@mathematikerErst einmal danke für deine ausführliche Replik.
mathematiker schrieb:Ganz recht, man muss neue Wege ausprobieren. Im Zweifelsfall muss man auf seine Intuition vertrauen, eine Vermutung, wie die von Dir angesprochene goldbachsche Vermutung kann wahr oder falsch sein, es ist vollkommen in Ordnung, einer der beiden Positionen zu vertreten und nach einem entsprechendem Beweis zu suchen. Aber eine Vermutung kommt ja nicht von irgendwoher, es gibt Indizien, die für ihre Wahrheit sprechen, man sollte diese dann jedoch auch benennen können.
Nur wenn Personen einfach etwas behaupten ohne zu versuchen es schlüssig belegen, ohne sich darum Gedanken zu machen, dann misstraue ich dieser Behauptung selbstverständlich.
Ja, aber von diesen Indizien darf man halt nicht die gleiche Aussagekraft wie von Belegen erwarten. Die Goldbach'sche Vermutung konnte bspw. mindestens für alle Zahlen bis 26*10^17 bestätigt werden, was in der Mathematik natürlich noch lange keinen Beweis darstellt. Ein berühmtes Beispiel war etwa die
Wikipedia: Vermutung von Pólya, welche bspw. erst ab n~9*10^8 nicht mehr zutrifft. Es wäre vor diesem Hintergrund also natürlich durchaus legitim, die Gültigkeit der Goldbach'schen Vermutung zu bestreiten, obwohl die 'Indizien' zunächst eigtl. eher
für die Hypothese zu sprechen scheinen.
Nun zur Frage nach Gehirn und Geist. Sehr viele Indizien sprechen hier ebenfalls für die Hypothese, dass Geist nur ein Produkt des Gehirns ist. Aber bis dato sind es immer noch lediglich Indizien, keine Belege, solange eben grundlegende Fragen teilweise nicht einmal im Ansatz beantwortet sind - Stichwort 'Qualia-Problem'. Im Falle der Goldbach'schen Vermutung (und vieler anderer Hypothesen) tut man der intellektuellen Redlichkeit an und für sich eigentlich keinen Abbruch, wenn man entgegen aller Indizien gegen eine Hypothese opponiert. Warum sollte es hier anders sein?
Interessant ist hier auch ein kurzer Ausflug in die Wissenschaftsgeschichte, in die Zeit der Kopernikanischen Wende, als die Wissenschaft noch fest auf dem Fundament der Aristoteles'schen Bewegungslehre stand und völlig hinreichend zur Erklärung der damaligen Phänomene war. Die Bewegungslehre Aristoteles' war im Prinzip das, was
@Marcandas mit seinem 'Bezugsrahmen' meint, und innerhalb dessen bspw. zahlreiche Indizien gegen eine Eigenrotation der Erde und damit dem Kopernikanischen Weltbild zu widersprechen schienen. Ein berühmtes Argument war bspw. das sog. 'Turmargument':
"Wenn die Erde sich bewegte, dann dürfte ein von einem Turm fallengelassener Gegenstand sich nicht geradlinig nach unten bewegen, sondern müsste hinter der Erdbewegung zurückbleiben und somit für einen von der Erde mitbewegten Beobachter eine gekrümmte Bahn beschreiben."Wikipedia: TurmargumentOder warum werden auch die Vögel und die Wolken nicht von der Erdrotation beeinflusst sondern unterliegen lediglich dem Wind und ihrer Eigenbewegung? Warum 'spürt' man nichts von dieser angeblichen Rotation der Erde?
Gestützt wurde das Ptolemäische Weltbild zusätzlich durch die Exaktheit der
Wikipedia: EpizykeltheorieViel zu groß waren hingegen die Abweichungen bei den Berechnungen der Planetenpositionen, wenn man statt der Erde die Sonne im Zentrum annahm und für die Planeten Kreisbahnen zugrunde legte.
