben, herausarbeitet.
Auch, wenn ich durch diesen langen Text die Debatte ein wenig bremse, nehmt Euch doch bitte noch einmal ein wenig Zeit. Ich möchte kurz die aus meiner Sicht neun mir wichtig gewordenen Gedanken der letzen Tage unterstreichen. Das ist hilfreich, damit wir die verschiedenen Möglichkeiten nicht aus den Augen verlieren und in der heutigen und gestrigen Fülle an Informationen nicht den Überblick verlieren.
Diese Liste ist kein vollständiger Überblick über den Thread, sondern spiegelt meine Gedanken dazu wieder. Sie ist auch nicht vollständig, weitere Gedanken habe hier noch auf dem Zettel (schaffe es aber z.Zt. nicht, diese zu verschriftlichen)
Hier der Überblick:
1. Die Polizei veröffentlicht nicht alles, was sie weiß
2. XY-Problematik
3. Zeitungsmeldungen
4. Zusammenhang mit anderen Taten
5. Verbindung des Täters zu übergeordneten Organisationen/Ermittlungsbehörden
6. Regionaler Zusammenhang der Taten
7. Opfer - Täter bekannt?
8. Ein Täter mehrere Täter
9. Die Autos
1.
Die Polizei veröffentlicht nicht alles, was sie weiß:
a)
aus ermittlungstaktischen Gründen (Täterwissen; Verdunklungsgefahr, der Täter soll sich kein Alibi verschaffen können oder auf Beweismittel hingewiesen werden)
b)
aus juristischen Gründen: falls es zu einer Anklage kommt, dürfen manche Dinge nicht vorher veröffentlich sein, um vor Gericht bestandhaltig zu bleiben.
Ein Verdacht gegen eine konkrete Person kann Schadensersatzansprüche verursachen und kann den Ruf einer Person zerstören (siehe Förster).
c)
um die Öffentlichkeit ob der mutmaßlichen Verstümmelungen nicht zu verunsichern. Bedenkt, dass vor 25 Jahren Darstellungen von Gewalt und Sexualität viel stärker tabuisiert waren als heute. Die Polizei soll für "Ruhe und Ordnung" sorgen, die explizite Veröffentlichung der Obduktionsdetails stört sicherlich die öffentliche Ruhe.
d)
aus "persönlichen" Gründen der beteiligten Personen: Auch Ermittler sind Menschen mit Stärken und Schwächen. Die Entscheidung, was man veröffentlichen darf, wurde manchmal nur von zwei, drei Personen, gefällt. Eine persönliche Aversion gegen "die Presse" oder eine falsche Entscheidung aufgrund mangelnder Kompetenz können wir nicht ausschließen (liebe Polizisten und andere Ermittlungsprofis, bitte nehmt das nicht persönlich). Oder der Ermittler hat sich an einer Theorie festgebissen, die er aus rational nicht nachvollziehbaren Gründen nicht loslassen will, so dass die Ermittlungen nicht in die entscheidende Richtung gehen.
e)
aus organisatorischen Gründen: die beteiligten Beamten haben den Überblick über alle Fakten, Vermutungen und Indizien. Die Beamten habe aber noch viele andere Fälle zu bearbeiten; ihnen steht für den Fall nur ein bestimmtes Zeitkontingent zur Verfügung. Innerhalb dieser Zeit müssen sie auch entscheiden, was man veröffentlicht. Im Zweifelsfalle - und weil man nicht wg. jedes Details den Staatsanwalt anrufen kann - lässt man die Veröffentlichung mancher Fakten eben sein. Macht der Polizist dann zu viel öffentlich, bekommt er bisweilen eine unangenehme Einladung vom Chef.
(Das ist der Vorteil dieses anonymen Internets: Für das, was wir hier spekulieren, müssen wir den Kopf nicht hinhalten)
2.
