Atlantis – prähistorische Hochkultur oder frühester Science Fiction?
20.08.2015 um 23:06
So, Micha007, jetzt kommt das letzte Wandplakat und dann hören die langen Texte auf und es geht in die Theorie. ;)
Bisher haben wir ja nur die Schelfmeere untersucht, aber könnte es nicht sein, dass sich eine frühe eiszeitliche Kultur auch im Landesinnern gebildet hatte und dann durch einen Dammbruch und die herabstürzenden Fluten des großen Gletschersees einfach überspült worden waren wie ein Ameisenhaufen, auf den man einen Eimer Wasser kippt? In Nordamerika gab es gegen Ende der Eiszeit gigantische Binnenseen aus Schmelzwasser, einige, wie der Lake Objidway, waren größer als Spanien. In Zentralasien waren diese Binnenseen, eigentlich Binnenmeere, noch viel größer, von denen das Kaspische Meer und der Aralsee nur noch die kläglichen Überreste sind. Wenn wir also schon in den tropischen Regionen ohne genauere Analyse der Schelfmeerböden keine Hinweise auf eine frühe höhere kulturelle Entwicklung finden, könnte man es ja vielleicht mal mit dem Binnenland versuchen, auch wenn das asiatische Binnenland während der Eiszeit nur spärlich bevölkert war und sich der Löwenanteil der Erdbevölkerung – mutmaßlich 80–90% – wohl in den Regionen rund um den warmen Indik ballte. Wenn wir vom Untergang einer Kultur, und zwar von einem kataklysmischen Untergang einer höheren Kultur reden, dann fand dieser Untergang doch wohl erst im feuchtwarmen Holozän mit seinen vielfachen Überschwemmungskatastrophen statt. Bekanntlich wanderten die Altvorderen mit der Flora und Fauna, und diese wiederum mit den Klimazonen. Daher war es nicht verwunderlich, dass sich Flora, Fauna und Menschen während der Eiszeit rund um den tropisch-subtropischen Indik ballten. Mit dem jähen Ende der Eiszeit und dem Sprung der Klimazonen, der Flora und Fauna und damit der Lebensgrundlage um mehr als 1000 Kilometer nach Norden blieb auch dem Menschen nichts anderes übrig, als diesem Trend zu folgen, um nicht zu verhungern. Doch dies war nicht so einfach, denn die großen Säugetiere wie etwa die Mammuts starben schneller weg, als der Mensch ihnen folgen konnte. Im Alten Orient von der Levante bis Anatolien und Persien ging die Nahrungsgrundlage so radikal verloren, dass der Mensch zu ebenso radikalen Mitteln greifen musste und, erzwungen von der Natur, eine Neolithisierung wider Willen begann – mit größtem Erfolg für die Zivilisationsentwicklung und immer noch unabsehbaren Technologiefolgen und Klimaentwicklungen.
Wer sich nicht sofort neolitisierte – und dies war der große Rest der Welt, besonders in Südasien – zog nordwärts in die nicht von den Flutkatastrophen betroffenen Gebiete und nun auch nachhaltig ins Binnenland bis hoch nach Sibirien. Aber auch in Zentralasien entwickelten sich zahlreiche neolithische Kulturen mit einem Mix aus dem gewohnten Wildbeutertum, aber auch Ansätzen von Ackerbau und vor allem Viehzucht, die aber selbst in der auch hier um 3000 BC einsetzenden Bronzezeit noch Halbnomaden waren bei gleichzeitig schon sehr hoch entwickelter Kultur; besonders herauszuheben die Oasenkultur (BMAC) im heutigen Turkmenistan und die Andronovo-Kultur nördlich davon, die das gesamte heutig Kasachstan bedeckte, aber auch noch weitere Regionen im Norden und Osten und bis Südwest-Sibirien, West-China und die Mongolei reichte. Östlich davon, aber westlich und nordwestlich der Chinesen, lebten die ursprünglichen Turkvölker und Mongolen. Dies waren schon recht hoch entwickelte Kulturen mit teilweise Ansätzen zu einem Schriftsystem – einige Historiker räumen der Oasenkultur gar den Status einer Hochkultur ein –, aber auch dies führt uns bei der Suche nach einer untergegangenen frühen (Proto-)Hochkultur nicht weiter, denn diese Kulturen blühten zeitgleich mit dem alten Ägypten, Sumer, Elam, der minoischen Hochkultur, der Indus-Kultur und zahlreichen hoch stehenden bronzezeitlichen prädynastischen chinesischen Kulturen. Man darf davon ausgehen, dass auch die berühmte Seidenstraße mindestens seit Beginn der Bronzezeit besteht, möglicherweise aber auch schon seit dem Neolithikum.
