"Snapchat-Killer" Mordfall Liberty German & Abby Williams
24.04.2019 um 03:21
Da mich dieser Fall auch sehr bewegt möchte ich ein paar Kommentare abgeben zu den schon recht guten Kommentaren, die ich hier lese. Da ich schon seit Jahrzehnten in den USA lebe kann ich ein paar Hinweise zu den hier verwendeten Redewendungen usw. geben, die dem deutschen Beobachter vielleicht nicht ganz eingänglich sind. Und da ich relativ viel Erfahrung in Polizeiarbeit in den USA habe, diese PK auch in einen gewissen Zusammenhang setzen.
Zuerst zu den hier bemerkten Redewendungen:
1. "Hiding in plain sight" ist ein sehr gängiger Ausdruck und bedeutet, dass der Täter "unerkannt unter uns ist" ohne sich sonderliche Mühe zu geben, sich zu verstecken. Da wir gerade Ostern haben, vielleicht ein Beispiel: wenn ich ein Osterei im Kühlschrank im Eierfach unter ganz normalen Eiern verstecke, würde ich sagen "I am hiding it in plain sight." Ich verstecke es dort, wo es gerade deswegen nicht auffällt, weil es unter gleichen ist. Jeder, der den Kühlschrank öffnet, sieht es, aber nimmt es deswegen nicht wahr und entdeckt es deswegen nicht. Das ist die Auffassung der Ermittler, die ja auch noch mehrfach betont wird: der Täter ist hier, und benimmt sich ganz normal, wie einer von uns, und deshalb bemerken wir ihn nicht. Bisher suchte man unter anderem auch nach ortsfremden Tätern, nach Tätern, die durch irgendetwas auffallen, anders sind. Der neue Ansatz, von dem die Ermittler sehr überzeugt zu sein scheinen geht genau in die andere Richtung: der Täter ist einer von uns hier in der Gegend, er wohnte hier, er wohnt eventuell noch hier, er arbeitet eventuell am gleichen Arbeitsplatz wie wir usw.
Man will den Fokus eindeutig darauf legen: sucht nicht nach dem merkwürdigen, auffälligen Fremden, nein, es ist jemand, den wir eventuell alle kennen, usw. Wie oft sagen Menschen: nein, das kann nicht sein, ich würde das doch merken, wenn da so ein Mörder unter uns lebt. Die Ermittler sagen: genau das denken wir. Und sie machen das noch in einer anderen Redewendung klar: der Täter könnte sogar genau jetzt genau hier sein. Ich denke nicht, dass sie das konkret dachten, aber der Punkt soll allen klar werden: er ist nicht auffällig, er ist höchstwahrscheinlich einer von uns, ein Nachbar, ein Kollege.
Der Ermittler geht weiter, und das kennen wir z.B. auch aus Deutschland, im Katrin Konert Fall sagte der Chefermittler das ebenfalls: es ist gut möglich, dass wir Ermittler sogar schon Kontakt zu ihm hatten. Mit ihm gesprochen haben, oder eventuell mit einem Angehörigen des Täters. Auch das kennen wir ja, und oft heisst es dann hier im Forum: nein, das kann nicht sein, die wurden doch schon alle überprüft... Die Ermittler hier sagen ganz klar: denkt jetzt einmal ganz neu: jeder hier kann es gewesen sein, überlegt noch einmal, ob Euch an einem Kollegen, einem Nachbarn etwas aufgefallen ist...
Der "neue Ansatz" ist: wir suchen nicht mehr nach einem Fremden, wir meinen, auf grund aller Umstände, die wir ermittelt haben: der Täter hat enge Beziehungen zur Gegend hier.
