Atlantis – prähistorische Hochkultur oder frühester Science Fiction?
18.08.2015 um 18:42
Tja, der Hitzesommer, von dem ich erst dachte, dass er nur ein paar Tage dauern würde, hat mich doch fast 2 Monate lang voll aus den Latschen gekippt (erst unglaubliche Hitze, danach Urlaubsreise). Aber inzwischen sieht's ja wieder ziemlich normal aus und ich nehme den Faden wieder auf, wo er zuletzt gerissen ist. Wir waren bei der Frage, ob "Atlantis" nicht vielleicht Amerika gewesen sein könnte bzw. ob es nicht eine Hochkultur oder zumindest eine Proto-Hochkultur im frühen Amerika gegeben haben könnte. Ich setze meine Überlegungen jetzt fort im Anschluss an den Post auf Seite 5 vom 29. Juni, 22:09 Uhr.
Andere Forscher, besonders die nicht US-amerikanischen, die nicht dieser patriotischen Pflicht unterworfen sind, dass Nordamerika vor Mittel- und Südamerika besiedelt worden sein muss, gehen da wesentlich unverkrampfter mit dem archäologischen und genetischen Befund um und bevorzugen ein Multimigrationsmodell der Besiedlung Amerikas. Offenbar gab es mehrere Einreisewellen auf verschiedenen Wegen, von denen die Einwanderung über Beringia, die vor rund 13.500 Jahren die Clovis-Kultur begründete, nur eine unter vielen war. Demnach waren die Clovis-Leute nicht besonders friedfertig und unterwarfen – teils durch Assimilation, teils möglicherweise gar durch Genozid – die dort bereits ansässige Vorbevölkerung und führten flächendeckend die unter dem Namen Clovis-Kultur bekannte gleichförmige spätpaläolithische Technologie ein, während in Südamerika unterschiedliche Völker, die zu verschiedenen Zeiten auf verschiedenen Wegen das Land besiedelt hatten, nebeneinander lebten, denn der archäologische Befund weist hier einen vielseitigen, eher heterogenen Kulturkomplex auf.
Es wird also zunehmend ein Modell der «langen Chronologie» bevorzugt, welches das Modell der «kurzen Chronologie» (der «Clovis-First-Theorie» und ihrer Derivate) erweitert und ergänzt. Dieses erweiterte Modell, das dem komplexen archäologischen Befund besser Rechnung trägt, versucht zunächst mal diverse Schwächen der «kurzen Chronologie» zu beheben, die darin liegen, dass diese einige Rahmenbedingungen nicht berücksichtigt hat, die aber für eine solide Theoriebildung notwendig sind. So hat die alte (noch gültige) Theorie zwar die Landverbindung Beringia richtig in ihr Modell mit eingebaut, dabei aber unberücksichtigt gelassen, dass der Meeresspiegel damals um mehr als hundert Meter niedriger lag. Einerseits kann es durchaus möglich gewesen sein, dass der Laurentidische Eisschild nicht bis an die (alte) Küste heranreichte – Unterwasserflora, die an der damals sibirischen Ostküste mit der nordwestamerikanischen Pazifikküste identisch ist, weist auf eine durchgehend eisfreie Küste selbst während des Eismaximums der letzten Eiszeit hin –, was zur Folge gehabt hätte, dass Amerika zu allen Zeiten entlang der Küste von Nord nach Süd oder auch umgekehrt bereist werden konnte, jedenfalls auf dem unmittelbaren Küstenstreifen. Von dort konnte man auf dem Weg nach Süden (oder nach Norden) die eisfreien Korridore durchqueren, die ins Landesinnere führten.