Aber all diese frühen bronzezeitlichen Proto-Hochkulturen im Zentralasien helfen uns bei der Atlantis-Suche leider nicht weiter, denn sie waren eben zeitgleich mit den klassischen frühen Hochkulturen weiter südlich und südwestlich am Rand des Indischen Ozeans. Die Atlantis-Theoretiker aber postulieren ja eine Vorläuferkultur, die allen bekannten Hochkultur zeitlich voraus ging, aus der diese dann nichts anderes als Offsprings waren, Erben der großen, alten, unbekannten Mutter-Kultur. Wir müssen zeitlich also tiefer graben, aber da gibt es eben nicht genügend archäologische Funde, die auf mehr als Steinzeit hinweisen.
Vielleicht kommt man dem Kern der Frage über einen Umweg näher, indem wir uns auch in Bezug auf Zentralasien mal die Klima- und Naturgeschichte anschauen. Die eben erwähnten neolithischen und bronzezeitlichen Kulturen lebten überwiegend in der riesige Tiefebene, die sich vom östlichen Rumänien über die Schwarzmeer-Region und das ukrainische Tiefland, die Manytschniederung zur Kaspischen Senke incl. Kaspischem Meer und weiter über das gesamte Karakum bis zu den Ausläufern des Pamirs erstreckt, der bereits an China grenzt, und die von West nach Ost zunehmend trockener wird, vom fruchtbaren Lößboden der Ukraine über die Steppenlandschaft Kasachstans bis in die wüstenähnliche Karakum-Tiefebene. Große Areale dieses riesigen Gebiets liegen auf Höhe des Meeresspiegels oder noch darunter. Wenn sie nicht so weit vom Meer entfernt lägen, wären sie nachgerade prädestiniert für Überschwemmungen und Flutkatastrophen.
In Wirklichkeit war der fehlende Zugang zum Weltmeer gar kein Hinderungsgrund, im Gegenteil.
Und damit kommen wir zu einer der interessantesten Atlantis-Theorien, die leider ebenso falsch wie interessant ist, nämlich der beiden unter den Pseudonymen Flying Eagle und Whispering Wind auftretenden Amerikaner, die ihre Atlantis-Hypothese im Jahr 2004 in einem ebenso spektakulären wie brillant aufgemachten Internet-Auftritt publik machten.
Man vergegenwärtige sich die besondere geographische Situation in Westasien/ Südrussland gegen Ende der letzten Eiszeit, als vor 11500 Jahren die jüngere Dryas endete und die Temperaturen abrupt und markant stiegen. Die riesigen Gletschermassen Nordrusslands und Skandinaviens begannen im Eiltempo abzuschmelzen; dabei füllte sich nicht nur das nahezu ausgetrocknete Becken des Schwarzen Meers, sondern auch die Kaspische Senke. Das Kaspische Meer – heute das größte Binnenmeer der Welt – war am Ende der Eiszeit ebenfalls nahezu ausgetrocknet, wobei der tiefste Teil dieser Kryptodepression, wie man solch eine binnenländische Senke nennt, 1023 Meter unter NN liegt. Die Kaspische Senke, in die das Kaspische Meer eingebettet ist, ist heute viermal so groß wie das Kaspische Meer selbst. Man kann sie sich sogar noch nach Osten erweitert vorstellen als Aral-Kaspi-Senke mit einer Verbindung zum Aralsee. Nach Nordwesten hin öffnet sich die Kaspische Senke zur Manytschniederung, die eine Art Tieflandbruch zum Schwarzen Meer darstellt. In diesen ersten 500 oder 1000 Jahren nach Beginn der Warmzeit füllte sich neben den Seebecken nicht nur die Kaspische Senke nach und nach mit Wasser. Auch die Manytschniederung versank in den Fluten, so dass das Kaspische Meer in Richtung Westen über diese Niederung mit dem Schwarzen Meer verbunden war ; in Richtung Osten bestand innerhalb der Aral-Kaspi-Senke auch eine Verbindung zum Aralsee. Eine Verbindung zum Weltmeer bestand jedoch nicht, da das Schwarze Meer zum Zeitpunkt seiner Verbindung mit dem Kaspischen Meer nach gängiger Lehrmeinung durch den Isthmus am Bosporus vom Mittelmeer getrennt war. Man stelle sich das einmal vor: Der gesamte Raum vom östlichen Rumänien bis zu den Füßen des Pamir- und des Tienschan-Gebirges, das bereits zu China gehört, stand im frühen Holozän unter Wasser, eine Fläche mindes-tens so groß wie das Mittelmeer! Dies hatte, um es noch mal zu betonen, nichts zu tun mit dem Anstieg des Meeresspiegels (der zu jener Zeit im frühen Holozän noch recht mickrig war), sondern war ausschließlich den massiv und schnell abtauenden Inlandsgletschern zu verdanken, die das riesige west- und zentralasiatische Becken füllten.
