Organspende-Reform: Wie bekennst du dich?
28.01.2013 um 19:17
Ein interessanter Bericht von WO (Welt online)
Die große Angst vor der Vorverlegung des Todes
Trotz aller Skandale wird weiter für Organspenden geworben. Unbeachtet bleibt, wie es Angehörigen ergeht, ob das Kriterium des Hirntods sinnvoll ist und welche finanziellen Interessen im Spiel sind. Von Freia Peters
Amerikanische Philosophen warnen schon seit Jahren, die neue Hirntod-Definition diene vor allem dem Zweck an die Organe zu kommen – der Zeitpunkt des Todes sei "vorverlegt" worden
Foto: getty images Amerikanische Philosophen warnen schon seit Jahren, die neue Hirntod-Definition diene vor allem dem Zweck an die Organe zu kommen – der Zeitpunkt des Todes sei "vorverlegt" worden
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Als Renate Greinert gefragt wird, ob sie die Organe ihres Sohnes spenden will, ist die Nachricht, dass Christian nach einem Verkehrsunfall an einem schweren Hirntrauma leidet, erst eine Stunde alt. Die Ärzte geben ihm keine Chance, zu schwer sind die Kopfverletzungen.
"Es war für mich nicht zu glauben", sagt Greinert, "Christian lag da, als ob er schliefe." Zu diesem Zeitpunkt wird der 15-jährige Junge künstlich beatmet, äußerlich ist er kaum verletzt, ein Schnitt in der Lippe, ein aufgeschürfter Wangenknochen, eine Wunde an der Stirn.
"Irgendwann kam dann ein Arzt und sagte, 'Ihr Sohn war doch sicher ein sozialer Typ'. Er fragte mich, ob wir Christians Organe spenden wollten. Er wies mich darauf hin, dass andere Mütter genauso wie ich jetzt am Bett ihres Kindes sitzen und darauf warten, dass es weiterleben kann", erzählt Greinert.
"Ich wurde plötzlich in die Verantwortung genommen für den Tod eines anderen Kindes. Das ist ein Konflikt, den man nicht bewältigen kann."
"Sogar die Augen wurden ihm entnommen"
Renate Greinert hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie mit dem Thema Organspende befasst. "Ich hatte überhaupt keine Vorstellung, was das bedeutet", sagt sie. "Ich wusste nur, dass ich nicht noch mehr Tod wollte. Ich sah meinen Mann an, und der nickte." Greinert gibt die Erlaubnis für die Organentnahme.
"Hätte ich gewusst, was auf mich zukommt, hätte ich ganz gewiss anders entschieden", sagt sie heute. Mehr als 20 Jahre brauchte sie, um ihre Erfahrungen aufschreiben zu können. In ihrem Buch "Unversehrt sterben. Konfliktfall Organspende" beschreibt sie, wie sie sich von ihrem Sohn verabschiedete.
Renate Greinert schreibt über ihre Erfahrungen nach dem Unfalltod ihres Sohnes
Foto: picture alliance / dpa Renate Greinert schrieb über ihre Erfahrungen nach dem Unfalltod ihres Sohnes
"Eine letzte Berührung, und wir gehen. Christians Brustkorb hebt und senkt sich, er ist immer noch warm. Ich ahne nicht, dass sich in den nächsten Stunden Sägen durch die Knochen seines Körpers fressen."
Kurz vor seiner Beerdigung einige Tage später lässt Renate Greinert den Sarg ihres Sohnes noch einmal öffnen. Vor ihr liegt eine Hülle, kalt und wächsern. "Der Anblick meines ausgeschlachteten Kindes hat mich zutiefst entsetzt", sagt sie. "Seine Organe wurden über Europa verteilt. Sogar die Augen wurden ihm entnommen." Seitdem kämpft Greinert für Aufklärung – darüber, was es heißt, Organe zu spenden.
12.000 Deutsche warten auf ein neues Organ
Jeder Deutsche ab 16 Jahren soll in den kommenden Monaten von seiner Krankenkasse Post erhalten, darin ein Spenderausweis mit der Bitte, zu überlegen, ob man ihn unterschreiben will. Die im vergangenen Jahr in Kraft getretene Reform des Transplantationsgesetzes soll die Bereitschaft zur Organspende erhöhen. Nur jeder fünfte Bürger besitzt einen Ausweis.
Gerade erst hat Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) die Deutschen zu mehr Organspenden aufgerufen. Drei Menschen auf der Warteliste würden jeden Tag sterben. "Wenn mehr mitmachen, müssen weniger sterben", sagte Bahr der "Passauer Neuen Presse".
Rund 12.000 Menschen warten in Deutschland derzeit auf ein neues Organ. Der Brief der Krankenkasse soll Informationen zur Organspende enthalten. Doch das ist nicht die Form von Aufklärung, die Renate Greinert und andere Kritiker der Transplantationsmedizin im Sinn haben.
