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Outtake One – Josies Totenbuch

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Doors Diskussionsleiter
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Outtake One – Josies Totenbuch

15.08.2021 um 16:47
Vorbemerkung

Offenbar schreit das lesehungrige Volk nach mehr. Oral History aus der (Neander)talstraße oder so. Eine Zeitreise in eine exotische Welt mit fremden Völkern. Also wieder ran an die olle Stenorette und tippen, was die Finger hergeben. Die Schwierigkeit ist nur, in welche Form ich das ganz Zeugs bringen soll? Die Form hat dem Inhalt zu folgen – in der Theorie. Aber das Problem bei Gesprächen, erst recht bei solchen älterer Menschen ist, dass irgendwie alles durcheinander geht, man kommt vom Hundertsten auf's Tausendste, springt hin und her, hat Erinnerungslücken, vergisst Namen, bringt Jahreszahlen durcheinander, mixt Orte und verheddert sich in seinen eigenen Hirnwindungen. Wenn ich mir die Aufzeichnungen so anhöre, dann packt mich Verzweiflung, Jammer und Not. Außerdem ist es mir zu mühsam, den gesprochenen O-Ton schriftlich detailgetreu wieder zu geben. Da habe ich dann einen roten Bildschirm, weil das Schreibprogramm eben weder Missingsch noch Platt beherrscht. Aber ich probiere es trotzdem, wobei ich mich entschlossen habe, den ganzen Gesprächswust nach Personen oder Ereignissen zu ordnen. Bei den Personen habe ich mich entschlossen, ihre Nachnamen zu ändern, damit ich ihnen oder eventuellen Nachfahren nicht zu nahe auf den Pelz rücke. Sind ja nicht immer nett, diese Erinnerungen – und ihr Einverständnis einzuholen, erscheint mir dann doch zu zeitaufwändig.

Einleitung

Während Susanne und ich bei reichlich Kaffee (mit Herzschrittmacher-Funktion) und Apfelkuchen mit ganz viel Slackermaschü (Schlagsahne) in ihrem plüschigen Wohnzimmer zusammen sitzen, sagt sie zu mir „Kennst Du eigentlich Josie noch? Und ihren Vater? Ich hab ihre Bilder. Na, wenigstens ein paar. Willst mal kucken?“ „Na klar!“ „Hol mal da unten aussm Schrank raus. Sind die zwei dicken, dunkelbraunen.“ Ich hole die beiden Fotoalben aus dem Schrank und gebe sie ihr. Wir rücken zusammen und sie öffnet die Büchse der Pandora, eine Zeitmaschine, die mich sofort in ihren Bann schlägt. „Kuck mal, die hab ich von Josie. Da sind Bilder drin, die ihr Vater gemacht hat, und später dann sie selbst. Die hab ich noch von ihr bekommen, kurz bevor sie gestorben ist.“
„Die ist tot? Josefine hieß die doch richtig, oder?“

