@GrouchNein, mit den heute vorhandenen Möglichkeiten ist das sicher nicht feststellbar, dazu müsste man jede einzelne individuelle neuronale Verbindung, die jemals angelegt wurde, messen und auswerten können. Sprich jede Erinnerung, jedes Ereignis inkl. aller Umstände, vorgeburtlich, nachgeburtlich und mitsamt sämtlichen dabei empfundenen Emotionen. Soweit sind wir technisch nicht und ich hoffe, dass wir es auch nie sein werden. Denn, wenn das irgendwann möglich wäre, haben wir den gläsernen Menschen... Ich weiß nicht, ob das erstrebenswert ist... :-/
decki schrieb:Nachdem, was hier alle jetzt mMn toll herausgearbeitet haben, er gibt sich für mich die Frage, wie passt das zusammen: Einerseits plant er eiskalt, anererseits besucht er verschiedene Ärzte. Er hätte doch auch ohne Arztbesuche eiskalt seinem Drang zum erweiterten Suizid nachgeben können?
Könnte dieses Verhalten womöglich auf eine Schizophrenie oder Erkrankung im Gehirn (wie du, AveMaria evtl vermutest
Veto: Schizophrenie war von mir nur als Beispiel genannt. Eine Vermutung, was AL genau gehabt haben könnte, habe ich nicht und ich würde auch keine äußern, da ich den Menschen AL nicht gekannt habe.
Aber ich finde deine Beobachtung des ambivalenten Verhaltens gut. Das finde ich in der Tat auch interessant. Mir fallen da ziemlich sofort die verschiedenen ICH-Zustände eines Menschen ein, die solch ein Verhalten erklären können. Ich versuche es mal anhand eines
fiktiven Beispiels (gedankliches Szenario) zu erläutern:
Wir schreiben das Jahr 2001. Ein 14 jähriger begeistert sich für die Fliegerei und entschließt sich, einen Fliegerschein zu machen. Kurz nachdem er damit begonnen hat, geschehen die Terroranschläge auf das World Trade Center und die Bilder davon gehen wochenlang immer und immer und immer wieder durchs Fernsehen und sind auch vermutlich bis heute noch im Internet abrufbar. Wie weltweit viele seiner Altersgenossen schaut auch der 14 jährige sich immer wieder die Bilder an, anfangs mit vollem Entsetzen, aber auch schon mit einer Faszination, weil solche Szenen gab es noch nie. Der 14 jährige hat bis dahin eine normale Erziehung genossen, hat Werte und Regeln gelernt und ein ICH gebildet, das diese Werte verinnerlicht hat. Nun ist er in der Pubertät. Eine Zeit der großen Veränderung: im neuronalen Netzwerk, im emotionalen Bereich und allgemein im Leben. Alte Werte und Normen werden in Frage gestellt und alles wird sehr sehr intensiv erlebt, so auch die Bilder des Terroranschlages. Eine Zeit, in der sich ein neues ICH bildet, mit eigenen Gedanken, Empfindungen und Wertvorstellungen, und dem Ziel des Erwachsen und Unbestimmt seins. Unser 14 jähriger schaut sich die Bilder also immer wieder an und ganz unbemerkt verändert sich die Faszination und es keimt der Wunsch, zu fühlen, wie es sich anfühlt, wenn man als Pilot in dieser Maschine sitzt und auf ein Hindernis zurast. Der Wunsch, die Emotionen dazu, werden immer stärker und daraus entsteht schon bald ein innerer Film, an dem er selbst im Cockpit sitzt und den Film dreht, der zwanghaft mehrmals täglich in ihm abläuft. Er merkt, dass etwas aus dem Ruder gerät, denn sein altes ICH sagt ihm ganz klar, dass diese Gedanken nicht in Ordnung sind. Doch er weiß nicht, mit wem er darüber reden soll, denn ihm ist klar, dass seine Umgebung ihn nicht verstehen wird und er selber hat auch Angst, Angst davor verrückt zu werden, Angst davor die Kontrolle zu verlieren, Angst vor sich selbst. Er ist jetzt vielleicht 15, 16 Jahre alt und sehr unsicher, ob der Abgründe, die sich da in ihm auftun. Also schweigt er.
Er wird älter, beginnt die Ausbildung zum Piloten und merkt, dass das zweite ICH sehr stark ist, es lässt sich nicht ausschalten, die Filme kommen wieder, nun auch, während er selbst fliegt. Er kommt damit nicht klar, die Ambivalenz ist zu groß und so bekommt er depressive Zustände. Immer häufiger hat er nun auch den Wunsch, seinem Leben ein Ende zu setzen, denn die innere Zerrissenheit wird unerträglich. Er wendet sich an Fachleute, erzählt über seine depressiven Schübe, aber nicht über die Filme, die in ihm ablaufen, aus besagten obigen Gründen. Er erzählt auch von seinen Suizidgedanken, aber nicht davon, WIE er sich das Leben nehmen möchte. Das Fliegen ist seine Leidenschaft, er will es nicht aufgeben müssen.... Vielleicht helfen ihm die Gespräche, vielleicht bekommt er Medikamente, die auch die Zwangsgedanken unterdrücken und er fühlt sich besser, sodass er die Ausbildung fortsetzt. Beide ICH -Anteile lassen einander leben, keines gewinnt die Überhand, die Filme werden seltener, er hat ein wenig Ruhe, eine innere Balance in sich gefunden.
Dann bekommt er gesundheitliche Probleme, die seine Fliegerlizenz bedrohen und damit seine gesamte Existenz und sein Selbstverständnis von einem Leben als Pilot in Frage stellen. Das zweite ICH mitsamt den Filmen in seinem Kopf meldet sich wieder zwanghaft und täglich, die Depressionen beginne wieder. Er sucht Hilfe, aber findet sie nicht, weil er noch immer nicht über die Filme in seinem Kopf redet. Die Angst, sein altes Leben aufgeben zu müssen, ist einfach zu groß. Eine Alternative hat er nie in Erwägung gezogen. Er identifiziert sich über seinen Beruf und hofft, dass es wie beim ersten Mal gut ausgeht. So versucht er also zuerst, seine gesundheitlichen Probleme in den Griff zu kriegen, in dem er sich zur diagnostischen Abklärung in ein KH begibt. Es gibt keine Diagnose, die Probleme bestehen weiter und er ist ganz allein mit seinem Problem, über das er nicht reden kann. Er schafft es einfach nicht.... Das zweite ICH wird immer stärker und die Filme nehmen überhand, als sich eine Möglichkeit auftut, den Film real abspulen zu lassen und der inneren Zerrissenheit ein Ende zu setzen. Das erste ICH mit all den gelernten Moralvorstellungen und Empfindungen hat keine Chance mehr, er lässt den Film ablaufen, mit all seinen Folgen für ihn, die Passagiere, seine und deren Angehörige. Und damit ist er Opfer seines Selbst, aber natürlich zugleich auch Täter.
Ich betone, dass das nur ein gedankliches Szenario von mir ist. Es muss in keinem Fall auf AL zutreffen. Ich versuche nur deutlich zu machen, wie es zu solch augenscheinlich ambivalenten Verhalten kommen und wie sehr jemand auch unter sich selber leiden kann.