...nicht viel neues aber eine sehr ausführliche und gute zusammenfassung aus der FAZ vom 26.4.2011
Mordfall Dennis
Der schwarze Mann
Er ermordete Jungs, er missbrauchte Jungs - Jahre lang unbemerkt. Und das, obwohl die Polizei mehrmals wegen unsittlichen Verhaltens ermittelte. Erst jetzt, 19 Jahre nach seiner ersten Tat, bekommt der Mann mit der Maske einen Namen: Martin N.
Von Philip Eppelsheim
Der schwarze Mann kam im März 1992 in das Schullandheim, das von Bäumen verborgen außerhalb des Dorfes Hepstedt liegt. Auf dem Geestrand zum Teufelsmoor. Der schwarze Mann stand in einem leeren Schlafraum. Wie eine Gestalt aus den Geschichten, die Wälder und Moore erschaffen. Als hätte Stephen King ihn in dieses Zimmer geschrieben. Eine Lehrerin sah den schwarzen Mann, und er rannte davon. Einige Nächte später stand der schwarze Mann wieder in einem Zimmer des Schullandheims. Dieses Zimmer war nicht leer. Kinder schliefen hier. Der schwarze Mann wollte einen elf Jahre alten Jungen missbrauchen. Als der schrie, verschwand der schwarze Mann, verschmolz mit der Dunkelheit.
Das Heim auf dem Geestrand zum Teufelsmoor war der Beginn. Der schwarze Mann suchte auch andere Schullandheime auf, die rund um Bremen in Geest und Marsch, in Einsamkeit und Natur liegen. Schulklassen und Freizeitgruppen besuchen die Häuser. Der schwarze Mann blickte durch die Fenster, er lief die Flure entlang, er ging in die Zimmer. Nicht immer glaubten die Betreuer den Kindern, wenn sie am Morgen vom schwarzen Mann in der Nacht erzählten. Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?
Hier erinnert ein Kreuz an den ermordeten Dennis Klein: Die Straße zwischen Hepstedt und Kirchtimke
Stefan Jahr hatte Angst. Der 13 Jahre alte Junge war Schüler an der Eichenschule in Scheeßel. 34 Kilometer von Hepstedt entfernt. Er hatte zusammen mit einem anderen Jungen ein Zimmer in dem Internat. Ende März begann Stefan, sich abends im Zimmer einzuschließen. Am 30. März blieb die Tür geöffnet. Eine Betreuerin nahm dem Jungen den Schlüssel ab. Am Morgen war Stefan verschwunden. Zurück blieben nur der Schlafanzug des Jungen und ein offenes Fenster. Fünf Wochen später fanden zwei Frauen während ihres Sonntagsspaziergangs die gefesselte Leiche von Stefan, verscharrt im Sand der Verdener Dünen.
In den Nächten kam der schwarze Mann. Im Juni, im August, im September, im Oktober. In das Schullandheim Hepstedt, in das Schullandheim Badenstedt, in das Zeltlager Selker Noor. Auch Badenstedt und Selker Noor liegen abseits, in der Landschaft. Wie ein großer Schatten beugte sich der schwarze Mann über die Betten. Er sprach mit einer dunklen Stimme. Tief, brummig, beruhigend, bestimmt. Er sagte, er sei ein Nachtgespenst. Eines in Lederkluft, mit einer Strickmütze über dem Gesicht, die Löcher für Augen, Nase und Mund hatte. Der schwarze Mann fasste die Jungen an, er missbrauchte sie. Manchmal sahen Betreuer den schwarzen Mann, manchmal hörten sie nur die Geschichten der Kinder. Geschichten der Nacht. Kinderphantasien, die keine waren. So etwas können sich Kinder nicht ausdenken.
Die Polizei fand keine Spur. Und das Jahr 1993 verflog, als wäre der schwarze Mann doch nur ein Albtraum gewesen. Aber er kam wieder. 1994. In Schullandheime, in Zeltlager und in Einfamilienhäuser und Reihenhäuser in Horn-Lehe, einem Stadtteil von Bremen. In den Häusern verging er sich an den Jungen in ihren Kinderzimmern. Die Eltern schliefen, oder sie verbrachten den Abend an einem anderen Ort. 1995 tauchte der schwarze Mann im Dorf Wulsbüttel auf, 40 Kilometer von Hepstedt entfernt. Ein Sandweg führt vorbei an Fichten, Kiefern und Eichen zu der Lichtung, auf der das Schullandheim Wulsbüttel steht.
