Jahrgang 1954, mithin Baby Boomer.
Ilian schrieb:es blieb nicht allzu viel Zeit für Fortpflanzung
Na ja, für drei Kinder hat's gereicht. Ich bin ja kein Karnickel!
Ich schrieb schon mal über die Zeit, in der ich aufgewachsen bin:
Ich frage mich, ob Menschen dazu neigen, "die gute alte Zeit" zu idealisieren. Das mag daran liegen, dass man Unangenehmes gern vergisst und sich lieber nur an die angenehmen Seiten alter Zeiten erinnert. Das kenne ich eigentlich fast nur von Menschen, die so alt sind wie ich (68) oder älter. Aber scheinbar betrifft dieses Phänomen auch jüngere Leute.
Ganz sicher hängt es davon ab, wie die individuellen Lebensbedingungen waren, in welcher Position man gelebt hat. Der Sklave hat andere Erinnerungen als sein Herr, der Grossgrundbesitzer andere als sein Leibeigener, der Fabrikbesitzer andere als der Proletarier - weil sie zwar in gleichen Zeiten gelebt haben, aber unterschiedliche Erfahrungen machten und erinnern.
Wann soll denn "das Menschsein" einen höheren Stellenwert gehabt haben als heute? Vor 20 Jahren, vor 50, vor 80, vor 100 Jahren? Haben da tatsächlich alle Menschen in Deutschland so gelebt, wie wir es gern erinnern möchten und gehabt hätten?
Waren wir vernachlässigten Schlüsselkinder des Wirtschaftswunders wirklich besser dran als die heutigen Kinder mit Helikoptereltern? Haben sich alle Eltern mehr um alle Kinder gekümmert? Haben sich alle mehr um ältere Mitmenschen gekümmert? Waren die Arbeitsbelastungen geringer zu Zeiten des zwölf oder mehr Stunden-Tages? Spielten Effizienz und Nutzen weder zu Zeiten der industriellen Revolution noch in Wirtschaftswunderzeiten eine geringere Rolle?
So viele Fragen...
Aus meiner eigenen Familiengeschichte weiss ich, dass viele Familien auch in den "goldenen Wirtschaftswunderjahren" kaum zu Rande kamen. Muttern arbeitet in der Fabrik und geht abends oder am Wochenende putzen. Vattern arbeitet und hilft nach Feierabend auf dem Bau oder bei Reparaturen. Kinder tragen Zeitung aus oder Brötchen (vor der Schule). Die ganze Familie ackert und rackert und kommt doch nicht hoch. Einfach mal ältere Mitmenschen dazu befragen.
Was die "Ellenbogen" angeht - Konkurrenz um Arbeitsplätze und am Arbeitsplatz gab es vermutlich schon, seit die Arbeit erfunden wurde. Selbst Mobbing ist nichts neues, ebenso wenig wie Burnout. Hiess früher bloss "Schikane" und "Erschöpfung".
Doping am Arbeitsplatz durch Alkohol, Speed oder andere Substanzen lässt sich historisch ebenfalls weit zurück verfolgen.
Hinzu kam allerdings, dass Arbeitsrecht und Arbeitssicherheit, Unfall- und Gesundheitsschutz früher noch deutlich dürftiger waren.
Und nein - die Zeit des "Wirtschaftswunders" war mit Sicherheit nicht für alle gut. Nicht mal im "Goldenen Westen". Von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Adenauer-Eiszeit unter dem Damoklesschwert nuklearer Vernichtung mal ganz abgesehen.
Ich bin Jahrgang '54. Ein klassisches "Cold War Kid". Wenn man damit aufwächst, lernt man im Schatten der Bombe zu leben - so wie die Kinder, die zwanzig Jahre vor mir geboren wurden, lernten, mit den Bombennächten zu leben. Der Mensch gewöhnt sich an erstaunlich viel. Als Kalte Krieger haben wir jahrzehntelang damit überlebt, sind mit mit der Bombe ins Bett gegangen und wieder Erwarten morgens auch wieder neben ihr aufgewacht und zur Arbeit gegangen.
Einige "Jugenderinnerungen" finden Interessierte in meinem Blog, beispielsweise hier:
Outtake One – Josies Totenbuch (Beitrag von ThoFra)Einfach noch mal eine proletarische Grossstadt-Kindheit und Jugend aus der "guten alten Zeit" ausgebuddelt:
Ich wurde 1954 in Hamburg-St.Pauli geboren. Mein Vater war Werftarbeiter, meine Mutter ging putzen, arbeitete in einer Fischkonservenfabrik, als Näherin, als Verkäuferin.