Und was hat das alles mit Atlantis zu tun? Nach Flying Eagle und Whispering Wind lag Atlantis nordöstlich der Krim, nämlich genau in dem Gebiet, das heute vom Asowschen Meer, dem nördlichen Nebenmeer des Schwarzes Meers, bedeckt wird, und die Hauptstadt von Atlantis lag just an jenem Höhenzug der östlichen Krim, der zuvor das kleine Schwarze Meer von dem trockenen Becken des späteren Asowschen Meers im Norden durch einen Isthmus trennte und der heute von der schmalen Meerenge von Kertsch durchbrochen ist.
Nach gängiger Lehrmeinung wurden alle diese Tiefebenen und Senken kontinuierlich geflutet, also nach und nach, so dass die Bewohner Zeit genug hatten, ihre angestammten Reviere zu verlassen und sich in höher gelegenen Regionen neu anzusiedeln. Nichts Katastrophisches. Es gäbe also nichts her für eine Kataklysmustheorie, die einem dieses angenehm kribbelnde Gänsehautfeeling verschafft, das sich immer dann anstellt, wenn man von Katastrophen lesen kann, daheim am knisternden Kaminfeuer, die anderen widerfahren sind. Also musste ein Mega-Erdbeben den Kontinent erschüttern, damit Flying Eagle's und Whispering Wind's asiatisches Atlantis hollywoodartig untergehen konnte. Es reichte also nicht, dass die Manytschniederung, langsam überflutet wurde, sondern ein schweres Erbeben musste ein wenig nachhelfen, um den armen Atlantern den Fluchtweg vor den hereinstürzenden Wassermassen abzuschneiden und sie allesamt untergehen zu lassen mitsamt ihrer Metropole und der ganzen Hochkultur, um Platons Text erfüllen zu können, der zu der Zeit noch 9000 Jahre brauchte, um geschrieben zu werden und hiervon zu berichten. Das Erdbeben war nötig, um den Tsunami produzieren zu können. damit dieser die Katastrophe bringen konnte. Ohne Erdbeben und Tsunami hätte es noch Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte gebraucht, um das Asowbecken, das «Farmland Atlantis», wie die beiden Autoren diese Ackerbau treibende epipaläotlitische Hochkultur beschreiben, unter Wasser setzen zu können.
Doch damit nicht genug. Dieser Tsunami hatte die unvorstellbare Kraft, durchs gesamte noch fast wasserlose Schwarzmeerbecken zu stürmen, den Isthmus am Bosporus zu überrollen, alternativ sich durch einen unterirdischen Ausfluss ins noch leere Marmara-Becken zu entladen, und von dort das fast kontinentale (!) fruchtbare Ackerland-Becken der heutigen Ägäis ebenfalls zu überfluten – eine Region, die sie Attika und Hellas nennen – und da es Attika heute auch noch gibt, meinen sie damit wohl das ehemalige Groß-Attika oder Groß-Hellas, das auf ihrer Karte vor der Katastrophe das heutige Griechenland mit der Türkei verbindet und sich nach Süden hin bis Kreta erstreckt.