Vor allem aber öffnet dieses Modell der «langen Chronologie» diverse Erklärungsmöglichkeiten anderer Besiedlungsformen, insbesondere was die Erstbesiedlung Südamerikas angeht. Sowohl Knochenfunde als auch archäologische Artefakte lassen darauf schließen, dass Teile Südamerikas, besonders Brasilien, schon sehr früh, nämlich vor 50.000 bis 40.000 Jahren, von Proto-Australiden, den so genannten «Pre-Siberian American Aborigines» besiedelt worden sein könnte , nämlich den Nachkommen jener Migrationswelle, die vor 65.000 Jahren Afrika verließ, entlang der Küste des Indischen Ozeans über Indien, Südostasien und Sunda(land) nach Sahul (Neuguinea und Australien) wanderte. Möglicherweise könnten einige von ihnen über Tasmanien entlang des antarktischen Schelfeises via subantarktischem Insel-Hopping über den Südpazifik nach Feuerland (archäologische Funde in Tierra del Fuego) gekommen und von dort Südamerika von Süd nach Nord besiedelt haben. Die DNA einiger indigener Südamerikaner weist in diese Richtung. Wie schon an anderer Stelle erwähnt, ließ sich anhand prähistorischer Knochenfunde in Nordostbrasilien ein australider Menschenschlag rekonstruieren, der nahezu identisch ist mit den heutigen australischen Aborigines. Das würde bedeuten, dass es sich hierbei wohl um die ersten Menschen handelte, die jemals amerikanischen Boden betreten hatten, weit vor allen anderen. Es würde bedeuten, dass nicht Amerika, sondern Europa als letzter aller Kontinente vom anatomisch modernen Menschen besiedelt wurde. Die Anthropologin Christy Turner schreibt in dem Aufsatz «Teeth, Needles, Dogs and Siberia: Bioarchaeological Evidence for the Colonization of the New World» (2002) , dass die Analysen einiger prähistorischer Schädel aus Brasilien verblüffende Ähnlichkeiten mit den Aborigines aufweisen und eine sehr frühe Besielung Amerikas durch «Australiden» nahe legen. Einer der ersten Knochenfunde (allerdings erst 12.000 Jahre alt), dem man den Namen «Lucia» gab, brachte bei der forensischen Rekonstruktion des Schädels eine typisch negroide Gesichtsform hervor. Daraus schließen die Anthropologen, dass es sich hierbei um die Knochen eines weiblichen Nachfahren der frühen Migrationswelle handelte, die von Afrika nach Australien führte und dann wohl weiter nach Amerika.
Die Frage ist somit gar nicht mehr, ob die frühe Migrationswelle, die Afrika vor rund 65.000 Jahren verließ und etwa 10.000 Jahre später Australien erreichte, auch nach Amerika weiter wanderte oder nicht, sondern eigentlich nur noch die, ob die Leute Amerika von Australien aus über Feuerland von Süd nach Nord besiedelten, oder ob sich – dies korreliert besser mit dem «klassischen Modell» – die Vorfahren jener Pioniere, die erstmals Amerika betraten und besiedelten, jenem Migrantenzweig anschlossen, der von Südostasien aus sich nicht nach Südosten Richtung Australien wandte, sondern die nördliche Route einschlug, die asiatische Pazifikküste hoch nach Beringia und von dort die amerikanische Westküste südwärts nach Südamerika. Demnach wären diese «Proto-Australiden» ziemlich zügig nach Meso- und Südamerika gezogen und hätten zunächst das tropische Südamerika zwischen dem nördlichen Peru, Kolumbien, Venezuela und der nördlichen Hälfte Brasiliens besiedelt, wo man ja auch die ältesten Funde machte, die bis 52.000 Jahre zurück datieren. Dies wäre dann also die Urbevölkerung Amerikas gewesen.