Mein Vater hatte, wie viele Kriegsteilnehmer, den Traum vom Häuschen im Grünen. Daraus ist nie etwas geworden: Krieg, Gefangenschaft, Wiederaufbau, Werftensterben, Arbeitslosigkeit, Alkohol, Krebs. Zu viele Gründe, warum ein Lebenstraum nicht Wirklichkeit werden konnte.
Ich hatte drei Geschwister: Knut, Jahrgang 1948, Heidemarie, 1950, Sonja, 1959.
Wir lebten in „kleinen Verhältnissen“ wie man damals sagte: Etagenwohnung, Ofenheizung, Eineinhalb Zimmer, Küche, Klo auf halber Treppe, Bad blieb ein Traum.
Abends wurde der Esstisch mit einem Flaschenzug unter die Küchendecke gehievt und wir vier teilten uns anfangs zwei durchgelegene Matratzen auf dem Boden. Erst später bekamen wir eine größere Wohnung, die beiden Mädchen und die beiden Jungs jeweils gemeinsam eine kleine Kammer, groß genug für die Betten und einen Kleiderschrank. Gebadet wurde Samstags in der Zinkwanne. Erst die Mädchen, dann die Jungs.
Es gab keinen Fernseher, kein Telefon, kein Auto. Ein Radio war meine Verbindung zur Welt, Quell von Inspiration und Sehnsüchten.
An meinen großen Bruder erinnere ich mich mit einer Mischung aus Bewunderung, Angst und Abscheu. Er war groß, stark und unberechenbar. Er schlug uns, belästigte uns sexuell – aber er war auch jemand, mit dem wir anderen drohen konnten.
Heide war ein Mutterersatz für mich und Sonja. Sie las uns Kleinen vor, sang für uns, wir durften uns an sie kuscheln, sie tröstete uns, wenn Vater und Mutter auf Schicht waren oder uns geschlagen hatten. Dafür bekam sie von Sonja und mir Zuckerwürfel, Kekse, Brausepulver, Dauerlutscher, die wir uns von unseren kärglichen Rationen absparten. Sie wurde fett und bekam schlechte Zähne.
Sonja war die kleinste, die ich zu beschützen hatte. Sie war so schön, so neugierig, so klug und flink, liebenswürdig zu jedem.
Wir vier waren die Hafenratten, wie uns unser Vater nannte. Wir waren gierig, bissig, ausgehungert, mutig, listig und gemein. Wenn wir etwas zum Haushalt beitragen konnten, haben wir es genommen. Auf dem Fischmarkt fiel Gemüse und Wurst vom Tisch, in der Speicherstadt waren Türen oder LKW-Planen nicht fest genug zu. Wir versuchten, den Nutten morgens die Handtaschen zu klauen, wir räumten Besoffene aus oder gingen hinterm Bismarck 175er ticken. Wir waren dreckig. Innen wie außen. Zerrissene Klamotten, zerrissene Seelen. Wir haben gestohlen, gelogen, geprügelt – und wurden geprügelt, mit der Hand, dem Gürtel, dem Kochlöffel, dem Teppichklopfer.
Knut war der Hauer, die dicke Heide die Vernünftige, ich der Träumer und Sonja die Plietsche, wie der Hamburger kluge Mitmenschen nennt.
Was ist aus uns geworden?
Knut hat eine Maurerlehre gemacht. In seiner Freizeit trieb er sich mit Leuten herum, die man damals als „Rocker“ bezeichnete. Leder, Bier, Fahrradketten. Dann kam ein Dezembertag 1970. Weihnachtsfeier, Glatteis, zuviel Alkohol und zuviel Tempo. Sein NSU, auf den er so stolz war, rutschte mit ihm unter einen querstehenden Sattelauflieger. Es gab damals keinen Unterfahrschutz. Nur mein relativ abgebrühter Vater hat ihn noch einmal sehen dürfen, bevor sie den Deckel zuschraubten. Mutter hätte das nicht überstanden.
