Russisch-Georgischer Konflikt geht weiter!
25.08.2008 um 17:28
Demographische Probleme in der Russischen Föderation
Sebastian Pritzkow
Demographische Entwicklung
Rußland steckt in einer tiefen demographischen Krise. Die russische Bevölkerung hat seit Beginn der 90er Jahre um 3 Millionen abgenommen; ohne Migrationsgewinne wäre die Abnahme sogar doppelt so hoch gewesen. Standen 1989 noch 2,16 Millionen Geburten 1,53 Millionen Todesfällen gegenüber, so waren es zehn Jahre später nur 1,28 Millionen Geburten gegenüber 1,99 Millionen Todesfällen. Sollte sich der Bevölkerungsschwund fortsetzen, so gehen demographische Schätzungen davon aus, daß innerhalb der nächsten 15 Jahre die Einwohnerzahl Rußlands von derzeit rund 145 Millionen um 9 bis 17 Millionen zurückgeht; bis zum Jahr 2050 wird ein Rückgang um bis zu 60 Millionen für möglich gehalten. Dies hieße, daß dann im Riesenreich Rußland nur noch 80 bis 100 Millionen Menschen leben würden.
Lebenserwartung
Im Jahr 2000 lag die Lebenserwartung in Rußland für Frauen bei 72,2 Jahren, für Männer bei 59,8 Jahren. Damit steht das Land nicht nur in Europa an einer der letzten Stellen, sondern weltweit ist die Lebenserwartung für Männer in zwei Dritteln aller Staaten höher.
Die Ursachen für die hohe Sterblichkeitsrate bzw. die geringe Lebenserwartung in Rußland sind vielschichtig. Aufgrund des mangelnden Gesundheitsbewußtseins der Bevölkerung - die Ernährung ist größtenteils fettreich und vitaminarm und fast zwei Drittel aller Männer rauchen - sind zum einen Herzkrankheiten extrem verbreitet, zum anderen sind, aufgrund mangelhafter Gesundheitsvorsorge, Tuberkulose, AIDS und andere Krankheiten, insbesondere Geschlechtskrankheiten wie Syphilis, sprunghaft angestiegen. Im Jahr 1998 hat es nach russischen Statistiken 450.000 Syphiliserkrankungen gegeben; die Ausbreitung des HIV-Virus nimmt bedenkliche Ausmaße an. Allein in den letzten anderthalb Jahren wurden 129.261 neue HIV-Infizierungen registriert. Besonders betroffen sind der Oblast Kaliningrad, Moskau, St. Petersburg und Irkutsk. Auch Tuberkulose setzt ihren Vormarsch in Rußland ungebrochen fort und nimmt in einigen Regionen mit 80 Fällen auf 100.000 Einwohner Ausmaße an, bei denen man von einer Epidemie spricht. Nach Angaben der WHO gab es 1998 150.000 Krankheitsfälle mit steigender Tendenz, von denen rund 15 % tödlich verliefen.
Zusätzlich belastend auf die Lebenserwartung in Rußland wirkt sich die sozial angespannte Lage aus. Gewalt, Unfälle und Alkoholismus bzw. Alkoholmißbrauch stehen zusammen mit Selbstmord (was die Selbstmordrate betrifft, so hat Rußland die Rekordhalter Japan und Ungarn eingeholt) an zweiter Stelle der Todesursachen - vor Krebs! 1998 waren deshalb 40 % der verstorbenen Männer noch im arbeitsfähigen Alter.
Doch nicht allein die so erklärbare geringe Lebenserwartung ist Grund für den Bevölkerungsschwund in Rußland. Hauptbelastung für die Bevölkerungsentwicklung ist die extrem geringe Geburtenrate, eine der niedrigsten in der Welt. Die Gesamtfruchtbarkeitsrate in Rußland lag 1998 bei 1,25 und damit deutlich unter der für den vollständigen Ersatz einer Generation erforderlichen Ziffer von 2,15.
Die Familien werden kleiner
Heute gibt es 4,4 Millionen Kinder weniger als noch vor 5 Jahren! Dauert diese Entwicklung an, so wird der russischen Gesellschaft in Zukunft der sie stützende Sockel fehlen. Immer weniger Menschen im arbeitsfähigen Alter werden vielen Rentnern gegenüberstehen - bei gleichzeitig starkem Bevölkerungsschwund.
