Leocadia schrieb:Ich kann diesen Ansatz ehrlich gesagt nicht nachvollziehen. Das würde ja bedeuten, dass eine Plattform bekommen und in einem geschützten Raum Anliegen vorbringen Bürgern heutzutage in einer repräsentativen Demokratie unmöglich ist. Wir haben aber doch eine funktionierende, vielfältige Zivilgesellschaft, wir haben Parteien, Bürgerinitiativen, Vereine usw., in denen sich Bürger organisieren und einbringen können, um sich eine politische Meinung zu bilden und dann damit "herauszukommen" und eine politische Forderung verlauten zu lassen.
Dass wir das alles haben, ist bekannt, aber warum nutzen es immer weniger Menschen? Warum treten so viele aus Parteien aus, wie noch nie zuvor in der Geschichte des Parlamentarismus; warum die große Verdrossenheit ggü Politik, Medien sonstigen Staatsorganen? Warum diese Radikalisierung in weiten Teilen der sog freien Welt, obwohl ja die Demokratie unser Hauptwerkzeug der Befriedung untereinander sein sollte; warum die immer stärker werdende Tendenz zum Extremismus? Warum der Abbau des Sozialstaates bei gleichzeitigem gigantischen Wachstum der großen Vermögen; Warum das marode Bildungssystem, warum der Reformstau an allen Ecken und Enden, .. ich könnte hier die halbe Seite mit Fragen dieser Art voll schreiben. Ich denke, du weißt aber auch so schon, was der Punkt ist. Der Grund dafür ist, dass weite Teile der Bevölkerung einfach nicht das bekommen, was sie vor Wahlen versprochen bekamen - weil immer nur tendenziell Politik gegen die Interessen der Mehrheit zu Gunsten einer vermögenden Minderheit gemacht wird. Warum, weil es nicht auf politische Bildung ankommt, sondern auf politische Macht, und die hängt ganz klar mit den zur persönlichen Verfügung stehenden Ressourcen zusammen. Das ist ein Problem, und müsste angegangen werden. Nicht Ressourcen sollten darüber entscheiden, wer welche Gesetze macht, sondern die breite Masse der Menschen, oder nicht?
Das Wahl-Partei-System funktioniert in dieser Hinsicht einfach nicht gut.
Es ist zu leicht beinflussbar, korrumpierbar, unterwanderbar, weil nur eine kleine Gruppe von Leuten Politik für die Massen macht, und die ganze Kontrolle über bestimmte Entscheidungen hat.
Lange Zeit konnten wir das im Westen damit kompensieren, dass wir als Nachfahren von Eroberern, Erfindern und quasi Weltbeherrschern (Kolonialmächte) einen gewissen technischen sowie militärischen Vorteil ggü anderen hatten, was uns besseren Zugang zu Ressourcen aller Art ermöglichte, und uns die nötige Wirtschaftskraft gab, unsere Bürger mit ausreichend Wohlstand und persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten zufrieden zu halten.
Langsam brechen aber diese Vorteile weg. Der Rest der Welt holt auf. Unsere technische wie ökonomische Überlegenheit bröckelt, und diese externen Faktoren der Stabilisierung der Gesellschaft werden immer schwieriger zu halten sein. Unsere exportorientierte Wirtschaft leidet darunter; die Preise für bestimmte Waren werden höher; die Leute bekommen Angst um Jobs, etc .. Deshalb diese Unruhe momentan, und deshalb auch der Ruf Vieler nach einer besseren Politik, weil diese offenbar schon lange nicht wirklich das leistet, was sie soll.
Leocadia schrieb:Doch, die Gelegenheit haben die Bürger. Sie müssen sich ein geeignetes Forum suchen, um ihre politische Überzeugung zusammen mit Gleichgesinnten herauszubilden. Das kann ein Bürgerrat sein oder auch die Diskussion innerhalb einer Partei oder Bürgerinitiative, eines Verbandes oder einer anderen Interessengruppe usw. Im Anschluss lässt sich z. B. in einer öffentlichen Diskussion ein Feedback erhalten von außerhalb der "Bubble".
Alles ist viel zu mühsam, wenn letztlich eine kleine korrupte Gruppe das letzte Wort hat. Das ermüdet nur, und erscheint irgendwann völlig aussichtslos, wenn du für paar kleine Änderungen zig Jahre Kampf brauchst, weil Berlin dir immer wieder die lange Nase zeigt, und einfach den eigenen Stiefel durchdrückt.
Du brauchst Macht; dein Wort und deine Meinung müssen was zählen, damit du überhaupt das Gefühl bekommst, dich dort nicht umsonst aufzureiben. Anders bekommst du die Massen nicht zu mehr Engagement, behaupte ich. Da kriegst du vllt nur paar Idealisten zusammen, die viel Zeit und Muße haben, aber einen echten Unterschied wird das nie machen. Wenn dann musst du wirklich die Massen mobilisieren, und das geht mit dem jetzigen System nur schlecht.