Bei logischem Nachdenken erscheint dies auch als die wahrscheinlichste Hypothese zur Erstbesiedlung Amerikas, weil sie
• mit den wenigsten Zusatzannahmen auskommt. Der einzige Zusatz wäre, dass diese frühe Migrantenwelle, die vor ca. 60.000 bis 55.000 Jahren Südostasien erreichte und sich dort aufgabelte in einen südlichen Zweig, der über Sunda(land) nach Sahul wanderte und in einen nördlichen, der bis nach China und Japan kam, wie das allseits akzeptierte «klassische Modell» vorsieht, dort nicht Halt machte, sondern zumindest ein Teil von ihnen über Beringia weiter wanderte nach Amerika;
• sämtliche archäologischen Funde erklären kann, die bisher noch für «Ausreißer» in eine zu tiefe Vergangenheit, für Messfehler oder «Launen einer kreativen Natur» gehalten werden;
• eine Erklärung für die «australide» Anatomie einiger Skelette und Schädel ebenso wie für die «exotische» DNA einiger Südamerikaner anbietet.
Auf jeden Fall dürfte der Weg mit Booten oder kleinen Schiffen kein unüberwindbares Hindernis gewesen sein, denn der Fakt, dass die Migranten das offene Meer zwischen der südöstlichen Küste des Subkontinents Sunda(land) und der nordwestlichen Spitze des Inselkontinents Sahul, die durch die «Weber-Linie» getrennt war, die an der engsten Stelle immer noch 90 Kilometer breit war, problemlos überwanden, lässt darauf schließen, dass auch die Menschen vor 60.000 Jahren bereits zur Hochseeschifffahrt grundsätzlich in der Lage waren. Dann ist es nicht allzu aberwitzig zu folgern, dass es auch möglich gewesen ist, Südamerika von Südostasien aus über Melanesien und die polynesischen Inseln zu erreichen, auch wenn das eine ganz andere Distanz ist. Trotz aller archäologischen und zumindest in Einzelfällen auch genetischen Evidenz ist die Theorie der «Pre-Siberian American Aborigines» ebenso wie die Annahme einer Besiedlung Amerikas von See her für die Fachwelt kein Thema und wird von den meisten Historikern rundweg abgelehnt. Zumindest wird aber eine Besiedlung Amerikas von Südostasien entlang der Küsten von der Fachwelt nicht mehr ausgeschlossen, da zahlreiche genetische Hinweise, bspw. die indigenen Haida an der Nordwestküste Amerikas, die eine genetische Nähe zu Südostasiaten aufweisen, und archäologische Funde wie z.B. Pikimacher Höhle in Peru und Monte Verde in Chile, dieses Modell nahe legen.
Wenn schon die Frage nach der Erstbesiedlung und möglichen weiteren Besiedlungen Amerikas zu verschiedenen Zeiten die Altertumsforscher vor nahezu unlösbare Probleme stellt, wird das Dilemma bei der Frage nach einer potenziellen höher entwickelten Kultur unübersichtlich, auch wenn dies kein Thema für Geschichtswissenschaftler ist, sondern nur für «Grenzwissenschaftler», die ja nicht weniger als nach einer verborgenen Hochkultur suchen, die mit Platons Atlantis gemeint sein mag. Immerhin hat ein amerikanisches Atlantis den Vorteil, dass es geografisch irgendwie passt und dass die bösen Atlanter, wollten sie in die alte Welt einfallen und das Mittelmeer bis Ägypten hin aufrollen, gar nicht anders konnten als durch die Straße von Gibraltar einzudringen.
Das größte Dilemma für jene Atlantis-Theoretiker, die Atlantis mit der Clovis-Kultur gleichsetzen wollen, liegt in erster Linie darin, dass die Clovis-Kultur möglicherweise tatsächlich katastrophisch untergegangen ist, aber dennoch niemals das von Platon beschriebene bronzezeitliche Atlantis gewesen sein kann, denn die Archäologen kennen die Clovis-Kultur zu gut, als dass sie etwas anderes als eine späte jungpaläolithische Kultur, die es in der Präzision steinzeitlicher Waffen und Werkzeuge zwar nahezu zur Perfektion gebracht hat, aber zu mehr eben auch nicht, auch nur eines zweiten Gedankens würdig erachten würden. Alles andere als eine hoch entwickelte späte Altsteinzeitkultur ist daher für Clovis grundsätzlich auszuschließen.