Einen Monat später holte sich der schwarze Mann den nächsten Jungen. Das war, drei Jahre nachdem er Stefan Jahr getötet hatte. In der Nacht zum 24. Juli 1995 war er wieder am Selker Noor bei Schleswig, 200 Kilometer von Hepstedt entfernt. Am Morgen war der acht Jahre alte Dennis Rostel nicht mehr da. Zwei Wochen später fand ein Mann die Leiche des Jungen, verscharrt im Sand einer Düne in der Nähe der dänischen Stadt Holstebro. Nachts stand der schwarze Mann in Kinderzimmern. Die Polizei versuchte vergeblich, die Morde und Missbrauchsfälle aufzuklären.
Im Juni 1998 drang der schwarze Mann wieder in ein Schullandheim ein. Zwei Monate später verschwand der elf Jahre alte Nicky Verstappen aus einem Zeltlager in den Niederlanden, 430 Kilometer von Hepstedt entfernt. Seine Leiche fand man in einer Fichtenschonung. Der schwarze Mann trieb sein Unwesen immer weiter. Im Sommer 1999 weckte er einen acht Jahre alten Jungen im Schullandheim Wulsbüttel. Er missbrauchte ihn, machte Fotos von ihm. Der Junge sprach erst ein Jahr später darüber, als seine Klasse wieder in das Schullandheim fahren sollte. Polizisten ermittelten. Die Heimleitung erfuhr nichts von dem Missbrauch.
Suche nach dem Serienmörder
Hier wohnte Martin N.: Die Jägerstraße in Hamburg
In der Nacht zum fünften September 2001 holte sich der schwarze Mann den neun Jahre alten Dennis Klein aus dem Schullandheim Wulsbüttel. Es gibt ein Foto von jenem Abend, es entstand, kurz bevor es Nacht wurde. Dennis sitzt in dem blau lackierten Metallbett auf seiner Bayern-Bettwäsche und hält Pokémon Pikachu in seinen Händen. Vierzehn Tage später fand ein Pilzsammler den toten Jungen an einem Waldweg zwischen den Dörfern Kirchtimke und Hepstedt. Vier Kilometer von jenem Schullandheim entfernt, wo der schwarze Mann zum ersten Mal aufgetaucht war. Vor neun Jahren.
Die Soko Dennis gründete sich, Ermittler untersuchten, ob es einen Zusammenhang zwischen den Taten in den vergangenen Jahren geben könnte, und schließlich suchten sie einen Serienmörder und Kinderschänder. In der Nähe des Fundorts von Dennis Klein stand an einer Straße ein Kreuz aus Holz und verwitterte. Die Birken am Straßenrand wuchsen. Zentimeter für Zentimeter, drei Jahre lang. Jahre, in denen die Akten der Ermittler dicker und dicker wurden, ohne dass die Polizisten den schwarzen Mann erwischten. Als wäre er doch eine unwirkliche Gestalt, geboren aus dem Moor und aus dem Wald, erschaffen nur für seine grausamen Taten.
In der Nacht zum 7. April 2004 verschwand der zehn Jahre alte Jonathan Coulom aus einem Schullandheim an der französischen Atlantikküste, 1280 Kilometer von Hepstedt entfernt. Man fand ihn gefesselt, ermordet, in einen Teich geworfen. Der schwarze Mann suchte keine Schullandheime mehr auf, keine Ferienlager. Jedenfalls erzählte kein Kind mehr von dem schwarzen Mann.
Ein junger Mann, der viel reiste
Im April 2004 war Martin N. 33 Jahre alt. Er wohnte im ersten Stock einer verklinkerten Doppelhaushälfte an der Jägerstraße in Hamburg, 74 Kilometer von Hepstedt entfernt. Im April blühen in den Vorgärten der Jägerstraße Narzissen, Hyazinthen und Magnolien. Selbst der blasse Klinker leuchtet im Sonnenschein.
