@jaska jaska schrieb:Dem Gutachter müssen also etwaige Tathergangshypothesen, Befragungskonzepte, alle Vernehmungsprotokolle sowie der Proband zur Verfügung stehen, um sich ein umfassendes Bild machen zu können. Richtig?
Richtig. Der Gutachter muss nachvollziehen können, wie und unter welchen Umständen die Aussage (das Geständnis von Ulvi, denn darum geht es ja) zustandegekommen ist. Insbesondere die Überprüfung, inwieweit es sich bei der Aussage um eine Falscherinnerung handelt, muss der Gutachter nachvollziehen können, inwieweit es eine voangestellte, sequenzielle und wiederholte Suggestion der Informationen gegeben hat. Und das kann er nur, wenn alle protokollierten Befragungen bzw. Vernehmungen vorliegen.
jaska schrieb:Stell ich mir das richtig vor und der Gutachter hätte aufgrund dieser Informationen die Fragen der Beamten auf Suggestionen hin untersuchen können und zwar eindeutiger, als er es sicher schon bei der ersten Begutachtung gemacht hat?
Ja, definitiv. Wobei die Tathergangshypothese erstmal ein Hinweis für den Gutachter gewesen wäre, dass "erstaunliche" Übereinstimmungen zur Aussage des Pb bestehen. Allerdings wäre erst das Papier, in dem die Beamten diese THH als Grundlage für die weitere Vernehmungsstrategie festlegten und -hielten, ein Hinweis, bei dem die erste deutliche Alarmleuchte bezgl. Suggestion anspringen würde/ müsste.
jaska schrieb:Wie sieht es aus wenn es zwischen Tathergangshypothese und Geständnis konstante Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede gibt? Ist das auch Gegenstand der Untersuchung?
Jein. Untersuchungsgegenstand der Glaubhaftigkeitsbeurteilung wäre nur die Aussage des Ulvi und die Untersuchung, ob diese Aussage auch durch andere Umstände zustande gekommen sein könnte - also ob Suggestion in der Vernehmung oder aber Druck, der zu einem falschen Geständnis geführt hat, eine Rolle gespielt haben könnte. Die Tathergangshypothese selbst sollte kein gesonderter Gegenstand der Bewertung sein. Im Nachhinein ist es vielleicht spannend, sich anzuschauen, inwieweit Details oder Nebensächlichkeiten durch Ulvi erwähnt werden, die in der THH keine Rolle spielten, allerdings ist dies - sollte Suggestion eine Rolle gespielt haben - irrelevant, da dann naheliegen könnte, dass es sich bei diesen Details (die ohne Suggestion i.d.R. einen hohen Erlebnisbezug darstellen würden) um naheliegende Ausschmückungen und "normale" Assoziationen und Vorstellungen des Pb handelt, als um tatsächlich erlebte Handlungen.
jaska schrieb:Und genau beim letzten Fall setzt meine schon oft wiederholte Und nie beantwortete Frage an: bei einem hoch manipulierbaren Menschen, dem eine Tat suggeriert wurde - was kann ihn dazu bewegen, dieses Geständnis zu widerrufen? Erinnert er sich plötzlich daran, dass das ja nicht stimmt oder bedarf es einer erneuten Suggestion?
Zum ersten Teil deiner Frage:
Es ist bis zum heutigen Tage noch immer eine ANNAHME, dass Ulvi hochsuggestibel sei. Ich würde mit dir mitgehen, dass er womöglich gut manipulierbar ist. Worin besteht der Unterschied? Mal ganz platt mit meiner eigenen Definition/ Erfahrung ausgedrückt:
Innerhalb einer Manipulation reagiert und folgt der Pb auf ein persönliches Bedürfnis seiner selbst, das durch einen Anderen gezielt angesprochen wird. In einer Suggestion wird gezielt oder auch ungewollt eine Reaktion des Pb auf das Bedürfnis eines Anderen erzeugt.
Wer manipulierbar ist, ist daher nicht gleichzeitig suggestibel.
Widerruft Ulvi sein Geständnis, wäre das zumindest für mich zunächst einmal ein Indiz dafür, dass es sich bei seinem Geständnis nicht unbedingt um eine Falscherinnerung handeln muss, sondern er ein falsches Geständnis auf Grund von Druck, dem er womöglich ausweichen wollte, ablegte (er also beeinflussbar/ "manipulierbar" durch Druck ist, dem er nicht standhalten kann -> sein Bedürfnis, auf das er dann reagierte, wäre: Ich geb dem was der hören will, denn eher lässt er mich nicht gehen => Ergebnis: ein falsch-positives Geständnis). Lässt dieser Druck nach oder entsteht von anderer Seite aus Druck, dann wäre es wahrscheinlich, dass ein Pb nun widerruft. Rein hypothetisch wäre das z.B. der Fall, wenn nun nicht mehr Druck durch einen autoritären Beamten ausgeübt würde, sondern jetzt seitens seiner Eltern/ BI oder wer auch immer in diesem Moment eine Autoritätsperson für ihn darstellt.
Bei einer Falscherinnerung, die durch sequenzielle Suggestion regelrecht implantiert wird, ist es eher unwahrscheinlich, dass der Pb eines Tages "erwacht" und merkt: "Hey, das war ja alles ganz anders!"
Das kann man gut an sich selbst überprüfen:
Wir alle haben Erinnerungen unserer Kindheit, bei denen wir schwören würden, wann wo und wie sich bestimmte Ereignisse zugetragen haben. Ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser vermeintlichen Erinnerungen sind schlichtweg falsch, da sie im Nachhinein durch wiederholte Erzählungen von Eltern, Großeltern oder Verknüpfung mit komplett anderen Ereignissen sukzessive überformt wurden. Selbst, wenn uns dann jemand sagt oder zeigt, dass es so nicht gewesen sein kann, geben wir diese Erinnerung nicht auf - können das auch nicht, da sich die Bilder, die daran geknüpft sind, in unserem Kopf befinden.
Im Fall von Ulvi würde es meiner spärlichen Beobachtung des Falls nach nicht darauf ankommen, ob er nochmals suggestiv beeinflusst würde, wie du fragtest, sondern ob massiv und wiederholt Druck von einer Seite aufgebaut würde.