Optimist schrieb:Andererseits gibts aus der Wirtschaft diesbezüglich halt immer wieder die Argumente: ansonsten würden die Unternehmer verschwinden. Und in dieser globalisierten Welt ist dies halt auch wirklich recht einfach für diese.
Wieso sollten sich Staaten erpressen lassen, wenn die Zukunft der Zivilisation auf dem Spiel steht?
Rechtsstaaten sind sehr mächtig. Gesetze sind sehr mächtig. Unternehmer haben gar keine andere Wahl als sich zu beugen.
Wir leben nicht in einer Oligarchie (zumindest in Deutschland nicht).
Optimist schrieb:Nur sehe ich es so, dass das alles so kommen musste - weil nicht nur der Neoliberalismus, sondern auch der Kapitalismus auf Wachstum ausgerichtet bzw. angewiesen ist.
Ist falsch.
Kapital wächst zwar grundsätzlich schneller als die Wirtschaft (empirischer Fakt, war die letzten 200 Jahre so mit Ausnahme von den Weltkriegszeiten), aber Staaten haben sich stets als aktive Player im Kapitalismus verstanden.
Staatliche Investitionen in Infrastruktur und Sozialstaat, finanziert mit hohen Steuersätzen um eine möglichst gerechte Verteilung zu erzielen. In den 60ern hatten die USA noch Spitzensteuersätze von über 90%.
Sind die Unternehmen abgewandert? Ist die Wirtschaft zusammen gebrochen?
All das Endete mit dem Neoliberalismus und seitdem sind all die pathologischen Tendenzen des Kapitalismus, die eigentlich der Staat im Zaum halten müssten, ungezügelt.
Optimist schrieb:Ohne Wachstum gibts Stagnation, keine ca. 2 % Inflation und davor haben doch - so weit ich das oftmals schon gelesen habe - Wirtschaftsexperten Angst. Es gibt doch diese Angst vor einem Kippen hin zur Deflation.
Da bringst du einiges durcheinander.
Wachstum ist ein Indikator unseres Wirtschaftssystem der die Entwicklung der Produktivität misst.(Die Lila-Linie in der Grafik in meinem letzten Post)
Das klassische Argument ist nun, dass bei stagnierender oder sinkender Produktivität die Menge der produzierten Güter zurückgeht und die Volumen der verfügbaren Einkommen, dadurch wird der Konsum negativ beeinträchtigt, da gleichzeitig Angebot und Nachfrage sinken.
Da Angebot und Nachfrage aber in etwa gleichmäßig sinken bedingt das weder eine Deflation noch Inflation.
Dogmatisch wurde in der Wirtschaftswissenschaft die letzten Jahrzehnte verbreitet, dass eine Erhöhung der Geldmenge (z.B staatliche Investition) zu Inflation führt, weswegen man im Staatshaushalt auf Defizite usw. achten sollte.
Empirisch hat sich gezeigt, dass weder 2008 noch jetzt nach Corona, wo jeweils die Geldmengen drastisch erhöht wurden, die Inflation in irgendeiner Weise direkt darauf reagiert hätte.
Der Behauptete Zusammenhang besteht nicht.
Stagnierende oder sinkende Produktivität hat also einige Konsequenzen:
1. Weniger verfügbares Einkommen in der Bevölkerung.
2. Weniger Konsumgüter am Markt
3. Weniger Gewinn und damit geringere private Investitionsvolumen.
Das alles ist schlecht in dem System, dass wir aktuell haben.
So muss das aber nicht sein.
Verfügbare Einkommen sind vor 40 Jahren schon von der Produktivität entkoppelt worden, es gibt keinen Grund diese Kopplung selektiv dann wieder aufzunehmen, wenn die Produktivität gerade sinkt.
Alles was man damit ist Gewinne aus guten Zeiten in die Taschen von Shareholdern zu schieben, während man Verluste in schlechten Zeiten auf die Arbeitnehmer abwälzt.
Diese Risikodistribution ist weder fair noch gesamtwirtschaftlich sinnvoll. Der einzige Grund warum es ist, ist dass die Leute die davon profitieren für die entsprechenden Gesetze gelobbyt haben und die Politik ihre wünsche erfüllt hat.