Der größte Denkfehler dieser Hypothese liegt darin, dass die Autoren nicht erkennen, dass ein schwerer Tsunami zwar Land überflutet und alles, was auf diesem Land steht, lebt und wächst, platt macht, dass die Flut aber auch wieder abfließen muss und dass hinterher nicht mehr Wasser da sein kann als vor Durchzug des Tsunami. Nach Ansicht der Autoren blieb aber das Asowsche Becken auf unerklärliche Weise gefüllt und damit Atlantis-Land für alle Zeiten im Asowschen Meer versunken, von der durch den Tsunami neu geschaffenen Ägäis, die vom einstigen fruchtbar-grünen Flächenland Groß-Hellas nur noch ein paar erodierte Steininseln übrig ließ, ganz zu schweigen. Solche wunderbare, nachhaltige Wasservermehrung bzw. Landversenkung, generiert von einem Tsunami, ist ein absolutes geologisches Phänomen. Vielmehr entstand das Asowsche Meer infolge des Anstiegs der Schwarzen Meers im mittleren Holozän.
Genug Hollywood-Katastrophismus! Dann doch lieber die Schoppe-Theorie! Diese Theorie von Siegfried und Christian Schoppe, ebenfalls von 2004, nimmt die bekannte und inzwischen weitgehend anerkannte Katastrophen-Hypothese der US-amerikanischen Marinegeologen Walter Pitman und William Ryan aus dem Jahr 1997 zur Flutung des Schwarzen Meers als Vorlage für die Verknüpfung und Gleichsetzung der Sintflutlegenden mit Platons Atlantis-Geschichte und tut dies auf eine atemberaubende und teilweise bemerkenswert überzeugende Weise. Egal, was man von Platons Atlantis-Geschichte halten mag, die weltweiten Sintflutlegenden sind keine reinen Erfindungen, sondern dürften nach Schoppe einen wahren Kern enthalten, der sich – anders als die herrschende Lehrmeinung behauptet – nicht auf regionale Fluten bezieht, sondern auf eine einzige, die sämtliche Völker aus jener Zeit und insbesondere jene, die unmittelbar von der Flut betroffen waren, aufs tiefste traumatisiert hatten, und zwar so sehr und nachhaltig, dass die mündlich tradierten Geschichten sich in den Legenden aller Völker über Jahrtausende hielten und anschließend Einzug hielten ins Schriftgut der alten heiligen Schriften aus Indien, Mesopotamien (Gilgamesch-Epos, Athrahasis) und dem Vorderen Orient (Altes Testament der Bibel, Thora) und wahrscheinlich selbst noch ins Schriftgut des Alten Ägyptens, auch wenn entsprechende Papyri oder Stelen, wo die Geschichte erzählt sein könnte, archäologisch nicht auffindbar bzw. nachweisbar sind. Eine wahrhaft geniale Idee, Sintflut und Atlantis-Katastrophe miteinander zu verbinden!
Nach der Theorie von Ryan und Pitman brach vor etwa 7600 Jahren in der Zeit des «Holozän-Maximums» (Atlantikum), nachdem der Meeresspiegel und damit auch der Pegel des Mittelmeers erheblich gestiegen war, ausgelöst oder begleitet von einem Erdbeben in der tektonisch labilen Re-gion bei Istanbul, der Isthmus am Bosporus, der bis dato das Mittelmeer vom niedrigeren Schwarzen Meer getrennt hatte. Mit der zehnfachen Kraft der Niagarafälle donnerten die Wassermassen hinab ins Schwarze Meer, das damals 150 Meter tiefer lag als heute. An seinen Gestaden ereignete sich eine Katastrophe biblischen Ausmaßes. 100 Kilometer weit war das Getöse zu vernehmen. Innerhalb kürzester Zeit stieg der Wasserspiegel des Schwarzen Meers um eben diese 100 bis 150 Meter an und begrub – nun wieder in der Schoppe-Version – die Halbinsel Atlantis, die den Nordwesten des heutigen Schwarzen Meers bedeckte, unter seinen Schlamm- und Wassermassen. Mark Siddall von der Universität Bern entwickelte ein virtuelles physikalisches Modell des Grabens am Bosporus und des Schwarzen Meeres. Auf dieser Basis konnte er alle Überschwemmungsszenarien simulieren. Als der Schwarzmeer-Damm gebrochen war, strömte das Wasser durch den Bosporus, erreichte das Schwarzmeer-Becken in einem gigantischen Crash, und stromabwärts von dieser Crash-Zone muss ein eindrucksvoller Jetstream entstanden sein, ein schneller Wasserstrahl, der entlang der Küstenlinie verlief und dort einen tiefen Graben in den Boden gepflügt haben muss. William Ryan überprüfte mit Echoloten den Boden des Schwarzen Meers. Die Auswertungen zeigten, dass der Graben sich genau dort befindet, wo Siddall ihn vorhergesagt hatte. Neue Bohrkernproben wurden von Yossi Mart von der Universität Haifa untersucht: Aus den Untersuchungen können wir ableiten, dass der Übergang vom See zum Meer sehr abrupt war. Der Muschelfund bestätigt damit die Theorie des plötzlichen Meerwasser-Einfalls.
