Die "Erleuchtungskrankheit" - Fallen auf dem spirituellen Weg
01.09.2012 um 08:22
Morgenpredigt Teil 2
Liebe Brüder und Schwestern
...wo aber verbirgt sich seine ganze teuflische Heimtücke, wo nisten die Betrügereien und Boshaftigkeiten, wo soll man sie suchen, wie sich ihrer erwehren, ihr Lieben, wo findet man jenes satanische Nest, um dann im Neste selbst den Fein einn für allemal vernichtend zu schlagen?- das ist es, da habt ihr das THema der heutigen Predigt, das, meine Brüder und Schwestern,wovon ich euch reden werde, oder vielmehr schon rede, eben jetzt rede, hört zu, hört gut zu und vernehmt, was ihr ohnehin wisst, nur dass es eben leider nicht ausreicht, es zu wissen, es kommt nämlich darauf an, dass ihr wissen müssst, dass auch ich es weiss, ich. euer Hirte und Beschützer, euer Berater und Bewahrer angesichts des teuflischen Zorns. Nirgendwo anders nämlich hat sich der grausame Höllenfürst seine Heimstatt gewählt als ausgerechnet in euch selbst, jawohl, in euren Seelen und Eingeweisen, dort hockt er, dort hat er sicheren Unterschlupf gefunden, dort haust er in fürstlich bequemen Schlössern, von dorther zettelt er, um euch zu verderben, belauert er eure Unschuld, ihr Lieben, von dorther schiesst er seine Bosheiten ab und verspritzt er sein Gift, jawohl, ihr selbst tragt ihn in euch, tief drinnen, wie Jonas den Wal, wollte sagen, wie der Wal den Jonas, aber vielleicht geht es hier gar nicht um Jonas oder den Wal, denn all das ist unwichtig, das heisst der Jonas ist wichtig, weil er ein Mann Gottes war, nur der Wal war unwichtig, eben weil er kein Mann Gottes war, darum geht es auch gar nicht um den Wal, und ohne Wal kein Jonas, lassen wir alle beide, den Jonas wie den Wal, denn schliesslich geht es um anderes,...
- also, zur Sache, was hab' ich doch eben sagen wollen, ach ja, dass ihr also den Verräter in euch, in eurem Innern tragt, genau im Mittelpunkt, nicht etwa nur in einem Teilchen des Leibes, im Kopf oder in den Beinen, nein, überall, überall, in jedem winzigsten Bestandteilchen eurer unflätigen Leiber und eurer ebenso unflätigen Seelen, dort, ihr Allerliebsten, ihr Teuren, tragt ihr die Satansseuche, die teuflische Kraft oder vielmehr Schwäche, wie ich schon sagte, in euren Köpfen hockt er, der Versucher und umgarnt eure Gehierne, und in den Bäuchen sitzt er, im Magen, der Freßsack, und in den Schamteilen, die zum Zeugen gut sind, meine Brüder und Schwestern - hoho, seht nur, wie er sich hier breitgemacht, der Wüstling, der unersättliche, auch in der Leber lauert er, meine Lieben, und schnaubt Gift und Galle, um im Herzen, wo die unreinen Gedanken schlüpfen, im Blut, wo er euch zu grausamen Untaten anstiftet, in euren schamlosen Händen hockt er, und was er mit ihnen für Scheusslichkeiten anstellt, im Gedärm sitzt er ebenfalls , und wie, und in den Augen, auch in den Augen siedelt er und linst begierig in die Welt, in den Ohren, die nach Neuigkeiten dürsten, auf der Zunge - hoho, ihr solltet einmal sehen, wie er es sich auf der Zunge gemütlich gemacht hat und Verleumdungen speit und wild drauflos lästert und lügt und Gott verhöhnt, überall, Geliebte, vom Scheitel bis zur Sohle, bekriecht er euch, der unreine Spötter, all' eure Glieder wiegelt er zur Sünde auf, er lässt euch tanzen wie Marionette, verleitet euch, Böses zu tun, bedrängt euch, verspricht, überzeugt, grässliche Dinge lässt er euch tun, unr ihr, meine Allerliebsten, ihr leistet ihm Gehorsam, fallt seinen grausamen Krallen zum Opfer, könnte euch seiner nicht erwehren, alle seid ihr hoffnungslos seiner Herrschaft verfallen, Männer wie Weiber, Mädchen wie Knaben, Greise, Greisinnen, Kinderlein, die kaum richtig laufen gelernt haben, was sag' ich - Säuglinge, Neugeborene, ach was! - selbst die Frucht, die noch im Mutterleib schlummert, die kaum eben gezeugt ist, alle, alles, ach! Welch' Abgrund an Verzweiflung, meine Allerliebsten, welche Trauer, euch so sehen zu müssen, euch, die der Widersacher versklavt und zu schändlichem Dienste gepresst hat, euch, die er dem Gelächter preisgegeben, die er als Opfer des göttlichen Zorns ausersehen hat, denn wisset, ihr Lieben: schon längst die die Axt an die Wurzeln gelebt, iam enim securis ad radicem arborum est posita... ".
Aus: Leszek Kolakowski: Die grosse Predigt des Bruder Bernhardus
In: Weltrevolution der Seele (Peter Sloterdijk/Thomas H. Macho (Hg.)
Ein Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis von der Spätantike bis zur Gegenwart, 1. Band. S. 451Text