Danach war absolut nichts mehr wie vorher. Es war unerträglich und führte dazu, dass ich von zu Hause abhaute, die Schule hinschmiss. Der Kronprinz, der eigentlich ein Tyrann war, war tot. Die elterlichen Hoffnungen auf den „einzigen, der es von dieser Bande noch zu etwas bringen wird“ waren unter einem LKW zerquetscht worden. Wir Geschwister, Opfer seiner Tyrannei, atmeten befreit auf, so hart es klingen mag.
Heidemarie, schon vorher eine tragische Gestalt, wurde nun die neue Hoffnungsträgerin. Eine Rolle, die sie völlig überforderte. Ich erinnere mich, wie sie, Friseurlehrling, sich Samstag abends in der Küche mit Hilfe von Freundinnen und geklauter Kosmetika aufbrezelte, bevor sie loszog, um in „Beatschuppen“ den Mann ihrer Träume zu finden. 80 Kilogramm Frustration im knappen Pulli und kurzem Mini. Entschlossen: „Heute wird es klappen!“ Wenn sie zurückkam, konnte ich sie heulen hören. Wieder kein Märchenprinz mit weißem Pferd – oder wenigstens VW-Porsche. Sie wollte raus und suchte verzweifelt jemanden, der sie von ihren Fesseln befreite, statt es selbst zu probieren. Sie passte sich an, fraß den Frust in sich hinein und der Frust fraß sie von innen auf.
Heute tuscheln meine Kinder „Moby Dick“, wenn sie von Tante Heide sprechen: Fett, bleich, haarlos und krank: Diabetes, offene Beine, Bluthochdruck, Atemnot. Keine Chance mehr zum weglaufen. Sie lebt in einer süddeutschen Kleinstadt mit einem Ekelpaket von Mann, der sie nicht liebt und züchtet Hunde.
Sonja war unsere kleine Prinzessin, so zart, so klug, so schön. Sie hat als einzige von uns Abitur gemacht, wollte studieren. Sie wäre so gern etwas geworden und ich hätte es ihr so gegönnt. Die falschen Cliquen, die falschen Männer, die falschen Drogen. Zu viele Schläge, zu viele Freier, zu viele Rasierklingen für meine kleine Schwester. Therapieabbrüche, Depressionen, Anschaffen in Kaschemmen in St. Georg und zwischendurch immer wieder Ochsenzoll. Die klassische Drehtürpatientin. Viele Versprechungen, viele Katastrophen, jedes Treffen mit ihr wird zum Desaster.
Ich ging fort, wollte raus aus der Enge, zur See, die Welt sehen und verändern. Den Kopf voll von Conrad, Traven und Guevara. Nun ja, ich schaffte es nur bis zum Job im Hafen, in dubiose Politzirkel, in nutzlose Kriege und wirkungslose Zeitungen. Ich ging fort und ließ meine Schwestern im familiären und privaten Elend und Scheitern allein. Sie hatte Angst um mich, wenn ich auf Demos war, wenn ich aus Bürgerkriegen schrieb. Ich hätte eher Angst um sie haben sollen. Vor allem um meine kleine Sonny. Ich hätte sie beschützen sollen und habe es doch nicht getan. Dieses Versagen quält mich heute noch.
Zu spät! Mein Weg führte, wie so oft, ohne Rücksicht über die Leichen anderer.
Heute bin ich scheinbar der Einzige, der die Familienhölle halbwegs unbeschadet überlebt hat.
Und die bösen "neuen" Medien, über die auch gern wortreich gejammert wird?
Ich stamme noch aus einer Zeit, in der man sich Infos aus Büchern anlesen musste, sich durch Papierberge in Zeitungsarchiven wühlen musste, tage- oder wochenlang auf Briefe warten musste, Fotos zwei Wochen brauchten, bis man sie entwickelt zurück bekam, man dicke Kataloge wälzen musste, um Dinge zu bestellen und Sonntags das Land geschlossen war.
Ich bin froh, dass diese Zeit vorüber ist und verfluche zumindestens was das www angeht, die Ungnade der späten Geburt.
Und die vollkommen verkommene Jugend?
Wir unterhielten uns als Zwölfjährige über Super-Acht-Fickfilme, trafen uns zum Mädchenbefingern im Kohlenkeller und soffen den Alten das Bier weg. Und was ist aus uns geworden?
Wissenschaftsjournalisten, Manager, Unternehmer, Gastronomen und Kulturschaffende.
Abgesehen davon, dass nicht ALLE Kinder und Jugendlichen so sind, müssen sie auch nicht so bleiben.