brigittsche schrieb: Das sind sehr interessante Gedanken! Ich frage mich auch, was letztlich zu seiner Situation geführt hat, denn zumindest aus den Informationen die wir haben, und die ja sehr gefiltert sind, lässt sich das nicht entnehmen. Wenn es keine psychischen Probleme, Suchterkankungen o. Ä. gibt, dann ist diese Situation nicht recht erklärbar.
So, wie er dargestellt wurde, hat man das Gefühl, die Sesshaftigkeit war praktisch zum Greifen nah. Dennoch lebte der Mann jahrelang auf der Straße. Da fehlt ein Puzzlestück. Die Frage ist, ob es genau das Puzzlestück ist, das nun auch zum Mord fehlt. Dass es eine Seite, ein Aspekt gibt, der den bürgerlichen Freunden, die sich gemeldet haben, nicht bekannt war und die daher zu dem schrägen Bild führen, was man hat.
SherlockJames schrieb:Hass oder noch öfter Verachtung gegenüber Obdachlose gibt es leider zu oft aber was hier mMn. zum Problem wird ist, dass Straten nunmal nicht der stereotype "Penner" war, der in Lumpen gekleidet, besoffen Leute anbettelte und in irgendeinen Hauseingang schlief. Da fällt es selbst einen Obdachlosenhasser warscheinlich schwerer, ihn als Abschaum zu identifizieren.
Wenn er den Obdachlosenhass am Wohnort bzw. Übernachtungsort festgemacht hat, dann weiß er ggf. gar nicht, dass er keinen "stereotypen Penner" ermordert hat. Man weiß ja auch nicht - ließ Straten dort Dinge zurück - er ging ja sicher nicht mit Rucksack etc. durch die Stadt und ins Biocafé. Ließ er sie einfach da? Teilweise da, teilweise im Bankschließfach? Er ist eventuell auf den Ort aufmerksam geworden, ohne die Person Straten zu kennen?
SherlockJames schrieb:Dem sah man seine Obdachlosigkeit doch garnicht an, wenn man ihn nicht gerade auf dem Friedhof schlafen gesehen hat. Und wie wir beide übereinstimmen, verbarg er seine Situation und lebte nach außen hin bürgerlich.
Die Situation, die bekannt ist. Es werden sich primär die bürgerlichen Zeugen gemeldet haben. Vielleicht gab es noch eine ganz andere Seite und einen ganz anderen Bekanntenkreis, von denen man nichts weiß, wo auch die Motivlage zu suchen ist.
SherlockJames schrieb:Ich war das letzte mal vor zig Jahren auf einen Friedhof und das war tagsüber. Herr Straten wird da ja nicht den Großteil seines Tages verbracht haben, sondern nur zum Schlafen, somit werden ihn nicht viele registriert haben.
Koblenz ist nun nicht so groß - wenn man in speziell gesucht hat, hätte man ihn schon finden können, zumal er ja seinen Schlafplatz nicht geändert hat. Er wird schon einen einigermaßen gleichen Ablauf gehabt haben, d.h. möchte ich auf ihn warten, verstecke ich mich eben an der Festung und warte - ob er nun um 18 Uhr, 20 Uhr oder 22 Uhr zum Schlafen kommt, ist ja dann zweitrangig.
Bzw. der Täter hat ja ohnehin gewartet, bis er geschlafen hat - vielleicht schon mal davor vorbeigeschaut. Irgendwann machen auch die Biocafés und Zockerbuden zu, daher wird er schon eine Zeit gehabt haben, wo er da sicher anzutreffen war.
SherlockJames schrieb:Er war ja salopp gesagt Solo Selbstständig und machte genug Geld, um sich Transporter zu leasen, im Biomarkt einzukaufen, im Cafe zu sitzen, seine Mitgliedsgebühr für die Bibliothek zu zahlen und sogar in der Automatenspielothek zu zocken.
Man weiß nicht, wie viel davon Fassade und "Show" war - du hast ja auf dem Friedhof keine Wärme, kein Licht. Auch mit gutem Schlafsack ist es außerhalb diesen total ungemütlich. Das kennt man von Regentagen beim Camping. Man liegt in seinem Schlafsack, alles andere wird klamm und wartet auf besseres Wetter. Und da war es März.
