Die "Erleuchtungskrankheit" - Fallen auf dem spirituellen Weg
02.09.2012 um 08:44
MorgenPredigt 3. Teil
...Oh meine lieben Freunde, wenn ihr doch einen einzgen aufmerksamen Blick auf eure Seelen werfen würdet, sie euch gewissenhaft ansehen und eurem Gewissen den kleinsten Nadelstich versetzen würdet, du gütiger Himmel, was würde sich da wohl vor euch entschleiern, was erschiene da wohl vor euren Blicken, Gott behüte, sag ich noch einmal, und dabei meine ich nicht einmal die Schlimmsten unter euch, jende, die schamlos Witwen und weinende Waisen erpressen, Männer töten, Leiber und Seelen durch -Grund-gütiger Himmel! - durch unzüchtige Sodomie beflecken, sie alle meine ich nicht, sondern eben jene Allerbesten, Saubersten, jene, die von sich selbst glauben, in makelloser Reinheit vor dem Angesicht Gottes zu wandeln und es die anderen glauben machen, sie also sind es, denen sich das ganze höllische Grauen und die Scheußlichkeit ihrer Seelen offenbaren würde wie ein schrecklicher, mit wimmelnden Schlangen gefüllter Abgrund, sie sind es, die dann erkennen müßten, wie sie in all ihrer scheinbaren Reinheit Stunde um Stunde unseren Erlöser ans Kreuz nageln, und dies in ihren eigenen Seelen, wie sie ihn aufs Scheusslichste quälen, seine Seite mit der Lanze durchbohren und seine Lippen mit Galle netzen; sie sind es, diie beim Anblick der eigenen pechschwarzen Finsternis die eigene Seele fliehen müßten, als hätten sie eine Ratte berührt oder eine Blindschleiche, wo sie sich Samt und Seide erhofft hatten, oh welches Grauen, ihr Allerliebsten, welch grausamer Verrat, welche Heimtücke des Satans, o wehe wehe
Denke nur, Bruder, denke, Schwester, wieviel teuflische List sich in deiner - ich sage nicht Unreinheit - sondern eben in deiner Reinheit verbirgt, in deiner Güte, deiner Liebe und Rechtschaffenheit, denk' nur, wie der freche Höllenhund auf deine ewige Verdammnis wartet und dir die listigsten Fallen stellt und sich überall hineinschlängelt, in deine unschuldigen Gedanken und Worte und Taten, wie er in er in alles sein tödliches Gift einsickern lässt, und tröpfelt und tröpfelt, denk nur, mit welcher Zartheit er - nur, um dich um so müheloser zu umgarnen - dich nicht etwa zum Bösen drängt, sondern eben zum Guten, und wie er dann dieses Gute mit seiner Heimtücke durchtränkt, es verunreinigt und schändet, als würde er - ohne hier einen anzüglichen Vergleich anführen zu wollen - in edlen Wein hineinpissen!
Dann freut er sich und frohlockt, dann kichert er vor lauter Entzücken, weil er dich, lieber Bruder, und dich, liebe Schwester, so elend betrogen hat, dass du nicht einmal wahrnimmst, wie dein ganzer edler Glaube ein einer einzigen Flamme der Gotteslästerung brennt, wie deine Nüchternheit die widerlichste Trunkenheit ist vor Gottes Angesicht und all' deine Reinheit nichts weiter als zügelloseste Ausschweifung, deine Demut - nichtswürdigster Hochmut, dein Mut - stinkende Feigheit, deine Großzügigkeit - schamloser Geiz, und deine Wahrheitsliebe - Lüge, die rachedürstend zum Himmel schreit. Liebster, geh in dich, und du wirst sie in ihrer Nackheit sehen: Abscheulichkeit, grausame Verbrechen, widerlichste Fäulnis.
(Aus L. Kolakowski: Die grosse Predigt des Bruder Bernhardus)