"Wenn wir über Organspende reden, müssen wir auch über die sterbenden Menschen reden, die auf dem OP-Tisch ihre Organe und ihr Leben lassen", sagt Martin Stahnke, Chef der Anästhesieabteilung am Hospital zum Heiligen Geist in Kempen.
"Natürlich leben die Menschen noch"
Sind bei einem Patienten die Nervenzellen im Gehirn und damit die Gehirnfunktionen weiträumig abgestorben, gilt er laut Definition des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer als tot: "Der Hirntod wird definiert als Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms. Dabei wird durch kontrollierte Beatmung die Herz-Kreislauf-Funktion noch künstlich aufrechterhalten."
Stahnke war als junger Arzt an vielen Transplantationen beteiligt. Heute ist er Kritiker des Hirntod-Konzepts. "Natürlich leben die zur Organspende vorgesehenen Menschen noch. Sie sind allerdings unumkehrbar sterbenskrank und würden ohne Intensivmedizin tatsächlich tot sein: kalt, starr, blassblau. All das aber sind sogenannte Hirntote nicht", sagt Stahnke, Mitglied des Vereins Kritische Aufklärung über Organtransplantation.
"Insbesondere die Angehörigen müssen wissen, dass ihr Einverständnis zur Organentnahme für Sterbende gilt, nicht für Tote."
Das gültige Hirntodkonzept wurde 1968 durch eine Kommission der Harvard Medical School entwickelt. Danach ist das Gehirn das zentrale Organ des Menschen. Fällt es aus, gibt es kein funktionierendes Individuum mehr. Ein Jahr zuvor war es erstmals gelungen, ein menschliches Herz zu transplantieren.
Der Zeitpunkt des Todes sei "vorverlegt" worden
In der Folge entstand ein Bedarf an Spenderorganen. "Um die Beschaffung von Organen überhaupt zu ermöglichen, setzte die Kommission das irreversible Koma ganz pragmatisch als neues Todeskriterium fest", sagt Alexandra Manzei, Professorin für Soziologie an der Hochschule Vallendar in Rheinland-Pfalz.
Vor ihrem Studium betreute sie als Krankenschwester 15 Jahre lang Koma-Patienten. "Von Leichen können keine Organe mehr gewonnen werden, weil der Zersetzungsprozess in den Organen bereits begonnen hat", sagt Manzei.
Es gibt Warnungen, die neue Definition diene vor allem dazu, an Organe zu kommen. Der Zeitpunkt des Todes sei "vorverlegt" worden. "Der Mensch ist nicht von seinem Körper zu trennen, im Gehirn zu lokalisieren", schrieb früh der Philosoph und Nobelpreisträger Hans Jonas. Er warnte davor, das Hirntodkriterium in den Dienst der Organbeschaffung zu stellen.
Der Therapieabbruch bei Hirntoten sei nur gerechtfertigt, wenn er dem Patienten diene, nicht fremdnützigen Zwecken. "Hirntote Kinder wachsen, sie kommen in die Pubertät, Jungen entwickeln Bartwuchs", berichtet Manzei. "Die Wunden von Hirntoten heilen." Bis 2003 wurden weltweit zehn schwangere Hirntote von einem Kind entbunden.
Debatte über Zuverlässigkeit der Hirntoddiagnostik
Britische Anästhesisten forderten 2012 Vollnarkose für hirntote Organspender. "Man setzt das Skalpell an, und der Puls und der Blutdruck schießen hoch", sagte einer von ihnen der BBC. "Wenn man keine Medikamente gibt, beginnt der Patient sich zu bewegen, und der Eingriff wird unmöglich."
Laut Statistik werden bei drei Viertel aller Hirntoten Bewegungen beobachtet. Laut dem Leitfaden der Deutschen Stiftung für Organtransplantation (DSO) ist eine Narkose für Hirntote jedoch "überflüssig".
Was ist von der Zuverlässigkeit der Hirntoddiagnostik zu halten? Im Juni 2011 hat es in Quebec einen absoluten Ausnahmefall gegeben. Madeleine Gauron, 76 Jahre, wurde als hirntot diagnostiziert, die Familie wurde gefragt, ob sie einer Organentnahme zustimmen würde. Gaurons Mann und ihre Kinder baten um Bedenkzeit. Zu ihrem Erstaunen war die Mutter am nächsten Tag wieder erwacht, saß im Bett und aß Joghurt.
Wurde der Hirntod der Patientin nicht adäquat diagnostiziert? Nach den Richtlinien der Bundesärztekammer muss der Hirnstamm untersucht werden. Wenn nach 12, 24 beziehungsweise 72 Stunden – je nach Alter und Erkrankung – weder die Hirnstammfunktion (erkennbar durch Reflexe) noch die Atmung wieder einsetzt, wird Hirntod diagnostiziert.