2. Das "neue" Phantombild ist nicht neu, es entstand ebenfalls recht zeitnah zur Tat. Aber bisher haben die Ermittler dem nicht so vertraut. Und hier ist etwas, was ich anders verstehe als einige hier: der Polizeizeichner spricht m.E. nicht von einem tatsächlichen Augenzeugen, der den Mann gesehen und beschrieben hat. Er beschreibt generell, wie so ein Bild entsteht, und dass er sich ganz auf die Aussage eines Zeugen fokussiert, wenn er so ein Bild zeichnet. Es werden nicht die Beobachtungen mehrerer Personen in einem Bild vereint. Hier allerdings liegt nahe, dass der "Zeuge," der die Grundlage des Bildes ist, immer noch das Video ist.
Man hat offensichtlich lange an dem Video herumgebastelt. Das FBI hat wohl die weltweit beste Computersoftware, um "schwierige" Videos usw. klarer erscheinen zu lassen. Ich denke, es wurde lange darum gerungen, welche "Interpretation" des Videos die korrektere gewesen ist. Man hat z.B. rätseln können, ob der Mann auf dem Video eine Mütze trägt oder nicht, einen Bart hat oder nicht. Es scheint, dass die Ermittler sich jetzt dazu entschieden haben, dass die Interpretation dieses Polizeizeichners die korrekte ist. Experten aller beteiligten Behörden, vom FBI zum Sheriff werden lange daran gefeilt haben, deshalb hat es auch so lange gedauert. Dazu kommt, dass man anscheinend keine weiterführenden Hinweise zum ersten Bild bekommen hat, so dass man sich jetzt sagt: vielleicht lagen wir da falsch. Was wir auf dem Video als Bart interpretiert haben, ist vielleicht doch nur Schatten. Und nun haben sie gesagt: es scheint eher, dass der Täter ungefähr so aussieht.
Das betont der Polizeizeichner hier auch: es handelt sich um eine Interpretation, ein "Phantom"bild. Der Täter wird nicht exakt so aussehen, aber sehr ähnlich. Die Qualität des Videos erlaubte leider keine eindeutigere Festlegung.
3. Das gilt auch für das Alter des Täters. Man merkt sehr deutlich, dass die Ermittler hier auch widersprüchliche Gefühle haben: einerseits, sagen sie, scheint uns der Mann jünger auszusehen. Aber andere Indizien, Sprechweise, usw. lassen uns immer noch glauben, dass er eher älter ist, als er aussieht. Daher wird das betont: man soll sich durch das relativ junge Aussehen allein nicht fehlleiten lassen, es kann sein, dass der Täter durchaus älter ist, als man ihn allein auf grund des Bildes einschätzen würde.
4. Es wird betont, dass man sich nicht durch den Gang der Person beirren lassen soll, da er den Schwellen der Brücke folgt. Diese ist ja keine platte Ebene, sondern man muss aufpassen, wohin man tritt, und das tut der Mann im Video offensichtlich. Auf der Strasse wird er einen anderen Gang haben.
5. Nun ein Kommentar meinerseits zur Kleidung. Die Kleidung ist in keinem Punkt ungewöhnlich für jemanden aus der Gegend. Jeans, Jacke usw. sprechen eher für relativ günstige Kleidung, die man in jedem Wal-Mart kaufen kann. Er trägt sicherlich keine teure Markenjeans. Im Gegenteil: er scheint eine Jeans zu tragen, die man hier kaufen kann, die sehr viel von Arbeitern getragen wird, eher von etwas älteren Leuten. Junge Leute könnten stilbewusster sein. Es scheint sich hier um eine Jeans zu handeln, die man im Laden erstehen kann, die den Schnitt "comfort fit" oder "relaxed fit" hat, das heisst, etwas weiter und bequemer geschnitten. Solche Jeans, z.B. der Marke "Wrangler" kann man im Wal-Mart für $ 15 kaufen. Sie sind besonders beliebt bei Arbeitern, die sie dann auch tragen ohne "modisch" sein zu wollen. Eventuell handelt es sich sogar um eine sogenannte "cargo" oder "carpenter" Jeans, die haben mehr Taschen als üblich, z.B. auch eine Werkzeugtasche am Bein, in welche man einen Hammer stecken kann usw. Arbeitskleidung eben.
