Ich habe heute den
YouTube-Kanal (mit derzeit 38 Videos) eines Herrn X. entdeckt, der meint, mit seinen Erkenntnissen die Physik revolutionieren zu können. Er hat in diesem Zusammenhang auch bereits ein Buch veröffentlicht:
"Die Trägheit: Reale Physik, Eine physikalische Aufklärung".
Die Inhalte der Videos und die Leseprobe des Buches spiegeln ein Verhaltensmuster wieder, das man leider ziemlich häufig beobachten kann: Jemand glaubt, ausgehend von seinen eigenen (meist: Schul-) Physik-Kenntnissen, Fehler oder Lücken in der etablierten Physik entdeckt zu haben, und setzt dann die Grenzen des eigenen Wissens und Verständnisses mit den Grenzen der Physik gleich. Anstelle die Fehler oder Lücken im eigenen Wissen und Verständnis zu suchen, beginnen die betreffenden Personen dann, die etablierte Physik zu "korrigieren". Oft steigern sie sich dann für den Rest ihres Lebens in eine Fantasiewelt hinein, in der sie keinerlei rationalen Argumenten mehr zugänglich sind, und aus der heraus ihnen völlig unverständlich bleibt, warum der Rest der Welt nicht bereit ist, ihre überlegene Genialität anzuerkennen. Da mir von Herrn X. bisher nur die Videos und die Leseprobe des Buches bekannt sind, kann ich nicht sagen, ob er den entsprechenden Point-of-no-return bereits hinter sich gelassen hat. Das zeigt sich meist erst im Rahmen einer Diskussion. Die Indizien sind allerdings bedenklich.
Der Ausgangspunkt von Herrn X.'s Überlegungen ist das -- auch häufig in der Schule behandelte -- Kugel-an-Schnur-Szenario, allerdings mit der Verkomplizierung, dass zusätzlich zum Standardfall auch die auf die Kugel wirkende Gewichtskraft berücksichtigt werden soll:
(
Xiaowen X. am 10.03.2021 -- im Video ca. @01:12)
In seinem Buch schreibt er dazu:
Man hält das Ende eines Seiles, dessen anderes Ende mit einem kleinen Ball verbunden ist, und schleudert es so, dass das Seil waagrecht über dem Kopf kreist, wie in der Abbildung gezeigt.
Nach den bisherigen physikalischen Erkenntnissen sind nur 3 Kräfte in dieser Kreisbewegung erkennbar:
- FN: die Zentripetalkraft die nach links zieht
- FZ: die Zentrifugalkraft, die nach rechts zieht.
- mg: die Erdgravitation, die nach unten zieht.
Die Frage ist nun, wie aus diesen 3 Kräften ein dynamisches Gleichgewicht hergestellt werden kann.
Ohne lange Überlegung können wir bereits feststellen, dass es nach den bisherigen physikalischen Erkenntnissen im 21. Jahrhundert nicht möglich ist, diese Bewegung zu erklären.
Das ist doch eine Blamage und eine Schande für unsere arroganten Wissenschaftler der Moderne.
("Die Trägheit: Reale Physik, Eine physikalische Aufklärung" -- S. 9..10)
Ähm ... nein. Eine derartig
krasse Unterschätzung der etablierten Physik erstaunt mich immer wieder. Diese Bewegung ist ziemlich einfach im Rahmen der etablierten Physik zu erklären, und man braucht dafür noch nicht mal fortgeschrittene Physik-Kenntnisse. Ich hätte es eigentlich gern selbst erläutert, aber aus Zeitgründen möchte ich das in diesem Fall anhand eines Verweises tun. Die Bewegung entspricht im Prinzip der eines
Fliehkraftreglers, für den die Lösung bei
LEIFIphysik (mit Video) erklärt ist. Ich schätze -- auch wenn mir für eine konkrete historische Recherche die Zeit fehlt -- dass die Lösung bereits vor 1800 zum ersten Mal berechnet wurde.
Die tatsächlichen Grenzen der Physik in diesem Teilbereich sind Welten von dem betrachteten Szenario entfernt, wie man an dem vor über 100 Jahren erschienenen vierbändigen Standardwerk
"Über die Theorie des Kreisels" von Felix Klein und Arnold Sommerfeld erahnen kann.
Genauso liessen sich auch alle weiteren vermeintlichen "Neuerkenntnisse" von Herrn X. widerlegen.