1. Ein Indizienprozeß in einem Mord/Totschlagsfall ohne vorweisbare Leiche als eigentliches "corpus delicti" gehört grundsätzlich zu den durchaus schon erprobt gelösten Aufgaben einer Staatsanwaltschaft / eines Schwurgerichts.
2. Käme aber noch hinzu, daß gesicherte naturwissenschaftlich-gerichtsmedizinische Belege für einen Todeseintritt fehlen, wird es schon recht schwierig - ist aber immerhin in der Praxis nicht völlig ungewöhnlich. vgl. etwa
https://www.allmystery.de/themen/km136934-3821#id24842537
Der aus 5 Richtern (drei Berufsrichtern und 2 Schöffen) bestehende Spruchkörper muß im Ergebnis der Hauptverhandlung wegen Mordes oder Totschlags bei fehlender Leiche bei einer Verurteilung im wesentlichen zur Überzeugung gelangt sein,
a) daß eine vermißte Person überhaupt tot ist und nicht etwa nur abgängig.
b) daß ein bestimmter Täter diese Person vorsätzlich getötet hat (Totschlag) und ggf. sogar die tatbestandlichen Merkmale eines Mordes vorliegen.
Für andere Deliktsformen wie etwa Körperverletzung mit Todesfolge oder fahrlässige Tötung liegen prinzipiell die gleichen Probleme vor a) ein Mensch ist nach sicherer Überzeugung des Gerichts tot und b) ein bestimmter Täter trägt daran nachgewiesen eine zu bestimmende Schuld.
Im normalen Mord/Totschlagsprozeß gibt es eben eine Leiche, womit die Lösungsprobleme zu a) schon mal entfallen.
3. Kommt dann aber noch weiter hinzu, dass zusätzlich in einem Verfahren kein substantiierbares Motiv benannt und dargelegt werden kann - sondern sich das Gericht bestenfalls in Alternativen bewegen müsste, warum die Tat überhaupt begangen wurde - steigen die Schwierigkeiten weiter. Man bräuchte für einen Totschlag zwar nicht zwingend die Feststellung eines bestimmten Motivs - aber wenn das "warum" bei den bereits genannten Problemen auch noch als kaum eindeutig greifbar dazu kommt, kann es alles zusammen genommen zur unlösbaren Aufgabe führen, einen hinreichend verdächtigen Täter auch zu verurteilen.
4. Dann erst folgt der zweite aber nicht minder schwere Teil der Überzeugungsbildung : vernünftige entlastende Alternativen zu dem ggf. in einer Anklage vorgetragenen Sachverhalt, müssen zur Überzeugung des Gerichts und nachprüfbar für den BGH ausgeschlossen werden.
Wenn es sich wie hier bei der Verschwundenen um ein 15jähriges Mädchen in einem insoweit kritischen Alter handelt, will ich selbst schon mal gar keine Küchenpsychologie betreiben.
Es können zwar einem jugendpsychiatrisch erfahrenen Psychiater ggf. schon im Ermittlungsverfahren die vielen dokumentierten Lebensäußerungen in den social medias von R. zur Begutachtung vorgelegt werden.
Er wird die Aussagen aller mit ihr vertrauten Personen zu ihrem Verhalten in der Vergangenheit, sowie in der wichtigen Phase vor dem Verschwinden ausführlich und tabulos prüfen.
Er wird, falls auch die zeugnisverweigerungsberechtigten Personen sich ehrlich und zusätzlich umfassend zeugenschaftlich einbringen, zu validen Ergebnissen kommen können - was insbesondere die Ausschlußdiagnosen Suizid oder "runaway teen" anbetrifft. Dem werden sich die StA/Kammer nach eigener Überprüfung dann weitgehend anschließen können. Das Gutachten wäre dann ggf. sicheres Terrain für das Gericht.
5. Aber was ist mit weiteren Varianten: Der Psychiater als Gutachter wird kaum etwas dazu beibringen können, ob nicht irgendein Hirni sie von der Strasse weggeschnappt hat... Oder R. etwa mit Versprechungen in eine ggf. tödliche Falle gelockt wurde. Allerhöchstens zu der Frage ob R. zu letzterem nach ihrer Persönlichkeitsstruktur in gutgläubiger Art anfällig gewesen könnte.