Nur in Zweifelsfällen wird zusätzliche apparative Diagnostik eingesetzt, etwa die Messung der Hirnstromkurve. Der Hirntod muss von zwei Medizinern bestätigt werden. Einer von ihnen kommt in der Regel von der DSO, zuständig für die Beschaffung von Organen und die Organisation der Transplantation.
"Maßnahmen zur Erhöhung des Organangebots"
"Das Argument des Organmangels ist keine Rechtfertigung, um billigend in Kauf zu nehmen, dass Organe aus sterbenden Patienten entnommen werden, deren Einverständnis nicht gegeben ist", sagt Sabine Müller, Bioethikerin an der Berliner Charité.
Derzeit gilt in Deutschland die erweiterte Zustimmungslösung. Hat der Sterbende zu Lebzeiten keine Erklärung abgegeben, entscheidet der nächste Angehörige, ob Organe entnommen werden dürfen.
Etwa 90 Prozent aller Organspenden werden derzeit durch Angehörige freigegeben. Diese Regelung müsse durch eine sogenannte enge Zustimmungslösung ersetzt werden, fordert Müller. Nur der Patient selbst dürfe die Entscheidung treffen – und müsse vorher aufgeklärt worden sein, dass er sich bei der Organentnahme im Sterbeprozess befinde.
"Die Kluft zwischen Organnachfrage und Angebot sollte nicht durch ethisch fragwürdige Maßnahmen zur Erhöhung des Organangebots überbrückt werden", sagt Müller, "sondern durch Maßnahmen zur Verringerung der Nachfrage wie Prävention gegen Übergewicht, Alkoholismus, Hepatitis" – Krankheiten, an denen ein Großteil derjenigen leidet, die ein Spenderorgan benötigen.
"Eine Frage der Verhältnismäßigkeit"
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gab 2011 im Auftrag des Gesundheitsministeriums 2,5 Millionen Euro für Organspende-Werbung aus. Doch selbst wenn jeder Deutsche zur Spende bereit wäre, könnte nicht jedem Kranken geholfen werden, der auf ein Organ wartet. Die Zahl der Sterbenden, die jährlich das Kriterium "Hirntod" erfüllen, liegt bei 4000. Der Bedarf ist dreimal so hoch.
Die Spendenbereitschaft in Deutschland ist 2012 auf den niedrigsten Stand seit 2002 gesunken. "Man muss sich fragen: Warum ist die Bereitschaft so gering und warum sind so viele Organbedürftige da?", sagt Prof. Andreas Zieger, Neurowissenschaftler an der Universität Oldenburg.
"Das ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Es wird relativ viel Aufwand betrieben, es wird eine Gesetzesänderung vorgenommen, für eine relativ kleine Gruppe von Bedürftigen."
"Du bekommst alles von mir. Ich auch von dir?", fragte Til Schweiger jüngst in einer Werbung für Organspende. Initiator der Kampagne war das Deutsche Herzzentrum Berlin, gesponsert unter anderem von der Techniker Krankenkasse und Pfizer, dem größten Pharmaunternehmen der Welt.
Kliniken bekommen Fallpauschalen pro Organ
Mit der Werbung sichert sich Pfizer auch ein Geschäft: Für Medikamente, mit denen nach Transplantationen die Abstoßung der Spenderorgane verhindert werden soll, werden allein in Deutschland jährlich 1,6 Milliarden Euro ausgegeben. Die Kliniken bekommen Fallpauschalen von bis zu 215.000 Euro pro Organ.
"Man kann durchaus einmal die Frage stellen, wem die Transplantationsmedizin nützt", sagt Manzei. "Es sieht so aus, als sei der Organersatz per se von jeglicher Überprüfung und Kritik ausgenommen. Wir müssen uns fragen dürfen, ob es nicht Alternativen gibt."
Im Jahr 2002 gab es eine kleine Sensation. Der Berufskraftfahrer Holger Beckmann wurde mit einem schweren Herzschaden ins Deutsche Herzzentrum in Berlin eingeliefert. Ganz schnell müsse sein krankes Herz ersetzt werden, stellte man fest, aber ein Spenderherz gab es nicht. Fünf Tage später setzten ihm die Ärzte das gerade erst entwickelte Kunstherz "Incor I" ein – als erstem Patienten weltweit.
Fünf Monate später begann Beckmanns altes Herz plötzlich wieder zu schlagen. Daraufhin wurde wenig später das Kunstherz wieder entfernt. Beckmann lebt heute mit seinem eigenen Herzen. Laut den Erfahrungen des DHZB erholt sich rund ein Drittel der Patienten mit einem Kunstherz wieder, sodass das eigene Herz wieder zu schlagen beginnt. Selbst Medikamente brauchen sie dann nicht mehr.
Doch bis heute weiß man nicht, welcher Patient sich wieder erholt und welcher nicht. Eine Forschung dazu gibt es bislang nicht.