Eine Bibliothek kostet monatlich 2-3€ Mitgliedsbeitrag, die Spielothek kann er auch dazu benutzt haben, Wärme zu tanken, ein kostenfreies Heißgetränk zu bekommen, den Abend kostenfrei oder billig zu verkürzen (die Nächte waren ja recht lang und unwirtlich). Er wird auch mit dem Transporter kein Vermögen erzielt haben. Es ist ja auch so, dass ihm auf dem Friedhof jede Infrastruktur fehlte: Kochen? Abwaschen? Da war es vermutlich einfach einfacher, den Kaffee to go zu holen.
SherlockJames schrieb:Eigentlich verrückt, wenn man bedenkt, dass manche ALG 2 Empfänger bescheidener leben müssen. Wenn er gewollt hätte, wäre er von der Straße weggekommen. Was hielt ihm also davon ab?
Ich glaube, du darfst dich von diesen Symbolen nicht leiten lassen. Er hatte ja viele Ausgaben nicht, die der normale Bürger hat (Miete, GEZ, etc. etc.). Dafür lebte er ein absolut minimalistisches Leben - draußen, ohne Besitz/ Rechte, praktisch geduldet, in einer wenig genutzten Ecke eines Friedhofs.
Der ALG2 Empfänger bezahlt eben auch Strom (den Straten nicht hatte), Heizung und andere Nebenkosten (die Straten nicht hatte), GEZ, ... und erhält dafür eine Bleibe, egal wie, sie ist mit Sicherheit besser als der Standard, den Straten für sich akzeptiert hatte.
Philipp54 schrieb: Das die Insolvenz nicht nur ein finanzielles Desaster war, ist schon seinen Bekannten und Freunden bekannt. Er war trotz privater und finanzieller Enttäuschung an Koblenz behaftet.
Vielleicht war er in dem Status auch "fossiliert" - es muss sehr schwer sein, wenn man durch die Straßen läuft und weiß "da habe ich mal gewohnt", "da wohnte Kunde X", "da war das Geschäft" - es muss ja sein, wie wenn man die Stadt durch Panzerglas sieht.
Vermutlich war die Perspektive "da möchte ich wieder hin" und auch Straten nahm es so wahr, dass er es wieder schaffen würde, daran anzuknüpfen - daher war vermutlich auch Koblenz so wichtig - er war "nicht fertig" mit dieser Stadt, er wollte wieder auf die andere Seite und in das andere Leben.
Und es gab etwas, dass ihn daran hinderte. Auch etwas, das ihn daran hinderte, Angebote der Wohnungslosenhilfe anzunehmen, andere Jobangebote anzunehmen ... Vielleicht hat er die Situation auch gar nicht akzeptiert? Es macht für uns ja auch rational keinen Sinn, weshalb er teures Bioessen aß, aber auf dem Friedhof nächtigte. Die meisten würden in der Situation Ravioli kalt aus der Dose löffeln und dafür eine bescheidene Kammer anmieten.
Philipp54 schrieb:Als nur "Gerede" abzutun, dass er sich wieder selbsständig machen wollte, bezweifle ich. Es kann sein, dass die Hürde dazu sein ganzen natürliches Leben lang zu hoch geblieben wäre.
Die Privatinsolvenz heißt ja nicht umsonst so - da geht es ja um Privatschulden. Wenn er nun noch Geschäftsschulden hatte - keine Ahnung, wie und ob auch diese liquidiert werden können? Ist man nach der Insolvenz noch haftbar? Wie lange?
Zudem: Nochmal durchzustarten war sicher nicht einfach. Die Schufa sprach bestimmt Bände. Die Bank hätte keinen Kredit gegeben. So eine Anschubfinanzierung für ein Geschäft (in dem er ja davor schon nicht erfolgreich war) war mit Sicherheit außerhalb des Möglichen.
SherlockJames schrieb:Je nachdem wie viel Hingabe und Herzblut in einem Geschäft steckt, kann die Insolvenz natürlich einem nicht nur den finanziellen Boden unter den Füßen wegziehen, sondern auch am Selbstbewusstsein und generell einem am Lebenssinn zweifeln lassen.