Das Ptolemäische Weltbild war insofern also nicht einfach nur Dogma einer vermeintlich wissenschaftsfeindlichen Kirche, sondern es war schlicht das Resultat damaliger Wissenschaft. Und wer glaubte, dass sich die Sonne im Zentrum befände, geriet nicht nur arg in Erklärungsnot, sondern machte sich genauso lächerlich, wie jemand, der heutzutage bestreitet, dass Geist und Bewusstsein lediglich und gänzlich ein Emergenzphänomen neuronaler Aktivität sind.
Die Wissenschaftsgeschichte zeigt jedoch, dass sämtliche Weltbilder bisher immer nur vorläufig waren und nur im Rahmen ihrer eigenen Methodik und Empirie Gültigkeit behielten.
mathematiker schrieb:Ja, es gibt Anhaltspunkte, dafür dass dunkle Materie existieren könnte (Ich vertrete diese Auffassung im Übrigen nicht, aber das ist hier nicht das Thema). Wenn man gute Anhaltspunkte vorweisen kann und eine Ansicht vertritt, ist das durchaus akzeptabel.
Ja, diese Anhaltspunkte gibt es jedoch erst seit jüngerer Zeit, doch die Hypothese der 'Dunklen Materie' ist schon etwas älter...
Wikipedia: Dunkle Materie#BeobachtungsgeschichteDas eigentliche Phänomen deutet zunächst auch erst einmal lediglich auf eine Erklärungslücke, welche so gesehen weder für die eine Hypothese - es ex. eine unbekannte Form von Materie - noch für die andere Hypothese - unsere Modelle und/oder Theorien sind unzureichend - spricht. Unter anderem deshalb stieß die Hypothese einer noch unbekannten Form von Materie zu damaliger Zeit in der Fachwelt ja auch noch auf breite Ablehnung.
Analog wird eine derartige Erklärungslücke in der Frage nach dem Verhältnis von Gehirn & Geist insbesondere durch das Qualia-Problem aufgezeigt. Die aktuelle Forschung, vor allem basierend auf bildgebende Verfahren (PET, fMRT...) welche uns vorgeblich unsere Gedanken und Gefühle im Gehirn zeigen, welche wiederum mit der gemessenen neuronalen Aktivität mehr oder weniger identisch seien, ist wirklich sehr hübsch und dürfte gewiss auch einige Erkenntnisse zu Tage fördern, doch:
"Die Beschreibung von Aktivitätszentren mit PET oder fMRI und die Zuordnung dieser Areale zu bestimmten Funktionen oder Tätigkeiten hilft hier kaum weiter. Denn dass sich all das im Gehirn an einer bestimmten Stelle abspielt, stellt noch keine Erklärung im eigentlichen Sinne dar. Denn »wie« das funktioniert, darüber sagen diese Methoden nichts, schließlich messen sie nur sehr indirekt, wo in Haufen von hundert Tausenden von Neuronen etwas mehr Energiebedarf besteht. Das ist in etwa so, als versuchte man die Funktionsweise eines Computers zu ergründen, indem man seinen Stromverbrauch misst, während er verschiedene Aufgaben abarbeitet."http://www.gehirn-und-geist.de/alias/dachzeile/das-manifest/852357Anstelle von hübschen Hirnscans könnte man auch genauso gut Bilder von der Aktivität der Zäpfchen auf der Retina präsentieren und (zu Recht) behaupten, man könne daran ablesen, was ein Mensch gerade sieht. Doch der Schluss, dass ein bestimmtes Aktivitätsmuster der Zäpfchen auf der Retina gleichbedeutend mit einer visuellen Wahrnehmung sei, wäre bekanntlich ein Fehlschluss. Korrelation impliziert nicht Identität, der bloße Nachweis einer gewissen Korrelation zwischen mentalen Zuständen und neuronalen Zuständen genügt mithin also nicht.
mathematiker schrieb:Ich muss offen zugeben, dass ich manchmal das Gefühl habe, dass die Neurologie alleine mit der wissenschaftlichen Abhandlung des Bewusstseins überfordert ist. Nicht dass mich das wirklich wundert, denn ich weiß wie kompliziert schon das Verhalten, die Wechselwirkung, von 2 Partikeln sein kann und beim Gehirn haben wir es mit einem komplexen System aus vielen Teilchen zu tun.