Exkurs: Josefine und ihr Vater

Josefines Vater war der Sohn eines deutschen Kolonialbeamten aus Tsingtau in China und einer chinesischen Mutter. Kurz vor Beginn des 1. Weltkrieges verließen Vater und Sohn (die Mutter war wohl verstorben) China und reisten nach Hamburg zurück. Der Junge hatte einen deutschen Vor- und Nachnamen, Martin S., und war deutscher Staatsbürger, wenngleich mit „exotischem“ Aussehen. Trotz dieses „unarischen“ Äußeren diente er während des 2. Weltkrieges bei der deutschen Luftwaffe. Gegen Kriegsende nahm man es wohl ganz offenbar nicht mehr so genau damit, so lange der Mann noch ein Gewehr halten konnte, es gab sogar eine „Indische Legion“ aus indischen Studenten und indischstämmigen britischen Gefangenen. Jedenfalls diente S. als Fahrer bei der Luftwaffe. Kurz vor Kriegsende schaffte er mit einen LKW nebst Anhänger „kriegswichtiges Material“, nämlich die Fotoausrüstung einer Aufklärergruppe, etliche teure Kameras sowie eine komplette Dunkelkammer mit allen nötigen Utensilien vor den vorrückenden britischen Truppen gen Norden. Ziel war wohl irgendein Flugfeld in Schleswig-Holstein (Leck? Jagel? Husum?). Auf dem Weg dorthin „verschwanden“ Lastzug, Inhalt und Fahrer nebst Beifahrer in Hamburg. Das muss kurz vor dem Eintreffen der britischen Truppen gewesen sein. Jedenfalls war S. wieder in seiner Heimat und schuf sich so die Basis für seine Selbständigkeit als Fotograf. Er eröffnete ein Geschäft auf St. Pauli, klugerweise erst nach der „Währung“, also der Währungsreform 1948. In der Nachkriegszeit waren Fotoapparate so gut wie nicht vorhanden. Was nicht den Besatzungsbehörden abgeliefert worden war, oder von Soldaten „befreit“, war spätestens auf dem Schwarzmarkt in Essbares umgetauscht worden. Eine gute Basis für eine Tätigkeit als Fotograf also. Er heiratete dann eine Einheimische und bekam 1948 mit ihr eine Tochter, eben besagte Josefine, die später in die Fußstapfen ihres Vaters trat und auch fotografierte.

Susanne (S): Ja, Mann, die Josie. War ne feine Deern. So richtig schick, mit ihren Chinesenaugen und de lange swatte Hoor (und den langen schwarzen Haaren). Und plietsch (klug, schlau) war die. Die hat sogar studiert. Anne HFBK im Lerchenfeld (Hochschule für Bildende Künste). Aber hat sie dann aufgehört, als ihr Oller krank wurde. Musste sie sein Laden übernehm. Hat sie denn auch n paar Jahre gemacht, aber dann hatten die Leute alle wieder Fotoapparate und das Verkaufen war nich ihr Ding. Das war mehr sonne Künstlerische.“ Aber die ham immer alles wegfotografiert, was nich bei drei auffn Baum war.“ (lacht) Die hat auch immer hier gewohnt, Talstraße, Schmuckstraße... Ich hab immer gedacht, die is und bleibt sonne Chinesin, dass se hier in Old Chinatown geblieben is. Aber wir hatten immer Kontakt, Später is sie denn krank gewordn. Krebs. Erst die eine Brust ab, denn die annere, denn ham sie ihr alles rausgeschnippelt, so Unterleib, weisst Du. Und wurd und wurd nich besser. Ganz elendich. Hat sie immer gesacht „Der liebe Gott will mich wohl nich am Stück, sondern in Einzelteile.“ Ja, und kurz bevor die Josie denn gestorben ist, hat sie mir noch die beiden Alben geschenkt. Der annere Kram ist denn ja wohl wechgekomm. Wie is das eigentlich, wenn ein tot bleibt und keine Familie hat? Denn smiet se doch allns wech, ne?“ (Dann werfen sie doch alles weg?).

Anders (A): Ich glaube, da kommt dann so ein Nachlassverwalter, das Erbe fällt dann an den Staat, Finanzamt. Da wird dann geguckt, ob und was da an verwertbarem Vermögen vorhanden ist – und der Rest landet dann wohl auf dem Müll.

S: Auffn Müll, das ganze Lebenswerk. Tja, das wird denn bei mir wohl auch... oder, weiss was – ich mach an die Alben ein Zettel mit deine Adresse und denn sollst du das ham, wenn ich mal nich mehr...

A: Ich glaube, ich würde das eher an das Museum geben. Altonaer Museum.

S: Denn mook doch, wat du wullt. (Mach doch, was Du willst). Wenn ik den Mors tokniep, denn is mi dat schietegol. (Wenn ich sterbe, dann ist mir das scheissegal).