Weniger Konsumgüter am Markt ist auch nicht zwangsläufig schlecht. Lebensstandard und Lebensqualität korreliert so gut wie gar nicht mit der Menge an verfügbaren Konsumgütern.
Geringere private Investitionen müssen durch antizyklische staatliche Investionen aufgefangen werden. Das ist ein vielfach bewährtes Konzept (Keynesianismus)
Letztendlich muss nötigerweise ein System her das Wirtschaftszweige unterteilt in Wachstumszweige und Subsistenzzweige.
Einige menschliche Bedürfnisse wachsen nicht permanent an, in Ländern ohne Bevölkerungswachstum gibt es entsprechend keinen Grund warum die Industriezweige, die diese Bedürfisse bedienen permanent wachsen müssen.
Andere Industriezweige lassen sich Entkarbonisieren oder in einen Zero-Sum-Ressourcenzyklus einbetten, was bedeutet, dass sie nachhaltig wachsen können.
Wieder andere menschliche Bedürfnisse sind nicht geeignet um von privatwirtschaftlichen Unternehmungen bedient zu werden. Bspw: Gesundheit, Bildung, Pflege, Infrastruktur usw.
Hier geht es darum mit staatlichen Investitionen Bedürfnisse für die Allgemeinheit entsprechend der Notwendigkeit zu decken. Dabei darf Gewinn und Wachstum keine Voraussetzung sein, sondern die Bedürfniserfüllung.
"Wirtschaftsexperten" haben keine Angst vor Inflation oder Deflation.
Im Gegenteil, auch bei den Wirtschaftsexperten ist inzwischen die empirische Realität angekommen, dass die Annahmen auf denen die Wirtschaftswissenschaft die letzten 40 Jahre aufgebaut hat, falsch waren.
Bsp:
Die letzten 30 Jahre des Neoliberalismus haben jedoch überall in der Welt gezeigt, dass dieses Modell gescheitert ist.
https://twitter.com/MFratzscher/status/1406890670325960706 (Archiv-Version vom 21.06.2021)Das hat nicht irgendwer gesagt, sondern der Chef vom deutschen Institut für Wirtschaftsforschung das hier getwittert in Reaktion aufs Wahlprogramm der Union.
Optimist schrieb:Klar, das ist nur natürlich und menschlich. Wer gibt schon gerne etwas von seinem Vermögen ab?
Genau dafür gibt es Staaten. Um ein zivilisiertes Zusammenleben zwischen Menschen zu ermöglichen.
Ich würde allerdings nicht sagen, dass Gier menschlich ist.
Der moderne Mensch hat eine 200.000 Jährige Geschichte und über 97% dieser Zeit gab es praktisch absolute Gleichheit zwischen alle Menschen.
Ungleichheit ist ein Phänomen moderner Zivilisation. Nicht biologisch bedingt, sondern sozial. Und dementsprechend kann das Problem mit den richtigen sozialen Hebeln auch beheben.
Ich denke auch, dass die meisten Menschen unterschätzen wie ungleich unsere Welt ist.
Selbst in einem Land wie Deutschland besitzen 3 Familien mehr als die gesamte untere Hälfte des Landes (42 Millionen Menschen).
Der bestverdienendste deutsche Manager verdient zwischen 10 und 15 Million € pro Jahr.
Jeff Bezos hat seit Corona losging etwa 90 Milliarden verdient.
Der bestverdienendste deutsche Manager müsste entsprechend 7200 Jahre arbeiten um so viel zu verdienen wie Jeff Bezos in den letzten 12 Monaten verdient hat.
Das Problem ist, dass wir gesellschaftliche Wertschöpfungsketten in privaten Besitz geben, während wir die Menschen die in diesen Wertschöpfungsketten arbeiten keine Anteile daran haben lassen. Sie werden nicht entsprechend ihrer Produktivität bezahlt, sondern bekommen Lohn, der unabhängig davon ist wieviel Gewinn (oder Verlust) die Wertschöpfungskette generiert hat.
Arbeit generiert den ganzen Wert in unserer Welt.
Aber nicht die Arbeiter sondern die Besitzer behalten die ganzen erwirtschafteten Gewinne.
