Mordfall Hinterkaifeck
17.11.2012 um 19:55
Einige Gedanken zur Vernehmung des L.S. durch Kriminalinspektor R. am 30. März 1931 in München.
(Zit. nach der Verschriftung HinterkaifeckWiki - von mir anonymisiert.)
Zunächst die Vernehmung zur Person –mehr als die reinen Personalien- weil eine breit angelegte Vernehmung konzipiert war. Sehr breit. Der Vater ist mit der Mutter zeitweilig aus dem Austrag ausgezogen, weil es Streit um Geld gab, das der Vater gerne vertrunken hat. [Ja aber der Austrag war doch deren Altersversorgung, wurde dann Unterhalt von L.S. bezahlt ?]
Die erste Ehe. Die Schwiegereltern sind mit der ersten Frau bei ihm eingezogen. Seine Schwiegermutter (jetzt 84) lebt noch und wird von L. S. versorgt, obwohl „sie ihn nichts angeht.“
Tod der ersten Frau 1918.
Die zweite Ehe.
1921 zweite Heirat nach etwa 3 Wochen näherer Bekanntschaft. „Weil ich in meinem Haushalte eine Frau benötigte.“
Zur finanziellen Situation 1921 : das Anwesen ist schuldenfrei, obwohl in den Jahren zuvor nahezu vollständig neu gebaut . „…Ich selbst habe damals kein Geld gebraucht und habe deshalb die 8.000 Mk., die meine Frau als Heiratsgut mitbrachte, auf meine 4 Kinder verteilt.“
[Ein deutlicher Hinweis des Zeugen darauf, dass er vor dem Mord in HK keine Geldsorgen hatte, ja sogar Geld ohne Rechtsverpflichtung an die Kinder verteilt werden konnte, was in der Inflation sicher sinnvoll war.
Wie das alles erwirtschaftet werden konnte wird nicht gefragt, dürfte nach so langer Zeit schwer rekonstruierbar gewesen sein aber ansprechen hätte man es ja mal können.]
Weiter:
„Die Eheleute Gr. hatten mehrere Kinder, von denen aber nur 1 Tochter, die V. am Leben geblieben ist...Die Kinder sind wohl alle gestorben, weil sie keine Pflege hatten und auch nicht genügend ernährt wurden. Ich selbst und auch mein Vater hatten öfters erlebt, daß die kleinen Kinder tagelang im Keller bleiben mußten und wenn man vorbeiging, hörte man die Kinder im Keller weinen.“
[ Da hätte R. jetzt schon mal nachhaken dürfen, wo am Hof man sich denn aufhalten mußte, um die Kinder überhaupt im Keller weinen hören zu können. Der Zeuge muß merken, dass er nicht unhinterfragt bleibt.
Aber vielleicht, war es gut, dass er den Zeugen nach dessen eigener Dramaturgie hat einfach reden lassen, denn jetzt kommt es nahtlos und überraschend früh:]
„Ich sag’s ganz offen, die Leute waren nicht gut, da hat der Herrgott schon die rechte Hand am rechten Platz gehabt.“
[Also das wird jetzt sogar zu einem Zeitpunkt eingeführt, als in der Vernehmung von Blutschande noch gar nicht die Rede war. Das ist m. E. eine typische Situation, in der in einer Aussage vom Vernommenen versucht wird, das Heft des Handelns auf seiner Seite zu behalten, indem der Zeuge von sich aus einen wunden Punkt anspricht, der ihm früher oder später ohnehin vorgehalten worden wäre.
R. hatte das auf seiner Liste (vgl. sein Bericht vom Februar 1931). Und L.S. ahnte das. Er stand auch inhaltlich zu seinem Wirtshausspruch. Deshalb wartet er auch gar nicht ab, bis das Wort Blutschande überhaupt mal ausgesprochen ist. Er zieht sein Verdikt vorsichtshalber gewissermassen vor die Klammer, das mußte jetzt schon raus. Er hat nichts zu verbergen - das ist das Signal.