Im Dezember 1970 war Martin N. in Bremen auf die Welt gekommen. Als Grundschüler hatte er Ausflüge in Schullandheime gemacht, wie es die Kinder in Bremen nun einmal tun - er war wahrscheinlich in Wulsbüttel, am Ende des Sandwegs, auf der von Kiefern und Eichen umgebenen Lichtung. Martin N. hatte einGymnasium besucht und dort traurige Bekanntheit erlangt. Mit sechzehn Jahren hatte er fünf Familien erpresst. Er hatte gedroht, die Kinder zu töten, sollte er kein Geld erhalten. Der "Weser-Kurier" hatte berichtet, und das Jugendgericht hatte acht Wochenenden Sozialdienst angeordnet. Nach der Schule hatte Martin N. auf Lehramt studiert, im Referendariat abgebrochen und beschlossen, Sozialpädagoge zu werden. 1994 soll er einen kleinen Jungen „unsittlich berührt“ haben, die Polizei hatte die Ermittlungen aber wieder eingestellt. Als Jugendbetreuer war Martin N. mit Kindern auf Freizeiten gefahren, unter anderen in Schullandheime. Ein großer, junger, schlanker Mann mit blonden Haaren, der viel reiste. Nach Mexiko, nach Südamerika. Und im Sommer 1995 nach Dänemark, in die Nähe der Stadt Holstebro. Im Jahr 2000 war Martin N. nach Hamburg in die Wohnung an der Jägerstraße gezogen und hatte im Mai als pädagogischer Mitarbeiter der Evangelischen Jugendhilfe Friedenshort in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung angefangen. Dort betreute er Kinder und Jugendliche.
„Schwelle der Erheblichkeit“ nicht erreicht
2004 war das Jahr, in dem Martin N. wieder vor Gericht stand. Wegen sexuellen Missbrauchs von zwei Jungen, sechs und acht Jahre alt. Er hatte sich die Jungen in seinem Wohnzimmer auf den Schoß gesetzt und sie minutenlang am Bauch gestreichelt. Der Richter sah die „Schwelle der Erheblichkeit“ nicht erreicht, und so war das Verfahren gegen Zahlung von 1800 Euro erledigt.
Martin N. hatte inzwischen dunkleres Haar, an manchen Stellen auf dem Kopf auch gar keines mehr. Ein Haarbüschel war weiß. Ein Fleck, groß wie eine Visitenkarte. Ansonsten war er trotz seiner Größe von mehr als 1,90 Meter unauffällig. Martin N. war nicht mehr schlank. Er war nicht dick, aber untersetzt. Meistens trug er Jeans und Jeansjacke, dazu Turnschuhe.
Erpressung unter Päderasten
2005 erpresste Martin N. den Sozialarbeiter Michael W. aus Berlin. Er forderte 20.000 Euro, ansonsten würde er Kinderpornos, die Michael W. gemacht hatte, an dessen Arbeitgeber weiterleiten. Es war eine Erpressung unter Päderasten und unter Jugendbetreuern: Michael W. leitete seit 2001 einen Jugendclub im brandenburgischen Velten. Er hatte die Arbeit bekommen, obwohl er vorbestrafter Kinderschänder war und deshalb seine Arbeit beim Jugendamt verloren hatte. Michael W. wandte sich an die Polizei.
Am 23. Februar 2006 sollte die Geldübergabe in einem Wald bei Hamburg stattfinden. Die Polizei war dort. Martin N. auch. Doch er nahm das Geld nicht. Ermittler durchsuchten seine Wohnung. Auf seinem Rechner fanden sie rund 1000 sogenannte Vorschaubilder, Thumbnails. Bilder von nackten Jungen, ein Katalog für Päderasten. Darunter waren auch Aufnahmen des kleinen Jungen, die der schwarze Mann 1999 in Wulsbüttel gemacht hatte. Und „veröffentlichte Fotos der ermordeten Dennis Rostel und Dennis Klein. Zudem fanden sich in N.s Galerie Aufnahmen von nackten gefesselten Jungen. Andere waren bis zum Oberkörper im Sand eingegraben.“ So berichtet es der „Focus“ an diesem Wochenende. Hamburgs Behörden konnten damals keinen Zusammenhang herstellen. Wegen der Erpressung bekam Martin N. im Oktober 2006 zehn Monate auf Bewährung.