A: Ist ja hoffentlich noch lange hin. Wolln wir mal gucken? Oh, ist ja sogar alles beschriftet!

S: Ja, die Josie und ihr Oller, das warn ganz pingelige (pedantische, ordentliche) Leute.

A: Na, das ist ja alles weit vor meiner Zeit, da liegt ja noch alles in Trümmern. Von 1945, 46, und so weiter. Da gab's mich noch gar nicht.

S: Nee, mich auch nich, aber kuck hier, die Görn „Kinder in der Talstrasse, 1948“... mit Namen. Kenn ich noch 'n paar von. Das warn denn „die Grossen“, als ich lütt (klein) war.

A: Wen erinnerst Du von denen denn noch? Leben da noch welche von? Kennst Du ein paar Geschichten?

S: Ja, 'n paar weiß ich noch von, aber ob die noch leben? Weiß nich. Sind ja denn auch viele weggezogen, war ja man keine tolle Gegend.

Wir blättern ein paar Seiten weiter.

S: Kuck ma, da bin ich zum ersten Mal mit drauf. Die mit dem Butterlecker (Schleife) im Haar. Kennst die? Das ist Dein Bruder und daneben Deine große Schwester.

A: Gibt es auch Bilder, wo ich drauf bin? Das kann dann ja erst später... Ich erinnere mich überhaupt nicht. Aber Du kennst die Kinder alle?

S: Nee, alle nich. Sind ja so viele. Bei manchen hab ich den Nam' vergessen. Mal sehen, an wen ich mich noch erinnern kann. Kuck, das ist Karl-Heinz. Ham wir immer alle Kalle zu gesacht. Der is später im Hafen gewesen. So wie Du.

A: Na, der ist doch ein ganzes Stück älter als ich, der hat bestimmt früher angefangen.

S: Hat 'n böses Ende genommen, der Kalle. Dem is da später mal ne Kiste an'n Kopp geknallt oder son Haken vom Kran. jedenfalls hatte er ne richtige Delle im Kopp und war auch n büschn bekloppt. Kalle is malle, ham wir gesacht. Der ist denn oft mal auffe Straße einfach so umgefallen und hat gezappelt. Weiß nich, wie das heißt.

A: Epilepsie. Kann nach Kopfverletzungen schon mal vorkommen.

S: Na ja, so Epileppi eben. Fand seine Frau denn auch nich so toll und hat ihn sitzen lassen. Später isser denn mal im Hauptbahnhof die Rolltreppe runter gefallen bei son Anfall. Knack, Genickbruch.

A: Die da kenn ich auch noch. Das war doch so eine Sportskanone.

S: Ach ja, die schnelle Elke. Die ist immer gelaufen, auf'm Sportplatz, inne Schule. Ich glaub, die konnte gar nich richtig ruhig gehen. Immer im Laufschritt. Die war später sogar in einem Verein und hat Medaillen gewonnen. Kuck mal, wie dünn die is. Echt ne Bohnenstange. Keine Titten, kein Arsch inne Büx. Einfach son Strich im Gelände. Aber eben schnell, die schnelle Elke eben.

A: Heute würde man der wohl Magersucht diagnostizieren.

S: Kann sein. Die hier sind das genaue Gegenteil: Gerhard und Hartmut, die Fettmöpse.

A: Ich erinnere mich. Hatte deren Vater nicht 'ne Schlachterei?

S: Jo. Die hatten immer gut zu futtern.

A: Weisst Du, was aus denen geworden ist?

S: Die haben beide Schlachter gelernt. Oder sollten sie wohl. Gerhard hat noch n paar Jahre den Laden gehabt, aber die Supermärkte haben den denn inne Siebziger kaputt gemacht. Aber sein Bruder der is inne Politik. War wohl sogar mal inne Bürgerschaft. CDU.

