Seebeben
„Die Erde schwingt immer noch”
17. März 2005 Das Erdbeben vor Sumatra, das am zweiten Weihnachtstag des vergangenen Jahres den verheerenden Tsunami im Indischen Ozean auslöste, war erheblich stärker als bisher vermutet. Nach einer genauen Auswertung langperiodischer Seismogramme berechneten amerikanische Seismologen für die Magnitude des Erdbebens einen Wert von 9,3. Bisher war die Stärke mit 9,0 angegeben worden.
Die Veränderung um 0,3 Punkte bedeutet, daß das Beben etwa zehnmal so energiereich war wie bisher angenommen. Selbst heute noch schwingt die Erde wie eine Glocke. Offenbar führte das Sumatra-Beben auch zu erhöhter Aktivität an manchen Vulkanen.
Oberflächenwellen-Magnitude Je stärker ein Erdbeben ist, desto schwieriger ist es, seine Magnitude genau zu erfassen. Das liegt daran, daß die Perioden der von einem Erdbeben ausgelösten seismischen Wellen mit zunehmender Magnitude immer länger werden. Kleinere Beben mit Magnituden bis zu fünf strahlen ihre Energie hauptsächlich in seismischen Wellen ab, deren Periode etwa eine Sekunde lang ist.
Aus der Amplitude dieser Wellen wird die Magnitude gemäß der Richter-Skala berechnet. Bei stärkeren Beben steckt dagegen der größte Teil der Energie in Wellen mit Perioden von mehr als zwanzig Sekunden. Weil sich diese Wellen entlang der Erdoberfläche ausbreiten, berechnen die Seismologen daraus die sogenannte Oberflächenwellen-Magnitude eines Erdbebens.
Ähnlich einer Glocke Bei Beben mit Magnituden von mehr als acht läßt sich die Stärke dagegen nur aus dem "seismischen Moment" berechnen. Diese Größe wiederum wird in einem aufwendigen mathematischen Verfahren aus den Aufzeichnungen vieler Erdbebenstationen bestimmt. Für das Sumatra-Beben wurden dazu zunächst die Registrierungen von Wellen mit Perioden von fünf Minuten herangezogen. Daraus errechneten Mitarbeiter des amerikanischen Geologischen Dienstes in Golden (Colorado) eine Magnitude von 9,0.
Jetzt haben Seth Stein und Emile Okal von der Northwestern University in Illinois die Amplituden von Schwingungen mit noch längerer Periode untersucht. Starke Erdbeben geben der Erde einen derart starken Ruck, daß der ganze Erdkörper zu schwingen beginnt - ähnlich einer Glocke, die mit einem Klöppel angeschlagen wird. Bei diesen "Eigenschwingungen" kann sich beispielsweise der gesamte Erdkörper ausdehnen und wieder zusammenziehen. Er kann aber auch seine Form verändern und rhythmisch zwischen der Form einer Kugel und der eines Rugbyballs hin- und herschwingen. Diese Art der Eigenschwingung hat eine Periode von 54 Minuten. Nach dem Beben von Sumatra betrug ihre Amplitude im Durchschnitt 0,1 Millimeter.
Das zweitgrößte Beben Es erscheint auf den ersten Blick recht gering, wenn sich der Erdboden innerhalb von knapp einer Stunde rhythmisch um einen Zehntelmillimeter bewegt. In dieser Bewegung steckt aber eine außergewöhnlich große Energie, denn die Schwingungen erfassen den gesamten Erdkörper.
Aus den Untersuchungen der Eigenschwingungen berechneten Stein und Okal nun für das Sumatra-Beben eine Magnitude von 9,3. Damit wäre das Erdbeben vom 26. Dezember 2004 das zweitgrößte Beben, das seit Einführung von Seismometern vor mehr als hundert Jahren registriert wurde. Das bisher stärkste Erdbeben hatte eine Magnitude von 9,5 und ereignete sich am 22. Mai 1960 im Süden Chiles.
Auf einer Länge von 1.200 Kilometern
Auch heute noch halten nicht nur die vom Sumatra-Beben ausgelösten Eigenschwingungen des Erdkörpers an. In dem Bereich zwischen Sumatra und den Andamanen-Inseln ereignen sich täglich noch Dutzende von Nachbeben. Im Vergleich zum Hauptbeben ist die in allen diesen Nachbeben enthaltene Energie aber extrem gering. Insgesamt ist sie nicht größer als die seismische Energie eines einzigen Bebens der Magnitude von 7,5.
Mittlerweile liegen auch genaue Informationen über den Ablauf des Erdbebens vor Sumatra vor. Das Erdbeben nahm in etwa zwanzig Kilometer Tiefe wenige Kilometer nördlich der vor der Westküste Sumatras gelegenen Insel Simeulue seinen Anfang. Der Bruch im Gestein breitete sich dann entlang des Sundagrabens auf einer Länge von 1.200 Kilometern in Richtung Norden aus und erreichte nach etwa sieben Minuten die Andamanen-Inseln. Die Verschiebung der beiden Gesteinsschollen betrug dabei stellenweise bis zu zwanzig Meter. Insgesamt steckte in dem Erdbeben etwa soviel seismische Energie wie in allen Erdbeben auf der Erde in den Jahren 1976 bis 1990 zusammen.
Die Grundlage für die Untersuchungen
Die Erdoberfläche schwang beim Durchgang der seismischen Wellen so stark wie noch nie. Auf Sri Lanka wurde eine Amplitude von 9,2 Zentimetern gemessen, in Ecuador, dem Antipoden des Epizentrums, betrug sie immerhin noch einen Zentimeter. Diese Oberflächenwellen bewegten sich in den ersten Stunden nach dem Beben mehrmals um die Erde.
Allerdings wurden die Bewegungen von den Menschen nicht wahrgenommen, denn die Periode der Schwingungen betrug mehr als zwei Minuten. Sie können aber von empfindlichen Breitband-Seismometern aufgezeichnet werden. Die Aufzeichnungen wiederum sind die Grundlage für die Untersuchungen der Seismologen.
Eine mehrere Meter hohe Flamme
Offenbar waren die Schwingungen der Erde in der Lage, an einigen Vulkanen Magmabewegungen auszulösen. So wurden am 11.000 Kilometer vom Epizentrum entfernten Mount Wrangell in Alaska immer dann Schwärme kleiner Erdbeben gemessen, wenn die vom Sumatra-Beben ausgelösten Oberflächenwellen Alaska unterquerten.
Der indische Geophysiker Vineet Gahalaut beobachtete auch, daß ein Schlammvulkan auf der Insel Middle Andaman in den ersten Tagen nach dem Sumatra-Beben besonders aktiv war. Unter anderem entzündete sich das von ihm ausgestoßene Methangas, und tagelang stand eine mehrere Meter hohe Flamme über seinem schlammigen Krater.
Die Wahrheit ist seltsamer als die Fiktion, weil die Fiktion Sinn machen muss.