Mrs.Robinson schrieb:Ich bin zuallererst mal in weiten Teilen überrascht, was der Podcast geliefert hat. Zumindest in einigen Passagen wurden Sichtweisen kritisch hinterfragt (Aufzeichnungen zu den Tötungsdelikten) und die Erlebnisse der Kindheit haben mich wirklich schockiert und fassungslos gemacht.
Wenn man mal alles außen vor lässt, was ihm vorgeworfen wird oder was sich an Straftaten in seinem Leben zugetragen hat, so muss man einfach mal sehen, dass dieser Mensch, insbesondere in den wichtigen Jahren seiner Kindheit und Jugend, Furchtbares und Schreckliches erlebt hat. Möglicherweise wäre sein Leben tatsächlich deutlich anders verlaufen, sofern er ein liebevolles und förderndes Elternhaus gehabt hätte.
Besonders interessant fand ich die wirklich sehr frühe psychische Begleitung, die für ihn erforderlich wurde sowie die Angst- und Schlafstörungen usw. die er augenscheinlich Zeit seines Lebens nicht bewältigte. M.E. wirft das ein neues Licht auf seine Persönlichkeit und zeigt ggf. eine andere Person, die er war, als die, die immer wieder öffentlich gezeichnet und beschrieben wird.
Wenn man in den 50er Jahren ein Kind aus der Familie nahm und in ein Heim einwies, musste schon sehr viel vorliegen. Was heute ggf. manchmal vorschnell erfolgt, hatte damals oft einen zu langen Atem, weil die pädagogischen Ansichten einfach noch sehr roh waren.
Der NDR-Podcast ergänzt sich mMn sehr schön mit dem Zeit-Podcast aus dem letzten Jahr. Im NDR-Podcast ist hervorragend die Entwicklung der Persönlichkeitsstörung des KWW dargestellt und wie eine solche entstehen kann und welche Facetten sie haben kann. Ein Kind, das solche traumatischen Erfahrungen machen muss, durch Eltern und gerade Vater, dass kann selten eine gesunde Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung und Reifung vollziehen. Dies gilt dann für KWW und HJW.
Es waren ja nicht nur "einfache" Gewalterfahrungen in der Erziehung, wie sie in den 50ern und 60ern oft noch typisch in der Erziehung waren, mit Tracht Prügel oder Backpfeife zur Bestrafung usw. Das ging ja weit darüber hinaus. Dies wurde auch sehr schön im ARD-Film angedeutet. Darüber hinaus mussten die Kinder auch die Gewalt des Vaters gegenüber der Mutter (Beil etc) miterleben. Gleichzeitig war die Mutter selber auch "eine Hexe" und dennoch auch beschützend, indem sie alles herunterspielte und alle Probleme vermied und verschwieg. Zugleich hatte sie aber auch damals die Einweisung des KWW in die "Anstalten" angeleiert. Sie war mit Vater, Kindern und Situation überfordert, war ungebildet, war selber traumatisiert usw usw. Beide Eltern waren also selber psychisch und sonst auffällig. Das prägt ein Elternhaus und ein kindliche Entwicklung.
Was mir neu war, war, dass die Familie W offenbar erst viel später ins Streitmoor zog, als gedacht. Dass die Familie das Haus erst nach Geburt des KWW kaufte, war mir bekannt, dass sie zuvor aber im "asozialen" Viertel wohnten und auch noch anderswo, so nicht. Das zeigt aber eben auch die berufliche Entwicklung des Papa W. Das prägt aber auch Kinder, wenn man aus "primitiven und asozialen" Verhältnissen kommt, selbst wenn man (oder auch gerade dann, wenn man weiter sozial isoliert ist) dann später im Eigenheim wohnt.
Genauso wurde deutlich, dass KWW seinen Vater und seiner Eltern gleichzeitig gehasst und geliebt hat. Eine sehr ambivalente und abhängige Beziehung. Das scheint sich ja auch durch die gesamte Familiendynamik zu beziehen. Die Mutter trennt sich nicht vom Vater, sie bleibt. Sie schützt Vater und Sohn in der Öffentlichkeit. Sie lebt diese Ambivalenz und Abhängigkeit genauso vor. KWW (und auch HJW) zeigt dies ja auch, dass er dennoch dem Vater alles Recht machen will und bei der Familie weiter wohnt, nicht weg geht (außer nach Karlsruhe) und Kontakt hält und im Elternhaus wohnt und in seinem Grab beerdigt werden möchte, etc.
Der junge KWW hatte massive Angst und wollte nicht zuhause wohnen, wollte lieber zurück ins Stift. Er war sicherlich frustriert und unzufrieden. Er flüchtete sich in eine Traumwelt mit Schlössern und Wäldern. Er zeigte ungesunde Verhaltensweisen mit Verweigerung und Aggression, wie Schule schwänzen, Krankheit, Arroganz und Tierqüälerei usw usw Später kamen Delikte hinzu, wie gegen die Mutter aus der Einliegerwohnung, gegen die Radfahrerin, die Polizei und die Anhalterin usw usw, er liebte Waffen (Kleinkaliber). Alle diese emotionalen Zeichen, Ambivalenzen und Schwankungen sowie Verhaltensweisen und Handlungen zeigen die psychische Entwicklung des jungen KWW sehr schön auf. Angst macht krank. Er hatte dann sicherlich auch eine Angststörung. Sie hat aber auch mehr mit ihm gemacht. Seine Persönlichkeit selber war ebenso ambivalent von Angst und Selbstzweifel wie auch Überzogenheit, Selbstsucht und Protz und auch hochgradiger Kränkbarkeit und Sensibilität, usw geprägt. Das ist eine gestörte Persönlichkeit. Das ist eine typische Entwicklung einer narzisstischen Persönlichkeit und narzisstischen Kränkung. Angststörung und depressive Phasen und gerade auch Suizidversuche stehen dem gar nicht entgegen. Das ist eher typisch.