A: Nicht aus allen von uns ist was Anständiges geworden. (grinst)

S: Klaus. Der is zur See gefahren. Der war sogar mal im Knast, in Afrika. Hat wohl was geschmuggelt oder so. Da hat er sich denn wohl irgendwas weggeholt. Jedenfalls war er dann Frührentner. Ne arme Sau. Hat sich totgesoffen.

A: Da kenn' ich einige, die an Alkohol oder Drogen krepiert sind.

S: Ja, n paar ham sich auch selbst... Krch.. (Geste des Halsabschneidens) Hier, der, Norbert, der hat sich später vor die U-Bahn geschmissen. Waren damals alle schockiert. Hab denn gehört, dass er schwul war und denn gabs Stress mit den Alten und da isser dann wohl nich mit klar gekomm.

Wir blättern ein wenig planlos in den Alben, um zu gucken, wer wann wo zu sehen ist und zu wem uns Geschichten einfallen.

S: Hier, die Gudrun. Die is schon während der Schule anschaffen gegangen und denn auf Droge – mit zwanzig oder so ham sie sie dann gefunden. Überdosis.

A: Davor hatte ich bei meiner kleinen Schwester auch immer Angst. Die hat das Leben ja auch hart rangenommen.

S: Na, aber nun hat sie es doch geschafft. Wenn das man auch son unanständiger Beruf is. Hat sie mir erzählt. Kerle verhauen und so. Wie findstn das?

A: Ich denke, das ist ein Job wie andere auch. Sie hat wohl manchmal auch ganz gut damit verdient, aber dann alles von den falschen Kerlen auf den Kopf hauen lassen. Jetzt will sie sich aber zur Ruhe setzen und ihr Studio verkaufen. Wer will sich schließlich schon von 'ner Oma fesseln und quälen lassen.

S: Gibt bestimmt auch welche, die drauf stehn.

A: Ha! Den kenn' ich aber auch noch. Ralle! Ralf. Das war doch so'n Typ, der schon mit fünfzehn Autos geklaut und gefahren hat. So'n Motor-Freak. Hat der nicht mal einem Zuhälter den Mustang geklaut?

S: Jo, der war so blöd. Ham wir hier alle über gelacht. Klaut dem Wolle die Karre. So'n weißes Cabrio. Direkt vor dessen Stammkneipe. Schlüssel steckte noch.

A: Wolle und seine Kumpels haben den dann aber doch erwischt und bös vermöbelt.

S: Ja, der blöde Ralle. Fährt mit der Karre die Reeperbahn rauf und runter und klar, ham sie ihn dann gestellt und ordentlich verhaun. Der war danach sogar im Krankenhaus. Hat das aber dann trotzdem nich lassen können. Aber die Bullen habe ihn nie erwischt. Hat denn auch später was mit Oldtimern gemacht. Hatte ne Werkstatt in Harburg oder so. Lebt aber auch schon lange nich mehr.

A: Lass mich raten: Autounfall?

S: Jo, logo. Gegen ne Autobahnbrücke. Aus die Maus.

A: Ach, guck mal hier: Polizeieinsatz in der Talstraße am 1. Mai. Sind gleich ein paar Bilder.

S: Der rote Arno. Kommunisten-Meyer ham sie ihn auch genannt. Der wohnte doch da in dem Eckhaus. Hat bei den Nazis im KZ gesessen.

A: Der Rote Häuptling. Den kenn' ich sogar noch aus meiner revolutionären Zeit. Den hab ich immer so'n bisschen bewundert. Hier, das Transparent: „Der 1. Mai bleibt rot! Trotz Verbot nicht tot – KPD“. Hing am Balkon.

S: Ja, kuck, und hier kommen die Bullen. Gleich mit drei Peterwagen (Streifenwagen). Und denn – nächstes Bild, machen sie das Transparent wech. Und da kommen sie mit Arno raus und führn ihn ab.

A: Der war in den späten Fünfzigern und in den frühen Sechzigern öfter in Santa Fu (Gefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel), weil er Kommunist war. Er hat mir erzählt, dass er ein paar von den Schließern da sogar noch aus der Nazizeit kannte. Sogar einen der Richter, die ihn verknackt haben wegen Verstoß gegen das KPD-Verbot.