Der Trend zu kleineren Familien ist nicht nur für Rußland typisch und für die Politik schwer zu beeinflussen. Schon ab Ende der 60er Jahre hat sich eine Tradition der Familiengröße mit nur einem oder zwei Kindern herausgebildet. Auffällig ist jedoch, daß die Gesamtfruchtbarkeitsrate nach 1989 noch einmal stark zurückging. Ebenso auffällig ist, daß Abtreibung bis heute das häufigste Mittel der Geburtenkontrolle ist und die Anzahl der Abtreibungen durchschnittlich doppelt so hoch liegt wie die der Geburten.
Emigration und Immigration
Ein weiterer Punkt, der zur negativen Bevölkerungsentwicklung beiträgt ist die Auswanderung. In den Jahren 1988 - 1998 verließen viele Rußlanddeutsche das Land; aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion siedelten in dieser Zeit insgesamt 1,6 Millionen in die Bundesrepublik über. Andere Hauptauswanderungsziele waren Israel und die USA. Nach Abklingen der Auswanderungswelle verlegten 1996 immer noch 288.000 Menschen ihren ständigen Aufenthaltssitz aus Rußland heraus. Emigrierten in der ersten Hälfte der 90er Jahre noch vorwiegend Menschen deutscher oder jüdischer Abstammung, so waren 1998 schon ein Drittel der Ausreisenden Russen. Für Rußland ist die Auswanderung vor allem auch dahingehend ein schwerwiegendes Problem, als die Emigranten überwiegend junge und gut ausgebildete Fachkräfte sind und dem Land mit ihnen wichtiges Humankapital verlorengeht.
Bei unverändert niedriger Geburtenrate und einem Fortgang der Auswanderung, droht Rußland, neben dem genannten Bevölkerungsschwund, innerhalb der nächsten 40 Jahre eine Veränderung der Alterspyramide, die schon heute eher einer Knolle gleicht, zu einem Alterspilz. So dürfte der Seniorenanteil der Bevölkerung bis 2016 auf 25 % ansteigen. Dies alles hätte enorme politische und wirtschaftliche Konsequenzen und bedeutete eine direkte Gefahr für die Stabilität und das Gleichgewicht Rußlands. Man bedenke nur, daß ein Bevölkerungsschwund automatisch die Nachfrage nach Konsumgütern sinken läßt und dem Wirtschaftswachstum entgegenwirkt oder daß im rohstoffreichen Sibirien nur circa 24 Millionen Menschen leben - kaum genug, um den Reichtum nutzbar zu machen oder um dem demographischen Druck der Nachbarstaaten standzuhalten. Bereits seit den 80er Jahren kommen chinesische Gastarbeiter in die Region; illegale Einwanderung ist weit verbreitet.
Geburtenregelung
Dem Szenario des Bevölkerungsschwundes und der Überalterung der Gesellschaft entgegenzuwirken, muß daher prioritäres Ziel Russlands sein, um die Zukunft des Landes zu sichern.
Hauptaugenmerk müßte darauf liegen, die Geburtenrate zu erhöhen. Unter Stalin hatte ab 1936 die Untersagung der Abtreibung und eine groß angelegte Geburtenkampagne einen Anstieg der Geburtenrate zur Folge, ebenso die Antialkoholkampagne und die neue Familienpolitik Gorbatschows. Doch, wie das Beispiel der westlichen Industrieländer zeigt, ist eine niedrige Geburtenrate heutzutage kaum noch durch den Staat nach oben zu korregieren. Der einzige umsetzbare Ansatz ist, durch Familien- und Wirtschaftspolitik die Rahmenvoraussetzungen zu schaffen, die Familien zu mehr Kindern ermuntern. Dies wird in Russland allerdings noch Jahrzehnte dauern und verheißt nicht zwangsläufig den gewünschten Anstieg der Geburtenrate.
Einen anderen Ansatz, dem Bevölkerungsschwund entgegenzuwirken, bietet die Verbesserung der Volksgesundheit und damit eine Erhöhung der Lebenserwartung. Die Regierung Präsident Putins, die die hohe Sterblichkeitsrate in der Russischen Föderation als besorgniserregend für die nationale Sicherheit ansieht, arbeitet verstärkt in dieser Richtung, zumal die Maßnahmenerfolge nicht erst in 20 oder 30 Jahren erkennbar sein werden. So war im Zuge der Anti-Alkoholkampagne Gorbatschows zwischen 1984 und 1987 die Lebenserwartung für Männer um drei Jahre von 61 Jahren auf 64 Jahre angestiegen!
