@schmitz Desweiteren:
Dennoch können auch die BAM-Gutachter einen Bombenanschlag auf die "Estonia" natürlich nicht ausschließen - die Proben der "One Eagle"-Expedition sagen über die Ursache der Katastrophe schlichtweg gar nichts aus. Die vermeintliche Sensation war eine Ente, die Bombentheorie ist damit aber weder widerlegt noch bewiesen. "Aussagen über mögliche Sprengstoffdetonationen an anderer Stelle des Frontschotts können hieraus nicht abgeleitet werden", so das BAM-Gutachten.
Q: http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,114709,00.html
Um dem Verdacht des selektiven Zitierens zu begegnen, hier die Absätze, die dem Fazit vorausgingen und auch erklären, warum eben dieses eine negative Gutachten schwerer wiegt als mehrere positive:
Am 1. September lieferte Jutta Rabe die Metallstücke beim Materialprüfungsamt des Landes Brandenburg ab. An drei Stellen trennten die Wissenschaftler daumengroße Teile heraus. An einer Probe von der Spitze entdeckten sie unter dem Mikroskop "weitestgehend veränderte" Gefügebestandteile. Bei 1000facher Vergrößerung sieht das Gefüge des Schiffbaustahls aus wie eine Vielzahl heller Körner mit dunklen Einlagerungen. Die hellen Körner sind Ferrit (Eisenkristall), die dunklen kohlenstoffreiches Perlit (siehe Grafik Seite). "Wir konnten keine Korngrenzen des Ferrits mehr erkennen", so der Leiter des Materialprüfungsamts Kurt Ziegler. "Außerdem war das regelmäßige Aussehen der Perlitkörner gestört."
"Diese plastischen Veränderungen im Mikrobereich weisen auf eine extrem schlagende Beanspruchung hin, wie sie bei einer Beeinflussung durch detonative Stoffe erfolgt", so das amtliche Gutachten aus Brandenburg. Die Zerstörung der Bestandteile könne "durch keine mechanisch technologische Beeinflussung erfolgen".
Dann entdeckten die Brandenburger an mehreren Stellen parallele, mikroskopisch kleine Linien - die so genannten Neumannschen Bänder oder auch Zwillinge im Ferrit. Für die Brandenburger sind sie ein deutlicher Hinweis auf eine Explosion, entstünden sie doch durch eine hohe Verformungsgeschwindigkeit, wie sie mechanisch nicht zu erreichen sei. Zudem habe eine enorme Kraft das Metall zusammengestaucht und dabei stellenweise gehärtet. "Für diese Härtesteigerung sowie für die ermittelten Gefügeveränderungen", so die Experten, "ist eine detonative Beeinflussung wahrscheinlich."
Beim "Institut für Materialprüfung und Werkstofftechnik Dr. Dölling und Dr. Neubert GmbH" in Clausthal-Zellerfeld stellte der Physiker Volkmar Neubert an derselben Probe Spuren des Stoffs Martensit fest. Der entsteht, wenn Stahl mit extrem hoher Geschwindigkeit verbogen wird, sich dabei über 723 Grad erhitzt und anschließend schnell abkühlt. Mit Röntgenmessungen, so Neubert, könne er an zwei Messstellen der Probe "Röntgenreflexe des tetragonalen verzerrten Martensits" finden. Deshalb dürfte das Metall mit einer Geschwindigkeit verbogen worden sein, "die experimentell durch Spreng- und Beschussversuche realisiert werden" könne - und durch nichts anderes.
Auch das von Gregg Bemis beauftragte Institut im texanischen San Antonio geht von Sprengstoffeinwirkungen auf die Metallprobe von der "Estonia" aus. Für Rabe und Bemis war dies alles Beweis genug - obwohl keines der Institute Vergleichsuntersuchungen an Schiffbaustahl vorgenommen hatte. Die beiden wollten nicht auf das Gutachten warten, das der SPIEGEL bei der Bundesanstalt in Berlin in Auftrag gegeben hatte, und veröffentlichten die Expertisen.
Die BAM-Wissenschaftler hatten sich wegen der Vergleiche viel mehr Zeit ausbedungen. Zunächst ließen sie sich von der Meyer Werft zahlreiche Platten Schiffbaustahl liefern und analysierten ihn. Damit stellten sie sicher, dass es sich um den gleichen Werkstoff wie bei den Proben handelt. Dann zerstörten sie den Meyer-Stahl auf jede denkbare Art - zunächst in 15 rein mechanischen Versuchen. Er wurde gebogen, durchstoßen, zerschlagen und zerrissen. Auf dem abgeschirmten Versuchsgelände in Horstwalde bei Berlin sprengten BAM-Experten dann 26-mal Stahlplatten und Konstruktionen in die Luft, die dem Frontschott der "Estonia" ähnelten. Der Sprengmeister zündete so gut wie alles, was Metall zerstören kann: TNT, Industriesprengstoffe wie Donarit, auch den berüchtigten Plastiksprengstoff Semtex, den Terroristen weltweit oft benutzen.
