Optimist schrieb:... aber sie erzählte doch, sie sah alles von oben? Wie ist das zu erklären?
Das habe ich nicht erforscht, aber ich biete Dir zwei mögliche Erklärungen. Die eine ist spekuliert, die andere eine Anekdote.
1. "Von oben" ist ein Eindruck, den man aus vielen Filmen kennt. Dass ein Gehirn, das gerade mit dem Tode kämpft, so einiges durcheinander bringt, sollte nicht unschwer zu verstehen sein. Hier fließen eben Gedächtnisinhalte, die man selbst nie erlebte, mit in das ein, was man gerade so am Rande mitkriegt.
False Memory eben.
2. Ich nenne das eine Rückschau-Konstruktion. Man erlebt etwas zu einem früheren Zeitpunkt, dass man sich aus späterer Sicht, mangels genauem Wissen bezüglich des wirklichen Sachverhaltes dann aber nicht so richtig erklären kann bzw einfach so, wie es geträumt wurde, dann im wachen Zustand beim besten Willen keinen Sinn ergibt. Also interpretiert man es aus der späteren Sicht, ersetzt die Lücken durch anderes Wissen. Ähnlich wie
False Memory, aber zusätzlich mit interpretativer Korrektur.
So, jetzt kommt die Anekdote: ich war als Kind häufig krank und daher oft im KH. "Damals" aber durften Eltern nicht ständig ihre Kinder besuchen, in Phasen akuter Ansteckung zB nur durch ein kleines Fenster in der Tür zum Krankenzimmer gucken.
Ich hatte jahrelang denselben Traum: meine Mutter und meine Oma sehen durch so ein Fenster von "oben herab" auf mich, die ich auf dem Bett liege. Krankenschwestern um mich herum, die mich wickeln o.ä.
Ich bin in dem Traum noch fast ein Baby.
Später, als Erwachsene, grübelte ich eine Weile darüber nach, was das wohl war? Aus der Sicht des Erwachsenen ähnelte die Situation einer OP, die von außen beobachtet wurde. Du weißt schon, wie "im Film". Da gucken die Beobachter auch "von oben" zu.
Mir ist nur klar, dass es diese Situation nie gegeben hatte. Nicht nur dass damals garantiert kein Elternteil, schon gar nicht die Oma, einer OP je hätte zusehen dürfen, meine Mutter hätte es mir ebenso garantiert all die Jahre danach immer und immer wieder erzählt, bis es mir zu den Ohren raus gehangen wäre.
;)Das kann es also nicht gewesen sein. Woher kam dann mein Eindruck/Traum?
Relativiere ich nun meine tatsächliche Größe in dem Alter, schon fallen alle Puzzleteilchen ins richtige Muster.
Ich denke, der Traum bestand aus einem Gemisch von realen Kindheitserinnerungen und späterem Interpretieren als Erwachsener. Kinder sind klein, und erleben Dinge, die für Erwachsene auf gleichem Höhenniveau stattfinden, viel größer, dh, diese Tür erschien mir als Kind irre hoch. Mutter und Oma blickten mich daher aus meiner Perspektive tatsächlich "von oben" herab an.
Wird man älter, bleibt aber nur mehr der Eindruck, man wurde eben "von oben" herab angesehen. Nur, wie geht das bei einem Erwachsenen, der doch schon groß ist?
Ganz einfach, man vergrößert im Nachhinein per Imagination alle anderen Elemente der Erinnerung im selben Ausmaß, in dem man selbst gewachsen ist .
Und so wird aus einer normal hohen Tür ein Stock hoher Zuschauerraum für OP. So kann dann nämlich der Eindruck "von oben" auch erhalten bleiben.
Das Ganze funktioniert umso leichter und nahtloser, je mehr "Bilder" das Gehirn bereits abgespeichert hat, an denen sich dann die Fantasie, das
False Memory oder das Gedächtnis nach Herzenslust bedienen können.
(Möglichkeit #2: man denkt etwas nach und relativiert die Alters- und Größenverhältnisse und schon hat man die richtige Erklärung, die gänzlich ohne Fantasie, Voodoo oder Vergewaltigung physikalischer Gegebenheiten auskommt – siehe obiger Absatz).
Daher "sehen" ja auch Menschen mit NTE
weltweit nicht einheitlich dasselbe. Sie "sehen" nur das,
was sie kulturell-traditionell-religiös-glaubensmäßig auch glauben oder wissen.
Und da sind natürlich jede Menge Bildchen aus Filmen und Büchern auch mit dabei.
Christen sehen keinen Allah und 72 Jungfrauen, sondern Jesus. Niemand sieht Zeus oder sich in einem Boote sitzend über den Hades tuckern.
Menschen aus unseren Kulturkreisen wissen eben auch genau, wie zB ein OP Saal auszusehen hätte, was ein Telefon ist, wie sich Leute im Notfall verhalten. Es genügt ein kleines bisschen wach werden, und einen kurzen Blick auf das Geschehen um sich zu werfen, um zu erkennen, wo man sich gerade befindet. Details werden dabei durchaus wahr genommen, aber wie im Traum nicht richtig eingeordnet. Der fehlende Rest wird dann später, wenn man sich wieder daran erinnert, durch bereits anderes Abgespeichertes dann "ergänzt", und zwar so, dass es "Sinn" ergibt.
Wie die AWARE Studie aber zeigte, konnte keiner etwas erkennen, das er eben nicht erwartet hatte bzw nicht kannte (eben jene Zettel mit Texten).