S: Mal sehn, wenn kenn' wir noch... Och, kiek mol – kennst den? Inne Lederhose.

A: Oh, Scheiße, das bin ja ich! Wie alt war ich da? Noch nicht in der Schule.

S: Kuck, '59. Da musst Du so fünf gewesen sein.

A: Nee, noch vier. Ist ja vom Sommer, haben ja alle kurze Hosen an. Ich hab' doch erst im Oktober Geburtstag.

S: Neben Dir, der Schwatte, das is Eddy. Edgar hieß der eigentlich. Sein Papa war Seemann, Ami oder so. Hat denn aber die Mutter sitzen lassen.

A: Eddy bin ich später noch mal begegnet, Anfang der Siebziger, im Jugend-Knast. Hahnöfer Sand.

S: Du warst im Knast?

A: Nee, wie bei Monopoly – nur zu Besuch. Ich habe mal eine Zeitlang mit jugendlichen Straftätern so Kulturzeugs gemacht: Theater, Schreibwerkstatt und so. Na, und einmal haut mir da einer von hinten auf die Schulter und brüllt „Hey, Slim, ham se dich auch eingesperrt!“ Und dann war das Eddy. Saß wegen Einbruch. Kleinkram eben. Hat mir dann viel erzählt über sein beschissenes Leben als dunkelhäutiger Jugendlicher. Wir wollten uns dann noch mal treffen, wenn er draußen ist – aber irgendwie ist es dann doch nicht dazu gekommen. Weißt Du mehr über ihn?

S: Der soll in den Achtzigern nach England gegangen sein und Musik gemacht haben. Keine Ahnung.

A: Ich kenn' nicht mal seinen Nachnamen, sonst könnte man im Internet noch mal gucken.

S: Kuck, hier sind sogar ein paar Bilder mit Erwachsenen drauf. Die olle Ella!

A: Ella mit'm Rad. Das war auch so ein Original. Die war auch schon ganz schön tüddelig.

S: Nee, ich glaub, die hat im Krieg Schlimmes mitgemacht. Die kam doch aus'm Osten. Ostpreussen oder so.

A: Ich erinnere mich nur, dass die manchmal draußen auf der Straße vom Fahrrad gebrüllt hat: Die Russen kommen! Haut ab, die Russen kommen! Da hatte die dann wohl so einen Flashback. Ich fand die als Kind jedenfalls immer gruselig.

S: Die ist denn auch nachher inne Anstalt.

A: Den kenn ich auch noch. Pablo! War auch so ein alter Kommunist.

S: Hieß der nicht Paul? Paul Scholz oder Schulz?

A: Ich kenne ihn nur als Pablo. Der war Spanienkämpfer in den internationalen Brigaden, im Bürgerkrieg. 1936 bis 1939. Der hat mir mal seine Lebensgeschichte erzählt. Spannend. Als die Republikaner in Spanien von den Faschisten geschlagen waren, ist er rüber nach Frankreich. Da haben sie ihn interniert. Nach Deutschland konnte er ja nicht wieder – und wollte als Antifaschist auch nicht. Dafür kamen die Deutschen dann 1940 quasi zu ihm, als sie Frankreich besetzten. Er hat es aber geschafft, abzuhauen und sich dann den französischen Partisanen angeschlossen. Hat sogar nach Kriegsende einen Orden bekommen. Dann war er wohl ein paar Jahre in Frankreich, ist dann aber so um 1960 wieder nach Hamburg zurück.

S: Kiek hier, der blinde Möller mit sein Stock. Das war auch son armer Kerl.

A: Was war mit dem?