In ähnlicher Weise komplex wäre wohl ein Computer und hier wurden ja auch schon oft (überwiegend unzulässige) Vergleiche zwischen Gehirn und Computer gezogen. Die Komplexität ist weniger das Problem, bzw. nur zum Teil. Wie es bspw. mit Hilfe der Hardware letztendlich zur Software kommt, lässt sich mit Hilfe der Informatik durchgängig, schlüssig und nachvollziehbar erklären. Auf welche Weise jedoch rein physische Zustände phänomenales Bewusstsein und Erleben hervorrufen sollen, ist nicht einmal im Ansatz klar. Da könnte man genauso gut auch behaupten, das Internet oder das Stromnetz hätten ebenfalls eine Art Bewusstsein... Denn wirklich objektiv messen tut man nur Ströme innerhalb von Netzwerken.
mathematiker schrieb:Analogien können entsprechend der persönlichen Sichtweise gewählt werden, da unsere Sichtweisen nicht korrespondieren, ist es klar, dass das Ergebnis nicht identisch ist.
In meinem Beispiel ist das Bild (Bewusstsein) weg, wenn die Festplatte (Gehirn) zerstört wird.
Dein Beispiel illustriert nur deine Ansicht zu dem Thema.
Mir ging es nur darum, dass der Schluss, Bewusstsein müsse ein Produkt des Gehirns sein, da es in gewisser Weise mit spezifischer neuronaler Aktivität korreliert, nicht notwendig ist.
Welches Bild hier am ehesten in der Lage ist, die Interaktion von Gehirn & Geist zu beschreiben, wird die Zukunft zeigen. Die Idee, das Gehirn könnte eine Art Computer sein, scheint meines Wissens mittlerweile allerdings recht out zu sein...
mathematiker schrieb:Ja, wie dem auch sei, Ich hoffe jedenfalls, Dir ist klar geworden oder bereits klar gewesen, wie unbedeutend der Mensch im großen Gesamtgefüge ist. Möglicherweise gibt es Leben auch anderswo im Universum, vielleicht auch intelligentes Leben, ich weiß es nicht, ich könnte jetzt wieder eine lange Ausführung dazu schreiben, wenn Du darüber diskutieren willst, dann gebe mir eine entsprechende Rückmeldung, hier ist das nicht das primäre Thema.
Wie ich bereits sagte, ist diese Sichtweise lediglich dem Resultat einer einseitigen Begriffsbestimmung des Menschen, nämlich als eine konkrete Spezies im Rahmen der biologischen Systematik, zu verdanken.
Ein anderes Bild ergibt sich möglicherweise, wenn man den Menschen eben als ein soziales, kulturfähiges und mit Empathie, Bewusstsein und Intelligenz ausgestattetes Wesen begreift, weitestgehend unabhängig etwa von seiner konkreten Morphologie - d.h. dass sich rein theoretisch natürlich auch andere Tierarten zu derartigen Wesen weiterentwickeln könnten. Wesen, welche anfangen, ein Bewusstsein für sich selbst und die Natur zu entwickeln, stetig und immer mehr Wissen über die Natur, das Leben und den Kosmos zu generieren (was übrigens keineswegs selbstverständlich ist), nachhaltig und in immer größeren Ausmaßen in die Umwelt einzugreifen und sie nach ihren Bedürfnissen zu gestalten, und sich kontinuierlich weit über die rein biologisch-evolutionäre Ebene hinaus weiter zu entwickeln.