XY-Problematik:
Die XY-Sendungen sind als Hinweis- oder Indiziengeber gut geeignet, sie sind jedoch nicht immer stichhaltig. Die Kripos machen sicherlich inhaltliche Vorgaben, dennoch müssen die Regisseure und Produzenten ästhetischen und dramaturgischen Regeln folgen. Für Ortsfremde hilfreich, für Ermittlungen und Rekonstruktionen hier im Thread sind sie aber keine sichere Quelle. Vergesst das nicht! Nicht immer entsprechen filmische Requisiten den Realitäten.
3.
Zeitungsmeldungen:
Die Pressemeldungen halte ich noch für die sichersten Quellen für unsere Recherchen. Die Redakteure und Journalisten waren am Nächsten an den Ermittlern dran. Auch das, was sie geschrieben haben, ist durch ihre eigene Wahrnehmung gefärbt. Daraus werden dann manchmal Widersprüche, wie
@AngRa an verschiedenen Stellen aufgezeigt hat.
Aber hier sehen wir den Vorteil dieses Mediums: wir alle haben den gleichen Text vorliegen und können uns Gedanken auf der gleichen Grundlagen machen. Zugegeben, auch Zeitungsmeldungen haben dann ihre Schwächen. Jedoch war den Redakteuren (und auch den Polizisten) vor 20 Jahren nicht bewusst, welche Recherchemöglichkeiten es heute gibt. Das Internet vergisst auch das nicht, was es vor dem Internet gab. Heutzutage sind im Umgang mit Medien geschulte Menschen viel, sehr viel zurückhaltender mit Äußerungen. Das waren die Quellen für die Zeitungsberichte vor 20, 25 Jahren nicht. Und das ist der Vorteil, den wir hier daraus ziehen können. Insofern halte ich den MOPO-Bericht für ganz wichtig. Es steht dort mehr drin als veröffentlicht wurde.
Trotzdem müssen wir die Frage des Kalibers und der Ursache der Verstümmelungen noch weiter hinterfragen und schauen, ob wir für unsere Theorie eines abartig brutalen Täters weitere Hinweise finden.
4.
Zusammenhang mit anderen Taten:
Ein Mensch fängt nicht von jetzt auf gleich unmittelbar an, diese Brutalitäten an anderen Menschen auszuführen. Dazu ist eine Art der "Sozialisation" nötig. Das kann in Extremsituationen ganz schnelle gehen - im Krieg, sagt man, brauche es zwei Wochen, bis ein Mensch durch tägliche Gefechtssituationen ausreichend abgebrüht ist.
Im normalen Leben braucht es länger, aber man braucht viele "Situationen". Dann braucht man im Vorfeld Jahre und viele Gewalterlebnisse, um diese "Professionalität" zu erlangen. Die beiden Taten können daher nicht einzig gewesen sein, es muss einfach mehr Taten gegeben haben. Wenn die Polizei jedoch sagt, dass sie die anderen hier erwähnten Taten ausschließt, dann kann das auch an meinen oben erwähnten Stichpunkten 1.d) oder 1.e) liegen. Ich komme nicht aus der Kriminalistik oder aus dem psychologischen Gewerbe. Die Ähnlichkeiten zu anderen Morden oder Mordversuchen (Fr. Busch, das Camperpaar) oder aber auch die hohe Dichte an Vermisstenfällen in diesem doch für Deutschland eher dünnbesiedelten Gebiet fällt einfach auf! Daher glaube ich weiterhin an weitere nicht aufgeklärte Taten (Was war denn das mit den vermissten Prostituierten?)
5.
Verbindung des Täters zu übergeordneten Organisationen/Ermittlungsbehörden:
a)
Vielleicht gibt es Verbindungen des Täters zu Ermittlungsbehörden. Wie mehrfach in diesem Thread geschrieben wurde, ist die Umgebung der Göhrde als ein großes Dorf zu betrachten. Jeder kennt jeden, alles wissen von Allem. Auch die Ermittlungsbeamten sind nur Menschen. Die Sekretärin im Kommissariat erzählt es ihrer besten Kaffeeklatschfreundin, diese erzählt es "nur" ihrem Mann, dieser erzählt es "nur" im Schützenverein... Auf diese Art entsteht natürlich viel Halbwissen, wichtige ermittlungstaktische Bruchstücke könnten trotzdem so vom Täter aufgefangen worden sein, so dass er sich dem Fahndungserfolg hätte entziehen können.
