Optimist schrieb:Ich erkläre es mir durch die moralische Entwicklung des Menschen. Wenn du dir die moralische Entwicklung nach Kohlberg anschaust, zielt das AT auf die niederen Entwicklungsstufen an, während das NT auf die höheren abzielt.
Mal abgesehen von der etwas plakativen Gegenüberstellung von AT und NT ist es durchaus richtig, daß die menschliche Kultur und Ethik durch die Zeitalter hinweg von einer steten Veränderung geprägt ist.
IM AT gibt es im Gesetz den bekannten Spruch "Auge um Auge, Zahn um Zahn [...]", der vielen heute barbarisch anmutet. Tatsache aber war er eine Verbesserung des Rechtsdenkens und Rechtsbrauchs. Strafe soll der Schuld gleichwertig sein und nicht überzogen. In früheren Zeiten galt, wie das Lamechslied aus 1.Mose4 überspitzt formuliert: "
einen Mann erschlug ich für meine Wunde und einen Knaben für meine Strieme. Wenn Kain siebenfach gerächt wird, so Lamech siebenundsiebzigfach". Damals noch weit verbreitet war die Blutrache, das Rechtssystem von Sippen. Ohne ein fest formuliertes Rechtssystem lag es in der Hand des Sippenverbandes, sich um das Recht des einzelnen Sippenangehörigen zu kümmern. Wurde der z.B. durch wen von ner anderen Sippe verletzt, so mühten sich Vertreter beider Sippen, einen Schadensausgleich auszuhandeln. Gelang dies nicht, konnte die Sippe des Opfers sich an den anderen geradezu schadlos halten, die anderen überfallen, berauben, abschlachten. Jedenfalls wenn ihnen das gelang und die andere Sippe nicht stärker war. Dieses Sippenrecht führte noch im neuzeitlichen Korsika zu generationenübergreifenden Blutfehden. Dem gegenüber war ein fest ausformuliertes Recht in Form eines Straftatkataloges mit dazu passenden Strafen ein gewaltiger Fortschritt, geradezu ein Muß für größere Gemeinwesen bis hin zu Staatsgebilden. Und das "Auge um Auge" war gleichsam die Präambel: "Die Strafe muß der Schuld angemessen sein", sie darf die Tragik für das Opfer nicht runterspielen, und sie darf den Täter nicht über Gebühr richten.
Wir fragen uns heute, ob die angegebenen Strafen zumindest in vielen Fällen wirklich angemessen sind oder nicht vielleicht viel zu hart. Würden jedoch uns genehme Konsequenzen bei den biblischen Gesetzen stehen, hätten wohl die damaligen Menschen, denen dieses Gesetz ja gegeben war, ihrerseits die einzelnen Bestimmungen für unangemessen und ungerecht empfunden. Und sie wären beim alten Recht, der Blutrache und Sippenhaft, geblieben.
Gesetze sind niemals absolut, sie können nur im Rahmen ihrer zeitgeschichtlichen Einbindung als gerecht und ethisch vertretbar empfunden werden. Manche Rechtsgrundsätze mögen zeitlos wirken, weil sie über viele Epochen hinweg ihre Gültigkeit behalten, aber in den Geisteswissenschaften ist dennoch seit langem klar, daß Recht wie Ethik nicht absolut sein kann. Selbst in ein und der selben Zeit kann eine eigentlich als schlecht eingeschätzte Tat situationsbedingt als gut empfunden werden, wenn so ein größeres Übel abgewendet werden kann. Etwa bei Rot auf ne befahrene Straße zu rennen und den Verkehr zu gefährden, weil sich ein Kind auf dem Damm befindet, mal ganz simpel gesagt.
Das Alte Testament wird weithin von einem strikten Rechtsempfinden durchzogen, welches rigorose Strafen vorsieht, selbst für in unseren Augen eher Belangloses. Aber es ist eben kein Recht der Willkür und Rache, auch wenn es heute oft für genau das gehalten wird.
Pertti