Eigentlich beginnt dieses Dilemma schon mit der Genese der Clovis-Kultur, denn es gibt ja die bekannte, 1998 von den Archäologen Dennis Stanford vom Smithsonian Institut und von Bruce Bradley von der Universität Exeter aufgestellte Solutréen-Hypothese, wonach die Clovis-Leute eigentlich Europäer aus Südfrankreich und Nordspanien waren, die zur Zeit des Solutréen vor etwa 19.000 Jahren entlang der Schelfeisgrenze des teilweise zugefrorenen Nordatlantiks in Kajaks aus Tierfellen, wie sie auch von den Inuit benutzt werden, nach Amerika gezogen sein und dort die Clovis-Kultur begründet haben sollen. Sie machen das an dem archäologischen Befund fest, dass die Werkzeuge, insbesondere die Klingentechnologie der Clovis-Kultur auf frappante Weise derjenigen Europas aus der Zeit des Solutréen ähnelt, zumal es diese Technologie der zweischneidigen Speerspitzen in jener Epoche nirgendwo sonst auf der Welt gab als eben in Europa und Nordamerika. Eine weitere Übereinstimmung liegt im Gebrauch von Nadeln aus Fischgräten, wie es sie auch nur in den beiden Kulturen gab. Zudem wird die Hypothese mit dem Argument gestützt, dass es sich bei den Funden von Cactus Hill, die auf ein Alter von 15.000 – 17.000 Jahren geschätzt werden, um eine Übergangstechnologie gehandelt haben dürfte, die genau in der Mitte zwischen den Kulturen von Solutréen und Clovis anzusiedeln sein soll, sowohl technologisch wie zeitlich. Auch andere Funde in Page-Ladson in Florida und im Meadowcroft Rockshelter in Pennsylvania sollen diese Zwischenstufe aufweisen. In einem Artikel des Fachmagazins American Journal of Human Genetics widersprach ein brasilianisches Forscherteam jedoch der Solutréen-Hypothese. Genetische Analysen hätten gezeigt, dass die Haplogruppe X zusammen mit den anderen vier großen mtDNA-Markern A, B, C und D dem Genpool einer einzigen indigenen amerikanischen Gründerpopulation entspringt, die in dieser Kombination nicht aus Europa importiert sein kann. Zudem macht die große geografische und zeitliche Differenz – Clovis entstand erst rund 5000 Jahre nach dem Zeitpunkt der mutmaßlichen Auswanderung aus Europa – die These von Clovis als der Fortsetzung der Solutréen-Kultur auf amerikanischem Boden äußerst fragwürdig, mal ganz abgesehen von den nahezu unüberwindbaren Schwierigkeiten, die eine Atlantiküberquerung mit der damaligen Technologie bereitet hätte. Außerdem macht die Forscher stutzig, dass die «Seefahrer» unterwegs ihren gesamten Sinn für die schönen Künste verloren haben mussten, denn die kunstfertigen Malereien, wie sie die Höhlen von Lascaux in Südfrankreich und Altamira in Spanien schmücken, haben kein Pendant in der Clovis-Kultur, aber auch alle anderen prägenden kulturellen Eigenarten, die die Solutréen-Kultur so einzigartig machten. Nichts davon ist in Clovis zu finden.
Doch dieser ernüchternde Befund, dass die Clovis-Kultur zwar eine technologisch hoch stehende Steinzeitkultur war – nicht weniger aber auch nicht mehr –, aber nicht einmal die künstlerisch-kulturelle Höhe der rund 7000 Jahre älteren auch nur annähernd erreichte, lässt jegliche Hoffnung auf ein Clovis, das die von Platon in so bunten Farben schwelgende bronzezeitliche Kultur seines Atlantis auch nur ansatzweise erreicht haben könnte, um als Vorlage für selbiges gedient haben zu können, obsolet erscheinen. Clovis kann Atlantis nun definitiv nicht gewesen sein.