Egal ob bloß bayrisches Lokalkolorit oder etwas anderes dahintersteckt - fragen muß man da schon mal. Und ich mags kaum glauben: R. lässt jetzt seine Chance ungenutzt durchgehen, mit L.S. eine Fragerunde zu beginnen. Ihn zur Abwechslung mal beim Wort zu nehmen - wie er denn dazu komme und überhaupt, warum er sich das zutraue so zu urteilen. Wie das denn mit seinem christlichen Glauben zu vereinbaren sei, die christliche Religion sei doch eigentlich auf Nächstenliebe und Vergebung aufgebaut.
Und wie sich das insbesondere mit den zwei Kindern und der Magd verhält, die ja doch völlig unschuldig waren, ob die ihm nicht wenigstens leid tun und warum die seiner Ansicht nach um Gottes Willen halt auch sterben mußten und Cilly auch noch so qualvoll. Und überhaupt warum die seiner Ansicht nach sterben mußten. Ob der Täter damals nicht vielmehr eine Riesenschuld vor Gott und den Menschen auf sich geladen habe.
Alles was man schon in der Wirtschaft in Gr. bei diesem Spruch ihm hätte entgegenhalten müssen – einfach ihn mal beim gesprochenen Wort nehmen - und R. tut nichts dazu. Das war damals schon eine zynische selbstgerechte Äußerung von L.S., so wie auch heut noch, egal ob auch noch andere so gedacht haben mögen.
Bei der geplanten Erstreckung der Vernehmung auf zwei Tage, hätte mindestens 1 Stunde auf dieses Thema entfallen müssen, um L.S wenigstens mal zu einer geäußerten Anteilnahme zu bringen. Wer weiß, was dann passiert wäre.
Stattdessen darf L.S. jetzt übergangslos zu V.G. übergehen. Seit wann er sie kennt und wie und wann er in geschlechtsvertrauliche Beziehungen mit ihr eingetreten ist.]
“Die V. G. war überhaupt für den Geschlechtsverkehr leicht zu haben.“
[Das mag ja nach seinen eigenen unwiderleglichen Angaben bei ihm so gewesen sein. Hier hätte gefragt werden müssen, meinen Sie das nur auf ihre Person bezogen oder wissen Sie auch von anderen Fällen mit anderen Männern, ggf. Namen, bei denen man diesen Eindruck gewinnen konnte ? Die Magd Rieger hatte in ihrem Protokoll solches für den Zeitraum, zu dem sie in HK war jedenfalls nicht bestätigt.
R. läßt nahezu jede Situation ungenutzt, L.S. endlich mal aus einer m. E recht selbstgerecht anmutetenden Attitüde herauszuholen.]
Weiter:
"Frage: Sie haben früher angegeben, daß Sie 5000 Mk. Von Gruber bekommen haben?
Antwort: Halt, Halt, jetzt fällts mir ein, ich habe 2000 Mk. in Bargeld bekommen und außer-dem 3000 Mk. Bayerische Hypotheken- und Wechselbankpfandbriefe, damit ich Geld habe, wenn Auslagen kämen. Diese 3 Pfandbriefe habe ich der Gabriel auch nach einigen Monaten wieder retour gegeben.“
[Jetzt hätte ihm vorgehalten werden müssen, wieso denn der Anteil „damit ich Geld habe, wenn Auslagen kämen“ nach dem Kurswert so hoch war und was damit gemeint war. Gerichtskosten wären doch, wenn überhaupt dann ganz geringfügig gewesen. Unterhaltsabfindung 1800.- - / Auslagen mehr als das doppelte 3000.- wie kommt das ? Da liegt doch der Verdacht nahe, dass L.S. sich die Vaterschaftsanerkennung hat bezahlen lassen. Ein solches mögliches pekuniäres Motiv hatte R. doch selbst in seinem Bericht vom Februar 1931 noch dargestellt.]
"Frage: Haben Sie nun eigentlich selbst das Empfinden, daß sie der Vater des Kindes der V. G. sind?
Antwort: Das weiß ich nicht, das kann ich nicht sagen."