b)
Gut, für die Stasitheorie, die auch ich ganz spannend finde, gibt es keine Belege. Aber auch das Thema Wehrsportgruppen sollten wir nicht ganz vergessen, genauso wenig die Theorie, dass ein Soldat für diese Taten in Frage käme. Menschen aus solchen Organisationen haben Gewalterfahrungen und können diese oft nicht hinreichend steuern. Wie gesagt, zur Zeit haben wir dafür keine Belege. Wenn solche Hinweise oder Ideen auftauchen, dann müssen wir hier auch noch einmal weiter forschen.
6.
Regionaler Zusammenhang der Taten:
Das, was ich unter 4. und 5.a) geschrieben habe im Zusammenhang mit der Graphik von
@Tuskam, dass Dannenberg im Zentrum dieser Verbrechen steht und die wahrscheinlichen Ortskenntnisse des Täters, auf die hier immer wieder Bezug genommen wird, legen nahe, dass der Täter einen starken Bezug zur Göhrde hat. Die Schwierigkeit ist, dass er dort nicht unbedingt seinen ständigen Wohnsitz haben muss. Häufige Aufenthalte auf Campingplätzen, Pensionen, in Jagdhütten oder Kurhotels - vielleicht über Jahre hinweg - können auch zu einer guten Ortskenntnis führen und zu einer Verbundenheit mit den Bewohnern dort. Das kenne ich übrigens aus eigener Erfahrung.
Sollte er hingegen doch dort seinen ständigen Aufenthaltsort haben, wäre es für die Ermittlung viel leichter, ihn zu identifizieren oder zumindest einen Kreis der Personen einzugrenzen. Konkretes wurde hier im Thread ja auch benannt.
7.)
Opfer - Täter bekannt?:
Der Täter hat in beiden Fällen die Fahrzeuge der Opfer gefunden und scheinbar 'Opferwissen' gehabt. Natürlich kann es sein, dass er dieses Wissen den Opfern abgepresst hat. Wenn wir aber mit Wahrscheinlichkeiten operieren, sollten wir eine vorherige Bekanntschaft des Täters mit dem Opfer ganz eng in Betracht ziehen. Denn es müssten schon viele Zufälle zusammenfallen, dass der Täter ein in sein Schema passendes Paar in der Göhrde findet, diese je zwei Personen erfolgreich überwältigen kann, in räumlicher Nähe zueinander ermordet, jedes Mal die Autos findet und mit diesen nicht auffällt.
8.)
Ein Täter mehrere Täter
Die 'Mehr-Täter-Theorie haben wir hier mehrheitlich verworfen. Das, was wir bisher zu wissen glauben, spricht dagegen, dass es mehrere Täter waren. Der Triebtäter scheint ja ein Einzelgänger zu sein, und wenn wir den Punkt 7 hinzuziehen, dann ist auch nachvollziehbar, dass ein Täter für das Geschehen verantwortlich sein könnte.
9.)
Die Autos:
Wir wissen nicht, was mit den Autos genau passiert ist. Es wird gemutmaßt, dass der Tercel noch 60 km gefahren ist, wir wissen aber nicht mit Sicherheit, ob nicht ein Teil der Strecke oder alles vom Eigentümer des Fahrzeugs gefahren wurde. Die Zeugenaussagen sind vage. Die Auffindesituationen der beiden Autos passen nicht zusammen. Die Spurensicherung hat nicht viel aus heutiger Sicht verwertbares gefunden (ggf. mit Einschränkungen, ich verweise auf meinen Punkt 1., oben).
Es gibt hier so viele Variablen, dass wir hier wirklich nur raten können und entweder hier einfach nicht weiter kommen oder auf weitere, stichhaltige Erkenntnisse warten müssen.
Hoffentlich war das jetzt nicht allzu lang für Euch. Vielleicht sollten wir den einen oder anderen Gedanken bei den weiteren Überlegungen berücksichtigen.
In diesem Sinne bis demnächst,
A.