Während bei den mechanischen Versuchen gleich welcher Art das Meyer-Metall nur mit einer Geschwindigkeit von maximal fünfeinhalb Metern pro Sekunde verbogen und zerrissen wurde, erreichten Sprengstoffe bis zu 2000 Meter pro Sekunde. Stangensprengstoff, das konnten BAM-Experten erkennen, bombte Löcher in den Stahl, die den Aufnahmen vom Frontschott der "Estonia" ähnlich sehen. Nach den Sprengproben suchten die BAM-Leute nach Merkmalen, die bei mechanischen Zerstörungen nicht auftreten.
Doch was die anderen Gutachter so sicher in der Beurteilung machte, konnten die Berliner in ihrem Metallstück von der "Estonia" nicht nachvollziehen. Neumannsche Bänder fanden sie zudem erst, als sie Anfang Dezember auch jene Teile erhielten, die im Brandenburger Landesamt untersucht worden waren. Dennoch fiel das Ergebnis - im wissenschaftlichen Vergleich mit dem gesprengten und zerrissenen Schiffbaustahl der Meyer Werft - ganz anders aus.
Zerstörtes Perlit, von den Brandenburgern als Indiz für eine mögliche Explosion angesehen, lässt laut BAM lediglich einen Schluss zu: nämlich, dass es zu einer starken Verformung kam. "Ob die Lamellen im Perlit verbiegen oder sogar reißen", so BAM-Professor Dietmar Klingbeil, "hängt allein vom Grad der Verformung ab, nicht aber von der Geschwindigkeit."
Also kein Hinweis auf Explosionen. Das aber könnte der Nachweis von Martensit im Metall sein. Allerdings fand die BAM trotz aufwendiger Suche mit Röntgengeräten und metallografischen Untersuchungen unter dem Mikroskop keinen Hinweis auf Martensit, anders als das Institut in Clausthal-Zellerfeld. Eine "sehr geringe, scheinbare Restintensität", auf die BAM-Gutachter stießen, könne nicht als Martensit interpretiert werden. Auch die Härtemessung des Stahls ergab deutlich geringere Werte als bei den Brandenburgern und damit keinen Hinweis auf Bomben.
Blieben noch die Neumannschen Bänder, im Lichtmikroskop sichtbare parallele Linien - ein Zeichen dafür, dass die Kristallgitter wegen enormer Schockwellen umklappten. Das Phänomen galt bislang als Beweis für Umformgeschwindigkeiten, wie sie nur bei Explosionen auftreten.
Tatsächlich fanden auch die Berliner Wissenschaftler Nester von Zwillingen im Schiffbaustahl der Firma Meyer. Allerdings auch bei Stahl, der zu keinem Versuch benutzt wurde. Ebenso wie bei den "Estonia"-Teilen fanden sich die Zwillinge nur bis 0,4 Millimeter unter der Blechoberfläche. In unmittelbarer Nähe von Sprengladungen traten solche Zwillinge aber im ganzen Querschnitt auf. Sowohl auf den Blechen der Meyer Werft als auch auf denen von der "Estonia" fanden die BAM-Wissenschaftler zudem merkwürdige kleine Krater auf der Metalloberfläche, nur 0,035 Millimeter tief.
Ein weiteres Gutachten im Auftrag des SPIEGEL machte aus einem ersten Verdacht der Experten dann Gewissheit: Bei der Firma USF Schlick im nordrhein-westfälischen Metelen wurden 22 Bleche Schiffbaustahl mit dem Strahlmittel "Wheelabrator WS330" bearbeitet: Eine Turbine schleuderte Tausende, etwa einen Millimeter große Stahlkugeln mit bis zu 80 Metern pro Sekunde auf den Stahl - so wie die Meyer Werft ihre Bleche reinigt, bevor die Rostschutzfarbe aufgetragen wird. Dieser Beschuss aus weniger als einem Meter Entfernung, so stellten die BAM-Experten fest, erfolgt mit solcher Wucht, dass sich jene Zwillinge bilden, welche die Wissenschaftler gesehen hatten.
Was so viel Aufsehen erregt hatte, waren also in Wahrheit nicht Spuren einer Explosion - sondern, ganz gewöhnlich, Ergebnis der normalen Rostschutzbehandlung. "An den Proben", so Christian Klinger, BAM-Experte für Schadensanalyse, "sind keine Spuren einer Sprengstoffexplosion zu finden." Damit war die Beweiskraft der anderen Gutachten dahin.