Und das ist nur das vordergründigste Problem, denn wenn es ein amerikanisches Atlantis gegeben haben soll, kann es nur eine der Vorgängerkulturen gewesen sein, die aber, wie wir wissen, allesamt von Clovis assimiliert, überrannt und teilweise wohl auch ausgemerzt wurden. Ich sprach weiter oben vom möglicherweise ersten Genozid in der Menschheitsgeschichte. Bekanntlich haben Metalle an der Luft nur eine vergleichsweise kurze Lebensdauer, von daher ist es nicht verwunderlich, dass es keine Metallfunde aus einem «steinzeitlichen» Amerika gibt, was also nicht grundsätzlich gegen eine Metallanwendung spricht. Allerdings wäre eine Kultur, die nicht nur Werkzeuge, sondern auch Waffen aus Metall herzustellen versteht, jeder steinzeitlichen Kultur in jeder Hinsicht, nicht zuletzt militärisch, dermaßen himmelweit überlegen, dass eine vergleichsweise primitive Steinzeitkultur wie Clovis sich niemals gegen eine von ihnen durchsetzen und den gesamten Kontinent Nordamerika vereinnahmen hätte können. Dies ist das schlagende Argument gegen eine hoch entwickelte Vorgängerkultur: Der Fakt, dass es Clovis gab, macht jede Spekulation über eine höhere frühe Kultur, die man «Atlantis» nennen könnte, hinfällig.
Aber was für Nordamerika gilt, muss ja noch lange nicht auch auf Südamerika anwendbar sein. Richtig. Es ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass es in einer Epoche, die wir das Neolithikum nennen, oder auch schon im Jungpaläolithikum in Südamerika eine hoch entwickelte Bronzekultur gegeben hat oder gar schon eine, die Herstellung und Gebrauch des Eisens kannte. Und dem Einwand, dass der archäologische Beweis hierfür fehlt, kann man immer mit der kurzen Lebensdauer von oxidierenden Metallen begegnen. Nur leider funktioniert so Wissenschaft nicht, die für eine Behauptung nun mal eben einen positiven Beweis bringen muss, und wenn der wie bei Metallen so nicht geht, muss derjenige, der so eine These aufstellt, einen Hilfsbeweis bringen, der die These stützt, etwa aus anderen Bereichen des kulturellen Spektrums, wie etwa Inschriften in Stein oder die in Stein gehauene Darstellung eines geräderten Streitwagens oder eines anderen Gefährts mit Rädern, so dass wir wissen, es gab eine Kultur, die war der Schrift mächtig, und eine andere, die immerhin die Erfindung des Rads schon hinter sich hatte. So etwas wäre geeignet für eine Atlantis-Theorie Amerika. Doch außer einer höchstwahrscheinlich gefälschten phönizischen Inschrift (aus dem brasilianischen Parahyba) gibt es keinen Hinweis auf eine indigene amerikanische Schrift vor den ersten bekannten Hochkulturen.