Ich habe das bei meinem Großvater gesehen: Er war Dorfbäcker. Das ist praktisch ein Beruf - aber auch ein sozialer Rang, schafft viele Sozialkontakte, ... Ein Großonkel war Bauer - bis er 90 war. Er hatte Angst, die Tiere aufzugeben, weil er dann nicht mehr auf den Viehmarkt konnte, nicht mehr fachsimpeln, nicht mehr zum Futtermarkt, nicht mehr mit dem Tierarzt quatschen ... Als Kleinselbstständiger hängt praktisch dein gesamtes Leben an deinem Job - ist der weg, fehlt dir so viel, dass du wirklich Angst hast.
SherlockJames schrieb:Dass er sich nicht vollkommen gehen hat lassen und weiterhin versucht hat sein Leben wie gewohnt, mit Kunst, Kultur und auch schon vorherigen Gewohnheiten weiter zu meistern, finde ich ehrenswert.
Auf jeden Fall. Andererseits kann das auch eine Flucht gewesen sein ... es gab bei uns an der Uni jemanden, der studiert hat, Hausarbeiten geschrieben etc - nur - er war so oft durch die Prüfung gefallen, dass er jeden Prüfungsanspruch verloren hatte. Was er tat, war also völlig sinnvoll. Er imitierte das normale Studentenleben, weil er sich der Tatsache nicht stellen wollte, dass er nicht mehr einer von uns war. Dass wir alle nach dem Examen arbeiten würden und er nie mehr würde Examen machen können ... so könnte es hier auch gewesen sein. Die Flucht vor der Wirklichkeit, die nicht als Wirklichkeit akzeptiert wurde.
SherlockJames schrieb:Der Lebensunterhalt, den er per Stütze bekommen hat, erklärt dann, plus den Einnahmen aus seinen Tätigkeiten dann auch, wie er finanziell überhaupt über die Runden gekommen ist. Dann brauch man schon mal nicht über halbillegale Tätigkeiten nachdenken, die ein Motiv für die Tat darstellen könnten.
Man müsste seine Verbindlichkeiten und seine Motivation kennen, so zu leben und das wenige Geld, was er hatte, so einzuteilen, wie er es tat. Die Frage ist, ob die Obdachlosigkeit Teil einer Strategie war, möglichst viel Geld sparen zu können, um z.B. alte Schulden zu tilgen. Die Antwort ist vermutlich nein, da er dann das Bioessen nicht gegessen hätte. Zudem hätte er mit einer festen Bleibe auch einem anderen geregelten Beruf nachgehen können und die Schulden schneller tilgen.
Philipp54 schrieb:Wenn er Leuten Geld oder Ware schuldete, die entweder weg oder verkauft sind, rechnet man ja nicht mit einer Enthauptung beim aufspüren seiner Person.
Wenn Schulden das Motiv waren: Es ist auch nicht damit zu rechnen, dass er ohne Mahnung gleich geköpft wird. Eventuell war es auch so, dass -wenn Schulden das Motiv waren- die Köpfung eine Drohgebärde an andere waren - seht ihr, was dem passiert ist? Wenn nicht x, dann machen wir das auch mit euch?
brigittsche schrieb:Ja, aber nochmal: Ein Trödelladen in der Altstadt von Koblenz verkauft keine Picassos für mehrere Millionen. Und wenn es irgendwo um Bilder auf diesem Niveau geht, dann werden da wirkliche Fachleute mit Expertisen beauftragt. Leute, die einen Namen und eine entsprechende Qualifikation haben.
Zumal - man muss es ja aussprechen, er auch in seiner Nische nicht erfolgreich war, sonst wäre es nicht zur Insolvenz gekommen.
inspektor schrieb:Vielleicht wählte ja Straten bewusst die Obdachlosigkeit, um sich den wütenden Gläubigern zu entziehen. Wenn er nicht greifbar war, machte das vielleicht noch wütender.
Das ist von daher unwahrscheinlich, weil er in der Stadt blieb und sichtbar blieb. Hätte er Angst gehabt, hätte er sich in jede andere Stadt absetzen können.