Lisa zeigte sehr schön auf, wie unterschiedlich er agierte, einerseits der sehr charmante und liebevolle und zuvorkommende sanfte Mann und andererseits der dominante, bestimmende und bedrohliche Mann, der schizophren auf sie wirkte. Es wird auch hervorragend aufgezeigt, wie die Beziehung zu Alice war, nämlich ebenso dominant und bestimmend und steuernd und abhängig wie die seiner Eltern zugleich aber ebenso schützend und liebevoll. Die Beziehung zu HJW wird auch schön dargestellt. HJW wird als nicht tumb und dennoch KWW folgend und abhängig gezeigt.
KWWs psychosexuelle Entwicklung wird herausgestellt. Durch die frühen sexuellen Übergriffe wird ja schon was deutlich. Dann diese sehr deutliche Darstellung der sehr tiefgehenden sadomaso bzw BDSM-Interessen, die sehr weitgehend sind. Im Film werden die sexuellen Gruppenaktivitäten in den Annoncen bzw Antworten herausgearbeitet. Es wird auch benannt, dass er ja als Callboy tätig war und dass er trotz Ehe ja auch Beziehungsannoncen aufgab, usw. Bei KWW geht dies da schon sehr weit. Das sexuelle Interesse und BDSM-Interesse geht da schon weit über das anderer Leute hinaus. Das zeigen auch die Funde im geheimen Zimmer.
Die Gewaltentwicklungen und -fantasien des KWW werden auch schön herausgearbeitet, angefangen bei der Mutter in der Einliegerwohnung und Tierquälerei über BDSM und den Schussübungen und der Dominanz gegenüber Frauen und HJW usw usw Hier zeigen sich auch die Dominanz und das Machtgehabe. Hier werden eben auch sadistische Züge deutlich.
Ich finde, der Podcast hat sehr schön dabei geholfen, die unterschiedlichen Facetten der gestörten Persönlichkeit und Psyche des KWW (und durchaus auch des HJW) zu zeigen. Eben eine sadistsiche und narzisstische Persönlichkeit, aber eben auch mit Kränkbarkeit, Sensibilität und Ängsten. Das steht dem ja nicht entgegen, dass er auch ein liebevoller Familienmensch sein kann und eben auch ein wirklich netter und charmanter und aufmerksamer Mann. Und gerade, wenn man verfolgt wird und nie wieder ins Gefängnis will, ist man sicherlich auch von Ängsten geplagt, wenn man Verbrechen begeht. Ich höre den Podcast also anders als Du.
Mrs.Robinson schrieb:Was für mich zum Beispiel ein verändertes Bild zeichnet, ist, dass es bisher hieß, dass Sielaff im ehemaligen Haus des Kurt Werner Wichmann Aufzeichnungen zu den Tötungsdelikten von Ilse Gerkens, Birgit Meier und den Göhrde Morden fand. Im Podcast kam das erste Mal der Einwand von Anouk Schollähn, dass er die Zeitungsausschnitte aber auch zu anderen Tötungsdelikten zusammengestellt hatte (z.B. dem Heidemörder). Somit verliert dies m.E. den zwingenden Hinweis, dass er dies ausschließlich bei "seinen" Taten tat. Er kann sich eben auch einfach für Tötungsdelikte aus der Region interessiert und diese gesammelt haben, ohne, dass es zwingend mit einer oder mehrerer Taten in Verbindung stand.
Das sehe ich nicht so. In meinen Augen muss man nicht zwangsläufig nur "seine" Taten sammeln sondern kann auch andere dabei haben. Man kann sich für andere Serienmörder interessieren, die durch die Medien gehen und sich dann von ihnen faszinieren lassen oder inspirieren oder Fantasien entwickeln oder weiter entwickeln. Es kann aber auch sein, dass einzelne Taten, die dem Heidemörder Thomas Holst zugeordnet wurden, auch seine möglichen Taten beinhalten. Wenn man bedenkt, dass die zeitgleich erfolgten und ungelösten Fälle im Weser-Elbe-Raum durchaus KWW zugeordnet werden und als Prüffälle gelten, kann das mehrere Facetten aufzeigen. Es wird kritisch diskutiert, ob Holst wirklich für alle Fälle verantwortlich ist, für die er verurteilt wurde oder aber auch gar noch andere, die er verübt haben könnte. Dies träfe ähnlich auf KWW zu. Und wenn Holst für KWW-Taten in Betracht kam, würde KWW das interessieren. Zudem ist es häufiger der Fall, dass Serienmörder von anderen inspiriert werden oder gar in Konkurrenz treten. Und wenn zwei Serienmörder zeitgleich in der selbern Gegend unterwegs sind, zieht das die gegenseitige Aufmerksamkeit auf sich und stachelt sie evtl sogar noch an.