Solche alternativen Ursachen, die zu ihrem Verschwinden geführt haben könnten, muß die Kammer mit vernünftigen Argumenten in der Beweiswürdigung aber ggf. ausschließen können. Wie denn ? Die bloße nachrichtenlose Abwesenheit für sich gesehen - ohne starke anderweitige Indizien - halte ich für vage. (Da muß man sich nur einmal die jahrelangen Fristen für sog. Todeserklärungen nach dem Verschollenheitsgesetz anschauen, wenn nicht die Ausnahmen Flugzeugabsturz, Schiffsuntergang oder Aufenthalt in Kriegsgebieten anzunehmen sind.)
Je weniger zu 1. 2. 3. 4. 6. im Hinblick auf den Tatverdächtigen festgestellt werden kann, desto schwammiger bis aussichtslos kann es hier werden. Deshalb muß dieses Netz zunächst einmal weiter verdichtet werden und wird es auch. Da bin ich mir sicher.
6. Insbesondere die Routerdaten, das Telekommunikationsverhalten samt Inhalten, die Abweichungen zum erwartbaren Verhalten von R. an jenem Morgen, haben bisher ! nicht bzw. nur kurzfristig zum dringenden Tatverdacht gegen den Verdächtigen geführt. M.E. bezieht sich der fehlende
dringende Tatverdacht auch auf die Annahme, dass R. das Haus nicht selbständig und/oder lebendig verlassen haben dürfte und nur ein Zuordnungsproblem zu einem bestimmten Täter vorliegt, wie einige hier wollen, - sonst wäre nach meiner Auffassung der Haftbefehl nicht schon nach drei Wochen wieder aufgehoben worden. Diese Feststellung der StA kann deshalb m. E. das Vorweisen des "corpus delicti" Leiche (noch) nicht ersetzen. Es wäre nach wie vor für die Feststellung des in einer Anklage wegen Mordes oder Totschlags ja vorausgesetzten Todesfalls natürlich der Fund der Leiche von höchster Priorität. Denn es geht hiermit erst einmal um den Ausschluß des naheliegenden Einwandes, man könne ja nicht wissen ob R. überhaupt tot sei.
Erst in zweiter Linie geht es darum, ob sich anhand einer Leiche Spuren zum Tathergang finden lassen.
7. Ermittlungsverfahren müssen, wegen der Belastungen für einen Tatverdächtigen zügig geführt werden. Das folgt auch aus dem ggf. einklagbaren Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Da es sich derzeit aber um keine Haftsache handelt gibt es grds. keine normierte kalendarische Begrenzung. Hinweise müssen adäquat zu den zur Verfügung stehenden sächlichen und persönlichen Mitteln nach Priorität zügig und ohne unangemessene Verzögerungen abgearbeitet werden - und werden sie auch, soweit für den Bürger ersichtlich.
Ich glaube ferner nicht, dass die Ermittlungsbehörden in der Zwischenzeit seit der letzten Haftentlassung jetzt doch einen dringenden Tatverdacht hinsichtlich eines Tötungsdelikts erarbeiten konnten. Es wäre m. E. in diesem Falle zu riskant einem dringend verdächtigen mutmaßlichen Kapitalverbrecher aus taktischen Gründen völlig seine Bewegungsfreiheit zu lassen, wenn man die Alternative einer erneuten Verhaftung hätte.
8. Gelingt das alles nicht kann es m. E. nicht zur Anklage kommen oder die Anklage wird bekanntlich voraussichtlich mangels Verurteilungswahrscheinlichkeit nicht zugelassen. Das kann auch den Grund haben, daß man sich im Einzelfall auch mal an einem falschen Tatverdächtigen abgearbeitet haben könnte. Die Verjährungsfristen sind aber entweder nicht existent, sehr lange oder kürzer - je nach zugrundeliegendem Delikt. Und auch einmal nach § 170 II StPO eingestellte Ermittlungsverfahren können wieder aufgegriffen werden.