Leocadia schrieb:Wenn Bürger der Ansicht sind, dass sie politisch nichts zu sagen haben und sich von dieser Überzeugung entmutigen lassen, dann finde ich, dass das sachlich unbegründet ist. Die Parteien haben ein Interesse daran, den Willen/die Erwartungen der Bürger in ihrer Politik zu berücksichtigen, wenn sie ausreichend Stimmen bei einer Wahl erhalten wollen. Der Wahlkampf im Vorfeld der BTW am 23. Februar nimmt ja gerade Fahrt auf.
In unserer Gesellschaft regieren Ressourcen und Lobbys.
Hier mal ein sogar schon etwas älterer Beitrag dazu; mittlerweile ist es noch schlimmer geworden:
Ich finde, dass wir den Anspruch der Parteien, bei allem und jedem die Entscheidung zu treffen, nicht mehr möglich ist. Also erstens: Die Mitgliedschaft in den Parteien insgesamt beträgt gerade mal drei Prozent der Wahlbevölkerung. Drei Prozent der Wahlbevölkerung, ungefähr ein Mehrfaches, ein Vielfaches mehr engagieren sich irgendwo in der Gesellschaft und sind da Mitglied. Also irgendwas stimmt doch nicht in der Relation, und ich wage manchmal die provozierende Formulierung: Wir haben eine Parteienoligarchie und keine Parteiendemokratie. Und das ist eine ganz gefährliche Geschichte, denn in den Parteien mit ihren wenigen Mitgliedern vergleichsweise mit der Wahlbevölkerung, erstens tun die meisten nicht mit, und die anderen meisten haben keine Möglichkeit, wirklich Einfluss zu nehmen auf ihre Partei. Es ist eine Fiktion, sie wirken zwar mit, aber sie vertreten eben das Volk nicht mehr.
Quelle:
https://www.deutschlandfunk.de/wir-haben-eine-parteienoligarchie-und-keine-100.html
Leocadia schrieb:Und nach der Wahl müssen gewählte Parteien beweisen, dass sie die Wahlversprechen auch umsetzen können. Und die Bürger sollten klug genug sein, Versprechen der Parteien vor einem Wahltermin auf den Prüfstand zu stellen.
Sind sie nicht; das System hält sie sozusagen dumm, weil es den Bürger tendenziell eher ausschließt, als wirklich auf seine Interessen und Bedürfnisse einzugehen.
In kleineren Dingen mag das vllt noch hie und da passieren, dass der Bürger gehört wird. Dazu braucht er aber viel Zeit und Aufwand, und das sind Hürden, die bei den großen und wichtigen Dingen, wie zB Fiskal- oder Wirtschaftspolitik, einfach nicht mehr nehmbar sind.
Also bleibt der Bürger tendenziell auch immer eher klein und ressourcenarm, so dass er sich da auch nur schlecht aus der Situation lösen kann. Das System hindert ihn überall ..
Leocadia schrieb:Wo die Umsetzung von Zielen laut Versprechen oder Koalitionsvertrag nicht gelingt, weil niemand vorhersagen kann, was in einer Legislaturperiode passiert, wäre eine sachliche Erklärung für die Bürger erforderlich. Je nachdem wie diese ausfällt, können die Bürger ihre Schlüsse ziehen. M.E. wird die Politik in D. generell nicht genug erklärt und vermittelt. Das scheint mir tatsächlich eine wichtige Ursache für "unpolitische Bürger" zu sein, aber nicht die repräsentative Demokratie an sich.
Das hat alles nichts mit besser oder schlechter erklären zu tun. Ich bin kein Idiot, und das sind auch die meisten Leute da draußen nicht. Wir sind nur weitestgehend machtlos, und nicht zuletzt auch deshalb schlecht organisiert
Politische "Erklärung" funktioniert ja eher über Kampagnen, und diese haben wieder so ihrer eigenen Dynamiken.. mehr dazu hier:
https://wyriwif.wordpress.com/2018/07/11/politische-kampagnen-als-spass-auf-kosten-der-anderen/
Leocadia schrieb:Dass der Staat nicht die Absicht verfolgt, seine Bürger in Unwissenheit zu lassen und im Gegenteil die Voraussetzungen für eine politische Teilhabe durch Bildungsangebote schafft, darauf hatte ich schon hingewiesen. Somit scheint mir die Herausbildung des beschriebenen „unpolitischen Bürgers“ der repräsentativen Demokratie nicht systemimmanent zu sein.
Der Staat will das sicher nicht; aber der Parlamentarismus ruht sich momentan schon ziemlich deutlich auf seinen eigenen Privilegien aus.
Guck dir doch mal die ganzen Wahlkämpfe der Parteien an. Da wird doch nur Unsinn verzapft, der mit der Realität kaum was gemein hat, weil das offenbar irgendwie doch verfängt. Das ist reine Volksverblödung, die auch immer schön regelmäßig von der PARTEI auf die Schippe genommen wird, so offensichtlich, wie das mittlerweile schon betrieben wird.