Auch hier lässt sich natürlich wieder argumentieren, dass erstens nicht jedes antike Volk seine Schriften in Stein meißelt, um sich selbst ein Denkmal zu setzen, und dass wir eben nur jene Regionen kennen, die zu allen Zeiten über dem Meeresspiegel lagen, nicht aber jene einstigen großflächigen Regionen besonders in Mittelamerika (Karibik), die in der Eiszeit ebenfalls zum Festland gehörten und wohl von einigen Kulturen besiedelt gewesen sein dürften. Was, wenn es dabei nicht die eine oder andere (Proto-)Hochkultur getroffen hätte? Gegen solcherlei Einwände wurde ja schon an anderer Stelle argumentiert; wenigstens in dieser Hinsicht macht Amerika keine Ausnahme. Zudem ist in Amerika, auch in der Karibik, anders als in Asien, Südostasien oder gar Indonesien, die Gefahr, dass hier eine größere Landmasse nicht allmählich durch den Meeresspiegelanstieg, sondern kataklysmisch, in Verbindung mit einem verheerenden Tsunami untergegangen sein könnte, vergleichsweise gering. Keiner der drei Ozeane ist tektonisch so «ruhig» wie der Atlantik, weil der anders als die anderen beiden Ozeane ja nur eine Spreizzone am Mittelatlantischen Rücken kennt, aber keine Subduktionszone, weshalb Atlantis ja auch nicht im Atlantik untergegangen sein kann. Ähnliches gilt für die Karibik, die ja auch nur ein Randmeer des Atlantiks ist, wenn auch auf einer anderen Platte, der karibischen Platte. Daher kommt es hier bisweilen zu Erdbeben, so wie zuletzt in Haiti. Im Osten der karibischen Platte gibt es auch eine Subduktionszone gegenüber der nord- und südamerikanischen Platte, die unter die karibische taucht; betroffen hiervon sind die Kleinen Antillen. Es könnte also in Verbindung mit dem Meeresspiegelanstieg durchaus Tsunamis gegeben haben, allerdings wohl nicht so verheerende wie z.B. in Indonesien und entlang des «Feuergürtels» im Pazifik. Somit erscheint die Gefahr, dass eine der frühen amerikanischen Kulturen von einer Naturkatastrophe biblischen Ausmaßes heimgesucht worden ist, zwar gering, aber nicht ausgeschlossen. Für Megatsunamis braucht es schwere Seebeben; die Gefahren in der Karibik rühren aber eher von den noch 17 aktiven Vulkanen her und von Erdbeben, die ebenso wie die Vulkane keine Tsunamis auslösen.
Eine seltene, dafür aber große Gefahr für die Bildung eines oder mehrerer Megatsunamis ist allerdings im Atlantik und der Karibik genauso groß wie auf allen Meeren: durch Impakt eines abstürzenden Asteroiden. Je nach Größe und Nähe der Einschlagstelle zu einer bewohnten Küstenregion kann es ganz verheerende Verwüstungen geben.
Und hier betreten wir den Bereich der Spekulation und der Legenden. Man liest immer wieder in grenzwissenschaftlichen Foren, dass es gerade bei den Indianern der US-amerikanischen Süd- und Oststaaten, eben jenen am Rand der Karibik, Legenden von einem furchtbaren Impakt (wahrscheinlich in den südlichen Teil des Nordatlantiks auf Höhe Florida/Bahamas) gegeben haben soll, doch solche Berichte erscheinen stets ohne Quellenangabe, so dass die Gefahr, dass es sich dabei um eine weitere dieser urban legends handelt, wesentlich größer erscheint als dass es diese Indianersagen tatsächlich gibt: Einer stellt diese Behauptung in ein GreWi-Forum, andere lesen es und kolportieren die Geschichte in ein weiteres Forum, wo sie wiederum von anderen aufgeschnappt und weiter aufgepäppelt mit eigenen Zutaten an Übertreibungen, in weitere Foren Eingang findet und so wie eben ein Impakt im Meer immer weitere Wellen schlägt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein großer Asteroid auf die Erde fällt, ist weltweit gleich hoch, und damit ist die Gefahr, dass der Brocken ins Wasser fällt statt auf Land aufschlägt, dreimal so groß wie für den Einschlag auf Land. Oder, um es mal flapsig zu formulieren: Diese Erkenntnis bringt uns keine neuen Erkenntnisse. Wir können ohne neue Erkenntnisse über die genaue Meeresbodengeografie des Atlantiks und der karibischen See nichts neues über einen potenziellen größeren Impakt aus den letzten 50.000 Jahren erfahren, und so weit ich weiß, ist der Meeresboden längst gescannt.