Eine neuere Studie kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, dass das Ausmaß der Flutkatastrophe von den Wissenschaftlern maßlos übertrieben wurde und dass «Noah’s Flut» am Schwarzen Meer vergleichsweise harmlos war. Keineswegs stieg der Wasserspiegel des Schwarzen Meers um 100 bis 150 Meter, sondern nur um etwa 30 Meter an – entsprechend kleiner war die tatsächlich überflutete Fläche; außerdem erfolgte die Flutung wesentlich langsamer als immer behauptet. Es dürfte also genügend Zeit für die betroffene Bevölkerung für die Evakuation ihrer Häuser gegeben haben. Last not least haben sich Ryan und Pitman beim Zeitpunkt um rund 2000 Jahre verschätzt. «Noah’s Flut» ereignete sich nicht 5600 BC, sondern 7400 BC, also vor rund 9400 Jahren. Bezogen auf Platons Atlantis wären das 70 zusätzliche Generationen, die die Geschichte in «Stiller Post» mündlich weiter überliefert haben müssten. Aber zurück zu Schoppe.
Neben der ebenso genialen wie uralten Idee, dass Sintflut-Mythos und Atlantis-Mythos zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, hat Schoppes Theorie die beiden großen Vorzüge, dass sie (dem Untergang von) Atlantis einen historischen Ort und eine historische Zeit zu verleihen vermag – was vor ihr keiner anderen Atlantis-Theorie bis auf den heutigen Tag gelungen ist! –, und dass sie darüber hinaus einige bis dato scheinbar ungeklärte Fragen zum Ursprung der Hochkulturen und der Schrift zu beantworten scheint, dies zumindest vorgibt. Damit hat sie den anderen Atlantis-Theorien gegenüber den großen Vorzug, dass sie nicht rundweg falsch ist, zumindest auf den ersten Blick, und sich materiell begründen lässt, nicht nur geologisch, sondern auch archäologisch, denn es fanden sich ja Artefakte in 100 Metern Tiefe im Schwarzen Meer, sogar Reste ganzer Siedlungen. Und wenn sie auch sonst nichts begründen und, wie wir gleich sehen werden, ebensowenig zum Atlantis-Thema beizutragen vermag, so hat sie doch immerhin gezeigt, dass die Region am (jetzt im) Schwarzen Meer schon länger besiedelt ist als bislang angenommen, auch wenn das archäologische Verdienst nicht den Autoren gebührt, denn diese Artefakte auf dem Meeresboden, die wohl auf eine neolithische Kultur hinweisen, wurden völlig unabhängig von Schoppes Theorien entdeckt. Das wirft nach den neuesten Untersuchungen, wonach die Flut bereits vor 9400 Jahren erfolgte und den Schwarzmeerspiegel nur um 30 Meter gegenüber heute anhob, die Frage auf, wie es eine Siedlung gegeben haben kann, deren Reste in 100 Meter Tiefe liegen sollen, denn dann müsste die Siedlung ja bereits vor der Flutung 70 Meter tief im Meer gesteckt haben und wäre somit noch wesentlich älter, ja sie müsste irgendwann aus der Eiszeit stammen. Das ist schier unglaublich; irgendwas stimmt da nicht; es dürfte wohl an der Behauptung von 100 m Tiefe liegen; es waren wohl eher nur 10 Meter.