Wohin diese Entwicklung letztendlich geht, lässt sich natürlich kaum erahnen, aber Fakt ist, dass alles, was sich im Kosmos überhaupt noch weiterentwickelt, auf (intelligentem) Leben beruht - ein Prozess, auch bekannt als 'Evolution'. Zumindest hier auf der Erde stehen wir bei dieser Entwicklung zur Zeit an vorderster Stelle, haben eine neue Ära der Evolution (Kultur, Wissenschaft und Technik...) eingeleitet, den halben Planeten bevölkert, und werden demnächst womöglich nicht nur in die Tiefsee vordringen, sondern mittelfristig auch mit der Kolonialisierung von Teilen des Sonnensystems (Mond u. Mars etwa) beginnen. Evolution findet nicht nur hier auf der Erde statt, sondern vermutlich auch auf allen anderen lebensfreundlichen Planeten in unserer Galaxie - wie viele es da auch immer geben mag. Wohin das alles führt, wenn Tausende, wenn nicht gar Millionen, Spezies in der Galaxie eine solche Entwicklung durchmachen und nach den Sternen greifen, ist schwer absehbar, wie gesagt. Aber eine Galaxie, in der es keinerlei Leben gibt (was ich für ausgeschlossen halte), unterscheidet sich nach etlichen Jahrmilliarden gewiss in signifikanter Weise von einer Galaxie, wo sich Leben breitgemacht und kontinuierlich weiterentwickelt hat.
Welche Rolle Wesen wie wir letztendlich im 'Gesamtgefüge' spielen, ist natürlich ebenfalls völlig offen. Ich persönlich halte es bspw. durchaus für möglich, dass selbst wir nur eine Zwischenstufe darstellen, so wie etwa Pflanzen nur die Zwischenstufe hin zur Entwicklung von Lebensformen waren, welche nun nicht mehr ortsgebunden sind. Ich nehme aber stark an, dass auf der nächsten Stufe ebenfalls etwas stehen wird, das Bewusstsein besitzt.
Bspw. wurde mit der Erforschung der Materie auch zunehmend klar, dass es weniger die Beschaffenheit der Elemente ist, aus denen wir bestehen und welche uns von den Dingen der restlichen Natur unterscheiden, sondern insbesondere die
Anordnung dieser Elemente untereinander. Das Mentale wiederum ist ein
Prozess, und es ist dem Prozess egal, auf welcher Basis er sich abspielt (Stichworte Funktionalismus, künstliche Intelligenz usf.). Dass bedeutet nicht nur, dass letztendlich möglicherweise auch Maschinen ein Bewusstsein besitzen könnten, sondern dass das Geistige nicht notwendigerweise an ein Netzwerk von Neuronen gekoppelt ist, sondern sich bspw. auch innerhalb eines Netzwerkes von Myriaden verschränkter Quanten manifestieren könnte - und hier gibt es seit Penrose/Hammeroff ja auch immer wieder Versuche, quantenphysikalische Ansätze zur Erklärung von Geist und Bewusstsein zu bemühen. Das ist gegenwärtig aber alles noch eher Grenzwissenschaft, die auch viel zu häufig und zu gern gefährlich nahe an Esoterik grenzt.
Wenn mein Beitrag nicht schon so lang wäre, könnte ich noch kurz auf die existenziellen Rahmenbedingungen unseres kleinen Diskurses hier eingehen. Ob die Erde oder die Sonne im Zentrum steht, ob es 'Dunkle Materie' gibt oder nicht gibt, ob das Higgs-Boson existiert oder nicht, ob die Goldbach'sche Vermutung zutrifft oder nicht... derartige Fragen sind für unser Menschenbild weitestgehend irrelevant, was es auch wesentlich einfacher macht, derartige Hypothesen ggf. zu verwerfen. Welche Konsequenzen jedoch die Bestätigung des materialistischen Weltbildes hätte, führt bspw. T. Metzinger in seinem Buch 'Ego-Tunnel' aus, wenn auch teilweise etwas unzureichend:
http://www.perlentaucher.de/vorgeblaettert/leseprobe-zu-thomas-metzinger-der-ego-tunnel-teil-1.htmlAuch Derartiges gilt es bei einer Entscheidung für oder wider eine Hypothese stets im Hinterkopf zu behalten, d.h. es ist nicht immer einfach nur irgendwie eine Frage der Indizienlage, welche die Haltung eines Menschen bzgl. einer Hypothese bestimmt und als Rechtfertigung dient.