Gänzlich ausgeschlossen ist die Möglichkeit, dass durch einen verheerenden Tsunami in geschichtlich relevanter Zeit (die letzten 50.000 Jahre) eine ganze Kultur in einer küstennahen Region ausgelöscht wurde, also nicht, aber das betrifft eben auch alle anderen Regionen auf der Erde. Es bringt uns keinen Schritt weiter in der Frage, ob es eine frühe amerikanische höhere Kultur oder gar Hochkultur gegeben haben könnte, die durch ein von einem Seebeben oder einem Impakt ausgelösten Megatsunami wie ein Ozeanriese nachgerade «versenkt» worden ist. Eine weitere schwache Möglichkeit wäre die bereits beschriebene Bermudadreieck-Vermutung, die es aber wohl nie auch nur zum Status einer Hypothese schafft. Sofern nicht irgendwann neue Zufallsfunde auftauchen, die uns neue Erkenntnisse bringen, bleibt diese Frage wohl für immer unbeantwortbar.
Da hilft uns auch das schön grausige, theatralisch für einen Katastrophenthriller inszenierbare Ende der Clovis-Kultur nicht weiter, ganz egal ob sich hierzu Sagen und Legenden über Jahrtausende erhalten haben oder nicht, denn Clovis war nun mal keine Hochkultur, sondern eine Steinzeitkultur, wenn auch auf hohem Niveau für Steinzeitverhältnisse. Und es gab keinen Tsunami. Das Ende der Clovis-Kultur ist ebenso bekannt wie umstritten. Angeblich soll vor rund 12.800–12.900 Jahren ein Stein-Asteroid oder ein Meteorit mit großem Chondrit-Anteil über Nordamerika im Bereich der heutigen Großen Seen mit einer vielfachen Gewalt des Tunguska-Boliden wahrscheinlich in der Atmosphäre explodiert und die Trümmer dort eingeschlagen sein. Alternativ könnte es sich auch um einen «schmutzigen» Kometen mit 50–100 km Durchmesser gehandelt haben. Darauf deutet an verschiedenen Orten aus jener Region abgenommene Gesteinsproben hin, die Milliarden von Nanodiamanten enthalten; zudem weist die betroffene Bodenschicht Karbon, Iridium, Ruß und mit Helium angereicherte Fullereme auf – alles Zeichen für einen Impakt. Jeder Kubikzentimeter des Gesteins hat bis zu einer Milliarde dieser Nanodiamanten, die nur durch eine schockartige Kristallisation unter einem unermesslich hohen Druck entstanden sein können, wie dies bei einem Impakt in unmittelbarer Nähe der Fall ist. Zusätzlich gestützt wird die Impakt-Theorie durch große Mengen von Iridium in der oberirdischen Gesteinsschicht, aber auch durch einen signifikant erhöhten Metallanteil in den Stoßzähnen und Skeletten von Mammuts, die man in jener Region gefunden hat. Dieser Vorfall hat in der Atmosphäre einen Feuersturm ausgelöst, der sie jahrlang mit Ruß, Asche und Dunst verfinstert hat mit einem schockartigen Temperatursturz, der noch mal einen Rückfall in die Eiszeit brachte und nicht zuletzt auch der Clovis-Kultur ein jähe Ende beschert haben soll. Gleichzeitig mit dem Ende von Clovis verzeichnete Nordamerika ein Aussterben der Megafauna (Mammuts, Hirschelche, Riesenfaultiere und der Canis dirus, ein Verwandter des Wolfs), vom Großwild blieben nur Bison und Grizzlybär erhalten. Man machte für dieses Aussterben eine Zeitlang Überjagung durch die Clovis-Leute und die gleichzeitige, leicht später angesetzte Folsom-Kultur verantwortlich; inzwischen geht man davon aus, dass die Megafauna eher dem Kälteschock zum Opfer fiel. Der