Das ist eines der Kernprobleme.
Heute mit den Möglichkeiten moderner Technik (hauptsächlich Big Data) lassen sich Wertschöpfungsketten bestens analysieren und wertschöpfende Momente herausarbeiten.
Moderne Gesetzgebung und modernes Steuerrecht muss datenbasiert daran ansetzen, sodass die Produktivität der Bevölkerung nicht fast ausschließlich in den Taschen der Besitzer landet.
Man nennt das Umverteilung, aber eigentlich ist es das nicht. Das System wie es jetzt ist verteilt um von Arbeitern zu Besitzern.
Die Entscheidung den Besitzer aber einen so großen Teil vom Kuchen zu überlassen ist völlig arbiträr. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund dafür, es ist einfach so, weil die Besitzer ihren Einfluss auf die Politik genutzt haben um sich ihr Stück vom Kuchen zu sichern und es immer größer werden zu lassen.
Optimist schrieb:weil es für mich einfach plausibel klingt.
Aber du siehst doch, dass es nicht funktioniert.
Selbst viele einstige Verfechter des Neoliberalismus gesehen inzwischen ein, dass sie auf dem falschen Dampfer waren.
Optimist schrieb:Und ich glaube eben deshalb auch keineswegs, dass es unter den Grünen alles besser werden könnte.
Das letzte mal als die Grünen teil der Regierung waren (Schröder-Kabinett) haben sie die Agenda 2010, ein tief neoliberalers Stück Wirtschaftspolitik, mit verabschiedet, was die umfassendste Dezimierung des deutschen Sozialstaats seit dem 2. WK war. Ausserdem hat die Agenda 2010 einen massiven Niedriglohnsektor geschaffen, der zwar jetzt ein wichtiges Fundament der deutschen Wirtschaft ist, aber eben erkauft dadurch das man Millionen Menschen in prekäre und Lohnarbeitsverhältnisse gepfercht hat aus denen sie praktisch nicht ausbrechen können. (Diese soziale Stagnation sieht man gut an Indikatoren wie der sozialen Mobilität, eine Kennzahl die, die Häufigkeit von Auf- und Abstieg in den Gesellschaftsschichten misst.)
Aber das war vor 20 Jahren. Damals hatte gerade Pierre Bourdieu sein erstes Buch (Gegenfeuer) über den Neoliberalismus geschrieben und in den Sozialwissenschaften fing man langsam an zu bemerken was für ein riesiges Problem dieses System ist.
In den Wirtschaftswissenschaften dauerte es bis nach der Finanzkrise 2008 bevor man anfingt sich zu fragen wieso das so scheiße läuft und wieso keine der eigenen Vorhersagen zutreffen.
Was Grüne und SPD damals gemacht haben war falsch, aber zur damaligen Zeit wusste das kaum jemand. (Umso mehr Respekt an die, die schon damals gesehen haben was kommt)
Heute weiß jeder bei den Grünen was der Neoliberalismus ist und wieso er scheiße ist, also erwarte ich persönlich jetzt keine Wiederholung der Fehler der letzten Grünen Regierungsbeteiligung.
Ob die Grünen die perfekte Lösung darf man bezweifeln. Aber sie haben wenigsten das Problem erkannt und verstanden, was man von Union, SPD und FDP nicht sagen kann.
Optimist schrieb:Wie würdest du das ändern wollen?
Steuern und Gesetze. Seit 200 Jahren passen wir unsere Verteilungsschlüssel mit Steuern und Gesetzen an. Warum sollte das jetzt nicht funktionieren?
Optimist schrieb:Man kann auch die Denkweisen die sich jahrelang etabliert hatten, nicht einfach so ändern.
Doch kann man. Genauso schnell wie der Neoliberalismus eingeführt wurde (1 Jahr) kann man ihn auch wieder loswerden.
Die meisten Menschen wissen sowieso nicht, dass das System, dass ihr Leben bestimmt Neoliberalismus heißt und eigentlich nichts weiter als zwei sehr simple und sehr falsche Annahmen Markt und Kapital sind.
Optimist schrieb:Wie gesagt, es lässt sich ungern jemand enteignen, da wird es immer Widerstände oder "Fluchtreaktionen" geben.