Doch die Schoppes wollen ja mehr als nur gängige (Schwarzmeerhypothese = Sintflut) und verwegene Theorien miteinander verknüpfen (Sintflut = Atlantis-Untergang). Wie noch jede Atlantis-Theorie versucht sie, sich auch mit Platons Skript zu begründen bzw. unabhängig von historischen Sekundärquellen die historische Realität von Platons Atlantis zu «beweisen». Demnach verfügten die alten Ägypter eben aufgrund ihres wesentlich höheren Alters (als die Griechen) und einer mehr als 2000 Jahre älteren Schrift über Wissen, das die griechischen Zeitgenossen Platons nicht haben konnten. Schoppe postuliert, dass die Berichte über den Untergang von «Atlantis» im Schwarzen Meer über Sumer nach Ägypten gelangten und von dort nach Griechenland. Um das zu fundieren, umgibt er seine Theorie mit einer Reihe von Hilfshypothesen, die nichts anderes sind als Zusatzannahmen, einfache Postulate, die durch den historischen Befund nicht gedeckt sind. Da fällt es erst gar nicht ins Gewicht, dass er, um Atlantis im Schwarzen Meer zu positionieren und dort untergehen lassen zu können, die Säulen des Herakles flugs um einige tausend Kilometer nach Osten an den Bosporus verschiebt, auch wenn er nicht den geringsten Grund dafür nennen kann, aber das ist alte Atlantistheoretiker-Praxis, sich «ihren» Platon auf ihre jeweilige Theorie hin zurecht zu biegen, bis er (Platon) passt, damit sie (die Theorie) passt; eben die methodica esoterica, dass alles, was nicht passt, passend gemacht wird, bis es passt. Und wenn sich das ein Sarmast und ein Zangger leisten können, dann zwei Schoppe allemal
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Eine dieser Hilfshypothesen ist, dass es sich bei den Leuten, deren Wohngebiete am Schwarzen Meer überflutet wurden, die sich aber retten konnten, um die Keimzelle der Proto-Indoeuropäer handelte, die sich danach eine neue «Urheimat» suchten, zum Teil etwas weiter nordöstlich in der östlichen Ukraine und in der Region der unteren Wolga – genau dort, wo ja auch Marija Gimbutas die «Urheimat» der Indoeuropäer vermutet. Wie die Schoppes darauf kommen, die Keimzelle der Indoeuropäer am bzw. bezogen auf heute «im» Nordwestteil des Schwarzen Meers zu vermuten, wird wohl für immer ihr Geheimnis bleiben. Der größte Teil dieser frühen Indoeuropäer wanderte aber nach Westen auf den Balkan und begründete dort die neolithische Vinča-Kultur und – eine wei-tere von den Experten angezweifelte These – die Vinča-Schrift. Nach Ansicht der meisten Experten handelt es sich aber nicht um eine Schrift, sondern um eine Anhäufung von Symbolen, deren Bedeutung man noch nicht versteht, maximal um die Vorform einer Proto-Schrift. Die Herausbildung einer Schrift setzt gemeinhin eine höher organisierte, komplexe Gesellschaft, nämlich eine Hochkultur, voraus. Dies war bei der Vinča-Kultur eindeutig noch nicht der Fall, zumal sie nur eine neolithische Kultur war. Doch damit nicht genug. Schoppe behauptet nicht nur, dass es die erste Schrift der Menschheit war, sondern dass diese Schrift auch die erst 1000 Jahre später entstandene sumerische Keilschrift maßgeblich beeinflusst habe, und zwar über den Umweg der so genannten «Tokens». In Sumer sind Tokens (Zählsteine) mit Symbolen die Vorläufer der Schriftzeichen. Auch zu Symbolen anderer neolithischer Zeichensysteme, die in Ägypten, Kreta und sogar in China gefunden wurden, lassen sich Ähnlichkeiten und teilweise sogar Übereinstimmungen bei den Symbolen feststellen. Man geht hier aber von der Konvergenztheorie aus, d.h. dass die verschiedenen neolithischen Gesellschaften z.T. dieselben Symbole erfanden (auch wenn die jeweils eine eigene Bedeutung haben). Und eine Beeinflussung der sumerischen Protoschrift durch die Vinča-Symbole lasse sich schon gar nicht nachweisen. Doch eben diese oberflächliche Ähnlichkeit mit den sumerischen Tokens und auch mit den Vorläufer-Symbolen der altägyptischen Hieroglyphen braucht Schoppe, um seine These von der Beeinflussung der frühen alten Hochkulturen durch die Vinča-Kultur zu «fundieren», und zwar gleich aus zwei Gründen: Um zu erklären, wie die Information bzgl. Atlantis und den Untergang von Atlantis frühzeitig nach Ägypten gelangt sein kann – dies ist notwendig, um den behaupteten dokumentarischen Charakter von Platons Atlantis-Geschichte zu stützen –, und zum anderen, um dem alten Grenzwissenschafts-Glaubenssystem, wonach Atlantis die Urmutter aller Hochkulturen war, die Reverenz zu erweisen.