Eine "hoodie" unter der Jacke ist ebenfalls nicht gerade ein "fashion statement" sondern wird ebenfalls gerne von jenen getragen, denen es vor allem darauf ankommt, warm angezogen zu sein. Es spricht für eine Person, die es gewohnt ist, im Winter im Freien zu arbeiten. Jugendliche, die einen "Freizeit look" tragen, würden selten eine solche Kombination anziehen. Diese Beobachtungen sprechen eher wieder für jemanden um die 40 anstatt für einen eher jungen Mann um die 20. Aber vor allem: es ist ein Arbeitslook, kein fashion statement.
Und so wirkt das gesamte outfit dieses Mannes eben genau, wie die Ermittler es beschreiben: das ist Arbeitskleidung eines Mannes, wie er hier in der Gegend ganz unauffällig angezogen sein würde, eben "hiding in plain sight." Geht man durch Delphi, begegnet man vermutlich zig Männern, die genau so an einem ganz normalen Tag angezogen sind.
Leider ist nichts Aussergewöhnliches an seinem outfit. Weder trägt er einen typischen "Wald-look" (das sind dann eher Typen, die in Tarnklamotten herumlaufen, noch irgendwie einen look, der nicht in die Gegend passt, der städtisch ist usw.
Das macht die Sache für die Ermittler so schwer, aber ich kann sehr gut nachvollziehen, warum sie der Meinung sind, dass es sich vermutlich wirklich um einen Mann aus der Gegend handelt.
6. Pressekonferenzen dieser Art, vor allem im eher konservativen, ländlichen Amerika, laufen genau so ab, auch mit den Bemerkungen hinsichtlich der Konsequenzen der Tat für das Gewissen, die Hinweise auf die christlichen Gefühle usw.
Interessant ist allerdings eines: ich habe das in solchen Fällen selbst schon gesehen und auch praktiziert: man fordert den Täter auch etwas heraus: Man spricht ihn direkt an und mit klaren Worten: "Du bist ein Feigling! Du bist eine armselige Kreatur. Ein ganz armer Wicht." Usw. Es hat durchaus Fälle gegeben, in welchen sich solche Täter haben provozieren lassen. Ich erinnere mich an einen Fall, da wurde genau das gleiche gesagt, und der Täter protestierte vehement in sozialen Medien usw: nein, das ist kein Feigling, der ist cool und schlau... Und gerade durch seine Vehemenz fiel der Täter dann auf. Man spricht hier Emotionen des Täter an und hofft, dass er sich eine Blösse gibt. Man darf ruhig annehmen, dass die Ermittler hier genau überlegt haben, was sie sagen und wie sie es sagen. Aber man darf auch annehmen, dass es der eigenen Meinung entspricht. Diese Polizisten hier sind engagiert bei der Sache. Auch das soll ein Signal sein, an die gesamte Öffentlichkeit (wir lassen nicht, niemals locker) und eine gewisse Drohung und Provokation an den Täter.
7. Schliesslich spricht man ebenfalls auf der moralischen Ebene mögliche Mitwisser, einschliesslich Angehörige des Täters subtil an: der, den ihr vielleicht selbst verdächtigt, ja, der, von dem Ihr sogar wisst, dass es der Täter ist: er ist es nicht wert, dass Ihr ihn beschützt! Bisher denkt Ihr vielleicht, das ist ja an sich ein guter Kerl, der hat einen Fehler gemacht... Nein! Das ist ein ganz erbärmlicher Typ! Und denkt noch mal nach: wer hat sich nach der Tat irgendwie anders, irgendwie merkwürdig verhalten? Das wollen wir wissen! Meldet Euch! Auch wenn es Euer Nachbar ist, dem Ihr das nie zugetraut habt...
Heisst dass, dass sie bereits glauben zu wissen, wer der Täter ist? Vermutlich nicht. Aber sie haben das Gefühl, dass jemand in der überschaubaren Gegend dort weiss, wer der Täter sein könnte. Dessen Mithilfe wollen sie haben.
Soweit meine "two cents" zu dieser PK. Hoffentlich liegen die Beamten richtig.