Diese Widerstände sind ja legitim. Nur sind sie zwecklos solange sie nicht durch Korruption (unlauterer Einflussnahme auf die Politik) ihren Einfluss vervielfachen.
Wenn alle die vom Neoliberalismus unterm Strich profitieren eine Partei wählen würden, dann würde diese Partei nichtmal in die nähe der 5%-Hürde kommen.
Diese Leute sind darauf angewiesen andere Wähler für ihre Interessen zu instrumentalisieren und sie dazu zu bringen gegen ihre eigenen Interessen zu stimmen.
(Siehe USA: Trump macht Wahlkampf mit Rassismus, Mauer, Kulturkampf, aber als er dann im Amt war hat er eigentlich eine Sache gemacht: Steuersenkungen für Reiche und Konzerne und Deregulierung.)
Die gesamte Weiße Unter- und -mittelschicht wurde hier instrumentalisiert um die Interessen der Reichen und Konzerne durchzudrücken.
Optimist schrieb:Ist wahr, aber ich sehe es leider auch so: nicht zu ändern.
Woher nimmst du deine Überzeugung, dass sich nichts ändern kann in einer Welt in der die einzige historische Konstante ist, dass sich alles dauernd ändert?
Ich mein wir reden hier über sein System das gerade mal 3-4 Jahrzehnte lang existiert und du tust so als wäre es eine tausendjährige, unumstößliche Institution die nochdazu eng mit dem menschlichen Wesen verknüpft ist.
Klingt mir nach Stockholm-Syndrom.
Optimist schrieb:ein paar Grüne und/oder Linke vielleicht?
Ich denke nicht, dass die Linke die nötige Expertise besitzt. Es gibt einige Lichtblicke in der Partei, aber grundsätzlich sehe ich da oft eine Anti-Haltung gegen Wirtschaft, Wirtschaftswissenschaft und Kommerz.
Ich hab auch so meine Abneigung gegen die Wirtschaftswissenschaft, aber nicht grundsätzlich, sondern einfach weil die aus wissenschaftlicher Sicht extrem schlechte Arbeit geleistet haben über die letzten Jahrzehnte.
Absolut unkritische, affirmative Forschung und Lehre. Aber inzwischen gibt es vielversprechende neue Köpfe und die Linke zeigt daran imo viel zu wenig Interesse.
Stattdessen gibts uninformierten, populistischen Müll wie in dem jüngsten Buch von Wagenknecht.
Optimist schrieb:klingt alles sehr gut. Aber in der Praxis mMn sehr schwer umzusetzen, weil es zu viele Hemmnisse gibt.
Zum Beisp. schon alleine was eine andere Besteuerung betrifft.
Die Hemnisse sind im Endeffekt aber die Wähler die weiterhin gegen ihre eigenen Interessen für neoliberale Politik stimmen.
Der Verantwortung kann sich der Wähler in Deutschland nicht entziehen. Klar gibts da Propganda, Populismus, Lobbyismus, Korruption aber letztendlich lassen sich die Leute halt auch verarschen.
Aber wem 180 auf der Autobahn zu fahren wichtiger ist als die Zukunft des eigenen Nachwuchses, der wird seiner Verantwortung halt nicht gerecht.
Zu vorhin noch:
Optimist schrieb:Nur denke ich, ist eben leider der Karren schon zu sehr im Dreck und kann nicht mehr aus "eigener Kraft" herausgezogen werden.
"Dennoch betonen die Berichtsautoren, dass jeder "Bruchteil eines Grads Erwärmung" zähle. Klimaschutzmaßnahmen zahlten sich insbesondere in der zweiten Jahrhunderthälfte aus und könnten die Menschheit vor dem Aussterben bewahren."
https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-06/ipcc-berichtsentwurf-weltklimarat-erderwaermung-hitzewellen-hungerrisiko?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2FEs gibt kein "schon zu spät". Klimawandel ist ein progressives Problem, jede weitere Tonne Treibhausgase macht ihn schlimmer, jede eingesparte Tonne lindert die Effekte.
Klimawandel lässt sich nicht vermeiden, nur lindern.
Aber je weniger wir tun umso schlimmer wird es.