Michael W. musste wegen Kindesmissbrauchs eine Haftstrafe von acht Jahren antreten. Er hatte Jungen in seinem Jugendclub missbraucht, oft, nachdem er mit ihnen in einer Saunalandschaft gewesen war. Er verging sich an den Kindern bei Campingfahrten an die Ostsee, bei Reisen in die Tschechische Republik, in der Wohnung eines anderen Päderasten in München. Er hatte seine Opfer auch fotografiert, Aufnahmen seines Neffen ins Internet gestellt, auf seinem Rechner waren Tausende Bilder.
„Knäblein auf der Heiden“
2007 überprüften die Ermittler der Soko Dennis Martin N. Er erzählte ihnen etwas. Nicht die Wahrheit. Das war's: Verdacht ausgeräumt.
Ende des Jahres stellten die Behörden das Ermittlungsverfahren wegen des „Verdachts des Besitzes und Verschaffens kinderpornographischer Bilder“ ein. Sie konnten nicht feststellen, wann Martin N. zuletzt im Katalog geblättert hatte. Die Staatsanwaltschaft Hamburg informierte den Arbeitgeber von Martin N. über das Ermittlungsverfahren. Die Jugendhilfe entließ daraufhin den „freundlichen, engagierten und kompetenten Mitarbeiter“. Martin N. wehrte sich nicht gegen die Entlassung. Aber er wehrte sich gegen die Abgabe einer freiwilligen DNA-Speichelprobe. Er ging einfach nicht hin.
Martin N. fing an, in der Erwachsenenbildung zu arbeiten. Häufig saß er abends bei geöffneten Vorhängen in seinem Arbeitszimmer am Computer. Er hielt sich unter anderen in einem Internetforum auf, das sich nach eigenem Bekunden dem Ziel verschrieben hat, „pädophil empfindenden Menschen eine Plattform zu bieten, auf der sie ein stabiles Selbstbild aufbauen und Werte für einen menschlich verantwortlichen Umgang mit ihrer Sexualität lernen können“. Martin N. schrieb dort: „und ist das Feld einst abgemäht, GerdX zum nächsten Knaben geht“ und „Und der wilde GerdX brach's Knäblein auf der Heiden; Knäblein wehrte sich und starb, Half ihm doch kein Weh und Ach, Musst es eben leiden. Knäblein, Knäblein, Knäblein tot, Knäblein auf der Heiden.“
Was hätten die Nachbarn denken sollen?
Mit seinen Nachbarn sprach Martin N. nicht viel. Er ließ sie in Ruhe, und sie ließen ihn in Ruhe. Zwei-, dreimal in der Woche holte er sich abends beim Kiosk an der Ecke Rotwein, manchmal Bier, manchmal Süßigkeiten. Er sagte freundlich „hallo“ und ging wieder in seine Wohnung. Eine Frau sahen die Nachbarn nie bei ihm. Dafür parkte immer mal wieder ein Mann seinen Kombi mit Berliner Kennzeichen vor dem Klinkerhaus an der Jägerstraße. Auf der Rückbank zwei, drei kleine Jungen mit Fußballschals um den Hals. Nachbarn dachten, die Männer wollten mit den Jungs ein Fußballspiel schauen oder Fußball spielen. So sagen die Nachbarn es jetzt. Sie fragen: „Was hätten wir denn denken sollen?“
Anfang 2011 erinnerte sich ein Mann, der 1995 als Zehnjähriger in seinem Kinderzimmer von dem schwarzen Mann missbraucht worden war, an eine Ferienfreizeit in einem Schullandheim wenige Monate vor der Tat. Dort hatte ein Betreuer ihn über die elterliche Wohnung ausgefragt. Das Opfer erinnerte sich auch an den Namen des Betreuers: Martin. Der schwarze Mann hatte nun einen Namen.
So kam die Soko Dennis auf Martin N. Ermittler überwachten ihn. Sie schlugen am 13. April zu, als Martin N. wieder einmal Besuch erwartete. Ein Mann und ein kleiner Junge wollten zu ihm kommen. Martin N. gestand die Morde an Stefan Jahr, Dennis Rostel und Dennis Klein. Auch gestand er, zahlreiche Jungen missbraucht zu haben. Die Soko prüft, ob er für weitere Taten verantwortlich ist.
Text: F.A.S.
Bildmaterial: Henning Bode
http://www.faz.net/s/RubCD175863466D41BB9A6A93D460B81174/Doc~E5ED9675991E04AD69436711F87832B55~ATpl~Ecommon~Scontent.html (Archiv-Version vom 29.04.2011)