Ihr neuster Coup:
Spoiler Martin Sonneborn verzichtet auf Kanzlerkandidatur zugunsten von Dominic Harapat
Freitag, 17. Januar 2025
Berlin, 16.01.2025 – Martin Sonneborn, langjähriger Spitzenpolitiker der Partei Die PARTEI, hat heute bekannt gegeben, dass er nicht für die Kanzlerkandidatur der PARTEI zur Verfügung steht. Stattdessen unterstützt er mit voller Überzeugung Dominic Harapat, der sich als weitaus geeigneterer Kandidat für diese Aufgabe erwiesen hat.
Den Beschluss über die Kanzlerkandidatur fasste das Zentralkomitee der PARTEI, bestehend aus dem Bundesvorstand und den 16 Landesvorständen. Harapat nahm die Nominierung umgehend dankend an.
Martin Sonneborn erklärte zu seinem Verzicht: „Wenn jede Kleinpartei einen Kanzlerkandidaten aufstellt, tun wir das auch. Lang lebe Harapat!“
Dominic Harapat hat sich durch seine bisherige hervorragende Arbeit für Die PARTEI in Hessen und für die Stadtverordnetenversammlung der Weltstadt Wetzlar ausgezeichnet. Er ist in der Partei vor allem als liebevoll-autoritärer Raucher und Arbeiter bekannt. In einer ersten Stellungnahme erklärte Harapat: „Ich freue mich sehr, als erstes Eigengewächs der PARTEI in eine solch exponierte Rolle gebracht zu werden. Deutschland ist eines meiner Lieblingsländer und so möchte ich alle Bürgerinnen und Bürger dazu einladen, mit mir das Projekt 2025 zum Übergang der Kanzlerschaft anzugehen. Ein Land, das so viel zu bieten hat, kann unter der richtigen Führung weit über sich und das eigene Bruttoinlandsprodukt hinauswachsen. Krisen dieser Zeit werden mit meiner Politik der ruhigen Rückhand einfach abgewatscht. Als Arbeiter in der heimischen Industrie kenne ich die Probleme des kleinen Mannes und seiner Frau sehr gut und kann, wie kaum ein anderer, auf Augenhöhe mit dem Volk kommunizieren. Ich spreche mit den Menschen direkt in der Kantine beim Mittag und in der Wirtschaft beim Feierabendbier. Der Anspruch ist klar: Deutschland muss wieder zu alter Größe kommen und mit Kanzler Harapat werden wir es uns zurückholen! Make Germany gray again!“ (Grau ist die Farbe der uniformen PARTEI-Anzüge von C&A.)
Original anzeigen (0,2 MB)
https://www.die-partei.de/
Sehr geil. :D
(wobei es eigtl traurig ist, dass es da eine Satire Partei braucht, um den offenkundigen Irrsinn immer wieder offen zu legen)
Leocadia schrieb:Der Autor vermisst im gegenwärtigen System geeignete politische Institutionen zur Ermöglichung des politischen Bürgers. OK, aber ob das aktuelle System damit Bürger auch gleich zu "Opfern" macht? Die Aussage halte ich doch für gewagt, weil siehe oben, die repräsentative Demokratie ermöglicht natürlich Teilhabe und Einflussnahme, sie ist keine Diktatur, in der ein Bürger schon gar keiner mehr ist sondern nur Befehlsempfänger.
Sie ist keine Diktatur, aber wie es die Dame weiter oben trefflich formulierte, eine "Parteioligarchie" und das ist eben auch keine Demokratie. Die brauchen wir aber, wenn wir die Gesellschaft befrieden wollen.
Leocadia schrieb:Anstelle einer repräsentativen Demokratie wird vom Autor das Losverfahren zur Besetzung politischer Ämter vorgeschlagen. Ich halte das Losverfahren nicht für geeignet, den „unpolitischen Bürger“ in einen „politischen Bürger“ zu wandeln und gleichzeitig ein gut funktionierendes Staatswesen sicherzustellen. Grund dafür ist die anzunehmende fehlende Qualifikation und eventuell fehlendes Interesse einer zufällig ausgewählten Person. Ich würde aber eine vermehrte themenbezogene Einsetzung von Bürgerräten gerne sehen. Deren Zusammensetzung wird per Los entschieden, um eine möglichst umfassende Rückmeldung zu einem Thema aus der Mitte der Gesellschaft zu erhalten:
Ja, über genauen Modalitäten kann man sich ja dann noch mal Gedanken machen, wenn sich was grundlegend bewegt hat. Die Beispiele aus der Geschichte zeigen jedenfalls, dass die Methode evident funktionabel ist, also einen Versuch wäre es jedenfalls schon mal Wert. Vllt erstmal auf tieferen Ebenen, wie gesagt..