S: Der hat in sonner Chemiebude gearbeitet. Da is dann wohl was explodiert und dann war sein ganzes Gesicht verbrannt und er war blind. Der hatte auch sonne ganz fiese Frau. Die hat ihn nach Strich und Faden betrogen. Is mit andere Kerls ins Bett. Hab sogar mal gehört, dass sie das gemacht hat, wenn er dabei war. Konnt ja nix kucken, die arme Sau. Nur hörn. De is nun ok al lang dot.

A: Ha, hier bin ich ja noch mal. Die ganze Bande. Knut, schon als Jung-Rocker, Heidemarie schick zurecht gemacht und die lütte Sonja an meiner Hand. Und wer ist das Mädchen da an der anderen Hand von ihr?

S: Das war Andrea. Die hat einer umgebracht. Vergewaltigt und erwürgt. In den Wallanlagen. Da war sie erst 16, 17 oder so. Schrecklich. Da kuckt man das Bild an und weiß: Die hat nur noch drei Jahre zu leben.

A: Da ist sogar Petra mit drauf. Die ist sonst auf keinem Bild.

S: Die dittsche Petra. Die wollte oder sollte wohl nicht mit drauf.

A: Huh, peinlich, mein erster Sex. Im Kohlenkeller – und alle haben zugeguckt.

S: Ich weiß, ich stand oben auf der Kellertreppe und war echt sauer.

A: Ich glaube, das arme Ding war die, mit der die meisten Jungs hier ihre ersten sexuellen Erfahrungen gemacht haben. Irgendwie waren wir fies drauf damals. Petra hatte Down-Syndrom und war die Herzensgüte in Person. Wenn Du sie um was gebeten hast, hat sie es gemacht. Alles!

S: Warn nich nur die Jungs. Wir Mädels waren auch nich besser, glaub mir.

A: Sie hat halt gern geraucht, und für 'ne Elfer-Packung HB für damals 'ne Mark konntest Du sie ficken oder sie hat Dir einen geblasen. Das haben die Jungs natürlich ausgenutzt. Galt sozusagen als Ritual des Erwachsenwerdens, irgendwie. Sex mit Petra, aber vor Zuschauern. Das ist mir heute noch peinlich, echt.

S: Muss Dir nich peinlich sein, Ham wir doch alle gemacht. Wir Mädchen auch, also nicht wie ihr Jungs. Wir haben uns von ihr eben.. ach, komm, lass. Swienkrom!

A: Weisst Du, was aus ihr geworden ist?

S: Der Vater is gestorben, und die Mutter hat sie dann wohl in so ein Heim für Behinderte, Alsterdorfer Anstalten oder sowas? Weiss ich jetzt nich. Ob die wohl noch lebt? Leben solche Menschen eigentlich so lange wie normale oder sterben die früher?

A: Da bin ich überfragt. Aber so, wie die gequalmt hat...

S: Jedenfalls war ich damals ganz schön sauer auf Dich, dass Du mit der... Ich hätte früher so gern mit Dir...

(Anders schweigt einen Moment lang peinlich berührt)

A: Da ist der Kumpel von meinem Bruder Knut. Der blöde Bernd. Der hat uns mal fast alle umgebracht.

S: Wie?

A: Da waren wir schon etwas älter. Mein Bruder lebte da aber noch. Einer aus seiner Rocker-Gang hatte Großeltern mit einem Kleingarten. Da haben die Typen dann immer Party gemacht. Sex and Drugs and Rock'n'Roll. Wie alt war ich da, als ich das erste Mal dabei war? 13, 14 oder so. Na jedenfalls hatten sie beschlossen, ein Lagerfeuer zu machen. Aber da war das Holz wohl so nass und das wollte nicht richtig brennen. Dann sind ein paar Jungs los und haben in den Nachbargärten nach Benzin gesucht. Schleppt Bernd einen 20-Liter-Kanister an und schüttet den Inhalt großzügig über den Holzhaufen, so richtig mit Schwung und verteilt den Sprit auch noch auf Möbel und Laube. War wohl schon besoffen. Irgendwie war da wohl noch ein bisschen Glut in dem Holz, jedenfalls gibt es einen Riesenknall und eine wahnsinnige Stichflamme. Holzstapel brennt, Gartenmöbel brennen, Gartenlaube brennt. Paar Frisuren oder Klamotten sind wohl auch angekokelt worden. Besoffen, wie die meisten waren, wusste keiner, was zu tun war. Dann sind alle abgehauen und jemand hat dann wohl die Feuerwehr gerufen. Jedenfalls ist die Hütte runter bis auf's Fundament weg gewesen.