Dass sich die Schoppes dabei ebenfalls der in jenen Kreisen gepflegten Zirkelschlüsse bei der Theoriebildung bedienen, scheint ihnen dabei gar nicht aufzufallen: Um zu zeigen, dass Platons Atlantis-Geschichte kein Märchen ist, sondern ein historischer Tatsachenbericht, dass also die Rahmenerzählung mit dem Priester aus Saϊs stimmt, wird die Vinča-«Schrift» bemüht (auch wenn das gegen den Befund aus der Fachwelt verstößt). Und um zu zeigen, dass es sich bei den Vinča-Symbolen sehr wohl um eine Schrift handelt, wird Platons Atlantis als «Zeuge» herangezogen, denn wie anders als über den «Import» der Symbole als Vorläufer der Hieroglyphen hätten die Ägypter – und damit Platon – von Atlantis wissen können!? Und dass Atlantis nur die Vinča-Kultur gewesen sein kann, ergibt sich aus der «Tatsache», dass keine andere Kultur bereits 1000–2000 Jahre vor den Sumerern und den Ägyptern über eine Schrift verfügt hat. Daher kann dieses legendäre Atlantis nur die im Schwarzen Meer untergegangene Halbinsel gewesen sein. Hier greifen gleich mehrere Zahnräder, eines das andere stützend, in dem Räderwerk der sich wechselseitig stützenden Zirkelschlüsse ineinander. Und die Krone der Theorie: Die Atlanter waren nichts anderes als die Ur-Indoeuropäer. Dabei können sich die Schoppes elegant auf Marija Gimbutas stützen, die nicht nur die Urheimat der Indoeuropäer am Schwarzen Meer vermutet, sondern auch die Hypothese aufgestellt hat, dass die Vinča-Kultur eine urindoeuropäische ist und die Vinča-Symbole die erste Schrift der Welt darstellen: eine originär indoeuropäische.
Das ist das Geniale an der Schoppe-Theorie: Dass sie ein schillerndes Kompendium aus diversen Einzeltheorien ist, die allesamt von anderen aufgestellt wurden: Schwarzmeerflut = Sintflut (Pitman/ Ryan); Sintflut = Untergang von Atlantis (wohl die meisten Atlantis-Theoretiker); «Urheimat» am Schwarzen Meer = Indoeuropäer (Gimbutas), Vinča-Kultur = Indoeuropäer (Gimbutas). Aber alle diese Verknüpfungen haben ein gemeinsames Zentrum: Atlantis. Atlantis = untergegangene (Halb-) Insel im Schwarzen Meer = «Urheimat» der Indoeuropäer = spätere indoeuropäische Vinča-Kultur = Kulturbringer der frühen Hochkulturen (Schrift). Was tut es da groß zur Sache, wenn die schönen Gleichsetzungen dann wieder nicht mit Platons Atlantis-Geschichte kompatibel sind, in der die Atlanter den Völkern und insbesondere den Ägyptern nicht Kultur gebracht haben, sondern Krieg.
Und die Vinča-Kultur war, anders als Platons Atlantis, keine bronzezeitliche Hochkultur, sondern eine neolithische Agrargesellschaft mit kleinen Siedlungen auf Hügeln (Tells), anders als Sumer ohne jeden Ansatz zu einer urbanen, entwicklungsfähigen komplexen Kultur; daher kann man bei Vinča noch nicht mal von einer Proto-Hochkultur sprechen.
Immerhin kann man der erweiterten Schwarzmeer-Atlantis-Hypothese der Schoppes zugute halten, dass sie auf kongeniale Weise eine Symbiose zwischen den Theorien von Pitman/Ryan, Marija Gimbutas und Platons Atlantis-Erzählung herstellt, auch wenn es sich um Kurz- und Zirkelschlüsse handelt. Sie ist zwar genauso fantastisch wie alle anderen Atlantis-Theorien, aber intellektuell anspruchsvoll und kommt völlig ohne Esoterik aus – und das will für Atlantistheorien schon was heißen!