[Das wars dazu. Wars das ? In seinem Bericht vom Februar 1931 hatte R. doch noch geschrieben: "Eines scheint mir jedenfalls festzustehen: S. hielt sich selbst nicht für den Vater des Kindes."
Hier hätte doch jetzt –nach Hinweis auf ein mögliches Auskunftsverweigerungsrecht – zwingend die Frage kommen müssen, ob er bevor er die Vaterschaft anerkannt habe, denn wenigstens mal die gesetzlichen Empfängniszeiten der V.G. bzgl. Josef nachgerechnet habe, ob er denn von daher überhaupt der Vater hätte sein können, oder ob er die Zahlvaterschaft einfach übernommen habe, weil er auf spätere Heirat hoffte. Der Hanserl oder Buberl Vorhalt ist dagegen doch nachrangig und war leicht zu entkräften. Wahrscheinlich stimmte das auch was L.S. dazu sagte.]
Jetzt zur Kehre des L.S.:
„Frage:
Herr S., sind Sie vernünftig und sagen sie die Wahrheit, sie haben sich doch wegen der Vaterschaftssache furchtbar geärgert?
Antwort:
Freilich hab ich mich grün und blau geärgert über die Vaterschaftssache, mein Bub hat mir Vorwürfe gemacht...
(S. besinnt sich; dann erklärt er:
Es ist nicht richtig, dass ich mich geärgert habe, ich hab mich mein Lebtag noch nicht geärgert, dass ich auf jemand einen Hass gehabt hätte. Die ganze Gemeinde bezeichnet mich als guten Mann.“
[Hier zeigt sich bei L.S. erstmals, dass auch er nicht stressresistent ist. Er bekommt den ersten strengen Vorhalt von R. und kriegt nach meiner Einschätzung prompt die Kurve nicht. Er hätte nur sagen brauchen: Freilich hab ich mich grün und blau geärgert über die Vaterschaftssache -aus - warten ob R. nachfasst. Das ist doch normal, wer würde sich da nicht grün und blau ärgern. L.S tut jetzt zur (m. E. unnötigen) Korrektur zu viel und übersteuert damit in den roten Bereich der Unglaubwürdigkeit.
Hier muß R. nachfassen, diese Kehre darf er doch nicht ungenutzt lassen, wenn er mehr hören will von L.S., als er ohnehin schon weiß. Nach Hass war doch gar nicht gefragt worden. Was für Vorwürfe wurden ihm gemacht, warum, die Unterhaltsabfindung war doch beglichen. Seit wann darf in Liebesdingen ein versorgter Minderjähriger bei schuldenfreiem Hof seinem Vater reinreden. Erbberechtigt war der kleine J. doch nicht.
R. muß L.S. jetzt langsam auch mal an die Erkenntnis heranführen, dass die Eigenwahrnehmung nicht so ganz der behaupteten Fremdwahrnehmung in der Gemeinde entspricht. Worunter hatte er denn in den letzten Jahren zu leiden gehabt, waren das alle Gemeindefremde, die ihn verdächtigt haben ? Beim Wort nehmen !].
Weiter:
„L.S. erzählt nun Einzelheiten über die seinerzeitige Auffindung der Leichen u.s.w.. Seine Angaben decken sich vollkommen mit seinen seinerzeitigen Angaben, weshalb von der nochmaligen Niederschrift abgesehen wurde.“
[Was heißt „seinerzeitigen Angaben“ ? Wer in einem amtlichen Protokoll Bezug nimmt, muß auch tüpfelgenau angeben, auf was er Bezug nimmt. Und wenn es dem Vernehmer nicht gerade geläufig ist, muß er halt nachschlagen. Wie oft wurde er überhaupt vernommen? Es sind neun Jahre her. Wir sind im Jahr 9 nach der Tat mit all dem angefallenen Material.]
„Frage: Sie haben erklärt, sie hätten die vordere Haustür dann von innen geöffnet und zwar mit dem Schlüssel, der innen gesteckt habe. Wie erklären sie sich das, nachdem der alte Gruber erzählt hatte, daß ihm der Hausschlüssel weggekommen sei und daß er nun nur noch mit dem Riegel absperren könne?