S: Ja, Knut und seine Gang. Das waren schon so Typen. Hast mal drüber nachgedacht, was aus dem wohl geworden wär, wenn er nicht damals mit dem Auto...

A: Wahrscheinlich wär er Dauergast im Knast. Oder Unternehmer. Keine Ahnung.

S: Tja, unsere vielen Toten. Irgendwie schon gruselig – uns gibt’s ja noch. Wie lange wohl...

(Fortsetzung folgt, falls Bedarf vorhanden)


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Outtake One – Josies Totenbuch

15.08.2021 um 19:52
Vielen Dank, ich freue mich, dass es weitergeht und mir ist völlig klar, wie viel Zeit und Arbeit darin steckt, aber halt auch ganz viel Mensch und Geschichte. Halt die kleinen Geschichten, nicht die großen, die es auf die titelseite schaffen, sondern die, die sonst ungehört bleiben. Und ich freu mich, dass du sie uns erzählst.


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Outtake One – Josies Totenbuch

18.08.2021 um 15:21
Sowas von Bedarf!

Du hast sicher selbst schon drüber nachgedacht, das mal zu veröffentlichen. Aber neben diesen ganzen "so waren die 60er / 70er"-Bildbänden für 9.99, wo man über die Prilblume nostalgisch lachen oder den Kram der Mudda beim Kaffeetrinken vorlesen soll (so wirken die immer auf mich), hat das natürlich zu viel Wirklichkeit. Das kauft keiner.
Wilde Zeiten, das kann der junge Mensch von heute sich gar mehr nicht vorstellen.


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Outtake One – Josies Totenbuch

18.08.2021 um 15:54
Zitat von coronerswifecoronerswife schrieb:Wilde Zeiten, das kann der junge Mensch von heute sich gar mehr nicht vorstellen.
Meine Kinder können nicht mal verstehen, wie wir das früher ohne Internet bei Schularbeiten gemacht haben.


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Outtake One – Josies Totenbuch

18.08.2021 um 16:17
@Mailaika
Das war jetzt nicht das, was ich meinte :D.


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Outtake One – Josies Totenbuch

18.08.2021 um 17:10
Zitat von coronerswifecoronerswife schrieb:Das war jetzt nicht das, was ich meinte :D
Nee, ist mir schon klar. :D
Aber die Geschichten von Doors sind ja noch mal eine ganz andere Welt. Die Kids heut können sich ein Leben ohne Smartphone nicht mehr vorstellen, geschweige denn Zeiten, als der Lehrer noch mit Schlüsseln geschmissen hat.


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Doors Diskussionsleiter
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Outtake One – Josies Totenbuch

21.08.2021 um 10:34
@Mailaika
@coronerswife

Eine Frage meiner Kinder lautete einmal:

Wie seid Ihr eigentlich früher ohne Computer ins Internet gekommen?


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Outtake One – Josies Totenbuch

21.08.2021 um 11:19
:D


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Outtake One – Josies Totenbuch

02.09.2021 um 00:22
@Doors


Geniale Geschichten in der langen, tollen G eschichte ausm Leben...

Well done! 🤗🤗🤗🙃🙃🙃🥰🙂🙂🙂

Mehr davon😋und Dankeschön für die Arbeit!!!🤗🤗🤗😘😘😘


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Outtake One – Josies Totenbuch

11.12.2021 um 07:53
Super geschrieben - würde mich auch über eine Fortsetzung freuen.


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