mutmaßliche Impakt soll ein wahres Naturchaos ausgelöst haben: Ein Teil des östlichen Laurentidischen Eisschilds soll abgebrochen sein und sich zusammen mit dem Schmelzwasser der dortigen Gletscherseen, deren Dämme brachen, ins Arktische Meer ergossen haben. Dieser jähe Eintrag von über einer Million Kubikkilometer Süßwasser brachte abrupt den Golfstrom zum Erliegen und verursachte die ca. 1300 Jahre dauernde Kaltzeit der Jüngeren Dryas mit einem Temperatursturz von 6 bis örtlich (in der Polregion) 15 Grad. Dieser Kälteschock war offenbar zu viel für die armen Großtiere. Zudem soll der Impakt einen verheerenden Flächenbrand ausgelöst haben, der teilweise bis zum Pazifik reichte. Diese Hypothese ist umstritten und wird von der Fachwelt überwiegend abgelehnt. Offenbar überlebten von den Clovisianern nur diejenigen, die entfernt genug wohnten, also jene, die im heutigen Südwesten der USA lebten (Südkalifornien, Nevada, Arizona, New Mexico) und in Mexiko.
Falls für den Klimasturz in die Jüngere Dryas und das Aussterben der Megafauna es eines Impakts überhaupt bedurfte. Gesichert ist nur, dass es einen Abbruch des Laurentidischen Eisschilds gab, dass der Lake Agassiz kataklysmisch über- und/oder ausfloss, dass sich kataklysmisch und sehr spontan eine gigantische Menge Süßwasser ins Polarmeer und von dort in den Nordatlantik ergoss, was zum Zusammenbruch des Golfstroms führte und die letzte Phase der Eiszeit auslöste, eben die Jüngere Dryas, dass es zum Massenaussterben der Megafauna kam und dass die Clovis-Kultur zumindest im Bereich des heutigen Kanada und der Nordstaaten der USA ein abruptes Ende fand und (später) durch die Folsom-Kultur assimiliert, übernommen und ersetzt wurde.
Inzwischen werden Zweifel an der Impakt-Hypothese laut. Für die Zeit unmittelbar nach dem mutmaßlichen Impakt lässt sich kein demographischer Zusammenbruch in den Populationen der Paläoindianer feststellen, der kausal mit der Katastrophe zusammenhängen könnte. Daher wird vorgeschlagen, die Impakt-Hypothese, die aufgrund der Bodenproben ja auch nahe liegt, jedenfalls nicht auszuschließen ist, leicht zu modifizieren, denn es lässt sich kein geologischer, biologischer und archäologischer Hinweis auf die behaupteten Flächenbrände finden , deshalb muss es für die verschmutzte Bodenschicht (Karbon, Ruß, magnetische Minerale, Iridium und die Nanodiamanten) eine andere Erklärung geben, die notfalls auch ohne einen Einschlag aus dem Weltall auskommt.
Wenn das Massenaussterben der Megafauna auf einen Impakt zurückzuführen sein soll, hätte es weltweit simultan erfolgen müssen als spontane Reaktion auf die Katastrophe. Die ist aber nicht der Fall, sondern geschah zwischen Nordamerika, Nordeurasien und Südamerika zu stark zeitversetzt. Hier herrscht noch weiterer Forschungsbedarf. Zudem kann die Katastrophentheorie nicht erklären, wieso der (angebliche oder tatsächliche) Impakt nur die Megafauna ausgelöscht, die mittleren und kleinen Säugetiere aber verschont hat. Auch sind nicht alle Großtierarten ausgestorben; Bisons und Grizzlies blieben ebenfalls unbetroffen. Schließlich wenden die Skeptiker noch ein, dass die Karbonklümpchen auch das karbonisierte Resultat einstiger Pilze und von Insektenkot sein kann.