Antwort: Das ist mir selbst ein Rätsel, denn ich weiß bestimmt, daß nur ein Schlüssel da war.“
[Das klingt sehr ehrlich, denn er hätte leicht erklären können - sicher hat Gr. halt den Schlüssel wieder gefunden gehabt, oder es gab doch einen weiteren. ]
„Frage: Es ist auch erzählt worden, dass Sie zur Tatzeit nachts nicht zu Hause waren, sondern angeblich im Heu geschlafen haben?
Antwort: Wie nur die Leute so etwas sagen mögen, davon mag ich gar nichts hören. Es ist ja nicht wahr, ich bin bei meiner Frau gewesen. „
[Ich mag nicht glauben, dass das Alibi vor der Vernehmung nicht auch über seine Frau geprüft worden war – dafür war jahrelang Zeit. Sie mag ja von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht haben, aber gefragt worden mußte sie doch sein. Wenn doch nein, und L.S. kannte ihr mutmassliches Aussageverhalten nicht, dann war es riskant seine Frau überhaupt zu erwähnen. Dann hätte er sich besser neutraler ausgedrückt. Vielleicht stand dazu was in der Sonderakte.]
Es folgen Fragen u.a. nach den Spuren im Schnee, nach den Verdächtigungen durch Siegl, Dersch, zu Yblagger usw. , zu denen ich nichts hinsichtlich des Vernehmungsablaufs anzumerken habe .
Dann für mich überraschend schnell:
„Anschließend an die Einvernahme wurde S. noch auf die an einzelnen Punkten zu Tage getretenen Unklarheiten seiner Aussagen hingewiesen. Er brachte jedoch seine Antworten in einer Weise vor, daß berechtigte Zweifel an seiner Täterschaft entstehen mußten. Wiederholt beteuerte er unter Tränen seine Unschuld, erklärte, daß er sehr wohl wisse, daß er in der dortigen Gegend als Täter angesehen werde und betonte, daß dies in erster Linie auf sein tatkräftiges Eingreifen als Ortsführer und auf seine Hilfsbereitschaft zurückzuführen sei. Er habe sich eben aus menschlichen Gründen um alles angenommen, habe sich aber nun nach den gemachten Erfahrungen zum Vorsatz gemacht, nie mehr in so selbstloser Weise einzugreifen.“
[Mit dieser Verfahrensweise kann ich gar nichts anfangen. Wieso wird jetzt nicht zu Protokoll erörtert, auf welche „Unklarheiten in seinen Aussagen“ hinzuweisen war und wie diese ggf. beseitigt werden konnten. Stattdessen „anschließend an die Einvernahme“ und ausserhalb des Protokolls ?
Weinen und Beteuerungen, Art und Weise des Vorbringens sind nur ganz weiche Indizien dafür, dass Zeugen die volle Wahrheit gesagt haben, sie können Inhalte nicht ersetzen.
Was nützen für die Fallaufklärung „berechtigte Zweifel an seiner Täterschaft“ - die ich dem R. ja ohne weiteres abnehme - wenn die vorangegangenen Tatsachenermittlungen erheblich defizitär waren.
Für mich ist unklar, warum war eigentlich OStA K. als Herr des Verfahrens nicht selbst bei der Vernehmung dabei ? Die Bedeutung des Falles hatte sich doch auch angesichts der Unruhe in der Bevölkerung längst abgezeichnet.
Gut, man mag mich jetzt auf die nicht mehr vorhandene Sonderakte S. zur Lückenfüllung hinweisen. Aber gerade deshalb habe ich im wesentlichen Themenkomplexe erörtert, die ich auch für 1931 noch offen halte, auch weil sie keinen Niederschlag in der Hauptakte gefunden haben und die noch im Februar 1931 für den Kriminalinspektor R. selbst im Memorandum offen und erwähnenswert waren. Und der kannte schließlich alle Akten.