Ach du meine Güte. Ich muss sagen, als Jurist, der sich sehr für Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte interessiert, finde ich das Argument der Verteidigung hoch interessant. Es geht um einen fundamentalen Grundsatz des Verfassungsrechts in Idaho. Es ist aber auch ein extrem mutiges Argument, denn Jay Logsdon argumentiert hier, wie er selbst im Antrag schreibt, "gegen die bisherige Rechtsprechung:"
That said- the Defense recognizes that the whole of modern jurisprudence on this issue is against it, as well as at least one founding father of this state.
Quelle: Motion to dismiss 07/25/2023
Ich will mal versuchen, zusammenzufassen um was es geht, aber es handelt sich hier um eine Frage der Interpretation von Verfassung und Strafprozessrecht, die tief in die Geschichte des Rechts in Idaho, den USA und England geht.
Die Verteidigung sagt, dass die Grand Jury in diesem Verfahren hier angewiesen wurde, den falschen Beweisstandard anzulegen.
Wie Leser meiner Beiträge wissen, gibt es verschiedene Beweisstandards, in Deutschland z.B. den Tatverdacht, den hinreichenden Tatverdacht, den dringenden Tatverdacht und so weiter. In den USA gibt es zwei fundamentale standards: Eine Verurteilung wegen einer Straftat darf nur geschehen, wenn die (petit) jury von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist, "jenseits aller vernünftigen Zweifel (beyond any reasonable doubt.)" Daraus abgeleitet gilt der bekannte Rechtsgrundsatz: "in dubio pro reo," im (vernünftigen) Zweifel für den Angeklagten."
Für eine Festnahme des Beschuldigten durch die Polizei, für Durchsuchungen und auch für die Anklageerhebung aber gilt ein schwächerer Standard, der des "hinreichenden Tatverdachts (probable cause)."
So lernt man es, so kennt man es, so haben auch viele Gerichte geurteilt.
Die Verteidigung sagt nun, in Idaho ist das ein fatales Missverständnis. Es ergebe sich aus der langen Geschichte der "grand jury," angefangen im England des 12. Jahrhunderts, dass der Standard für die Anklageerhebung durch die grand jury der Standard "jenseits aller vernünftigen Zweifel" sein muss.
Da die Grand Jury hier falsch angewiesen wurde, nämlich, dass ein hinreichender Tatverdacht ausreiche, müsse man die Anklage also ungültig erklären.
Soweit der auf vielen Seiten, sehr geschichtlich argumentierte Antrag der Verteidigung.
Sie gibt zu, dass selbst wenn das Gericht ihrem Antrag folgt, die Anklage nicht vom Tisch ist, sondern dass dann eben doch ein "presentment" vorliegt, eine Besonderheit des Rechts von Idaho, und dass der Angeklagte dann das Recht auf ein "preliminary hearing" habe. Dazu hatte ich ja schon zuvor geschrieben, im prelim hat der Angeklagte das Recht eigene Zeugen vorzuladen und vor allem Zeugen der Staatsanwaltschaft zu vernehmen. Das hat er nicht im Verfahren vor der Grand Jury.
Der Antrag ist meiner Meinung nach sehr spannend und könnte historisch etwas für sich haben, hat aber meiner Meinung nach einen Grundfehler: wenn der Beweisstandard in der Grand Jury tatsächlich "beyond reasonable doubt" wäre, würde das Verfahren vor der Grand Jury eigentlich eine volle Hauptverhandlung sein müssen. Das ist es aber logischerweise nicht. Daher ist der Antrag unlogisch.
In diese Richtung ging auch die Rechtsprechung in den letzten 200 Jahren, wenn immer mal so ein Argument vorgebracht wurde.
Wie gesagt, ein juristisch ambitionierter Antrag, aber ich glaube nicht, dass das Gericht dem folgen wird. Allerdings kann ich hier sehen, dass beide Seiten das Thema notfalls bis zum obersten Gericht fortführen werden, was das Verfahren gegen Kohberger sehr verzögern könnte, oder einer Revision Tor und Tür öffnen könnte. Daher halte ich es auch für denkbar, dass am Ende doch ein prelim herauskommen kann.
Man wird sehen. Einfallsreich scheint die Verteidigung jedenfalls zu sein, was man nicht immer bei Pflichtverteidigern erlebt.