Gesundheitspolitik
Zur Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes der Bevölkerung wurde ein Gesetz erlassen, das den Verkauf von Zigaretten an Minderjährige unterbinden und Rauchen in der Öffentlichkeit einschränken soll. Das Gehalt von Ärzten soll um 60 % ansteigen und Russlands Gesundheitsminister Juri Schewtschenko erhielt Mittel für ein Sonderprogramm, das Russen über die Gefahren von Bluthochdruck, an dem 40 % der Gesamtbevölkerung leiden, aufklären soll. Parallel zu diesen Maßnahmen wird an einer Reform des staatlichen Rentensystems gearbeitet. In Anbetracht der abzusehenden Überalterung der Gesellschaft und der Finanzierungsprobleme der staatlichen Rentenversicherung, soll die nichtstaatliche Rentenversicherung gefördert und das Rentenalter stufenweise angehoben werden. Dafür spricht, dass das Rentenalter in Russland mit 60 Jahren für Männer und 55 Jahren für Frauen relativ zeitig einsetzt, wobei sogar 20 % der Altersrentner zu einem noch früheren Renteneintritt berechtigt sind. Ohne eine Änderung des Renteneintrittsalters würde die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter ab 2005 ungefähr um 1 Million Menschen pro Jahr abnehmen.
Immigrationspolitik
Aber selbst diese Maßnahmen werden nicht ausreichen, um den Problemen der demographischen Erosion inklusive ihrer wirtschaftlichen Folgen zu begegnen. Verstärktes Augenmerk muß deshalb auch auf Einwanderung nach Russland liegen. Zwischen 1992 und 1998 sind 5,1 Millionen Menschen nach Russland eingewandert, größtenteils ethnische Russen aus den anderen Staaten der GUS und dem Baltikum. Seit 1996 nimmt der Einwanderungsstrom ethnischer Russen zwar ab, bleibt jedoch bemerkenswert. Zahlreiche Immigranten anderer Nationalitäten kamen aus Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan.
Nach Zahlen des russischen Innenministeriums wanderten letztes Jahr insgesamt 350.000 Menschen nach Russland ein. Premierminister Kasjanow und die russische Führung setzen sich nun, ähnlich wie die Führungen westlicher Länder, vor dem Hintergrund der demographischen Veränderungen, für eine gezielte Immigrationspolitik ein. Motto: "Russland braucht Einwanderung". Schon jetzt macht sich, auch aufgrund des guten Wirtschaftswachstums, in einigen Regionen Sibiriens ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften bemerkbar. Grund genug für russische Ölunternehmen wie Sibneft, außerhalb der Region und des Landes auf die Suche nach Arbeitskräften zu gehen. Populärste Zielregionen sind dabei noch die Ukraine und Weißrussland, da diese Länder mit Russland weitgehend Sprache und Kultur teilen und das starke Wirtschaftswachstum sowie vergleichsweise hohe Einkommen in Russland eine Migration dorthin attraktiv machen. Andere Hauptexporteure von Arbeitskräften nach Russland sind Kasachstan, die Türkei, China, Jugoslawien und die Republik Moldau.
Bemerkenswert ist dabei, dass das Bildungsniveau der legalen Immigranten im allgemeinen über dem Durchschnitt des Landes liegt, das sie verlassen, aber auch höher, als der Durchschnitt der russischen Bevölkerung.
Es läßt sich also feststellen, dass Russland einen Teil seines qualifizierten Fachpersonals durch Auswanderung verliert, diesen Verlust jedoch durch Einwanderung aus seinen ärmeren Nachbarländern wieder ausgleicht. Gleichzeitig verlangsamt diese Immigration den Bevölkerungsschwund. Ob mit einer solchen Politik langfristig der demographischen Veränderung des Landes effektiv entgegengewirkt werden kann, bleibt abzuwarten; ebenso, welche Konsequenzen eine noch am Anfang stehende, aktiv betriebene russische Einwanderungspolitik demographisch und wirtschaftlich gesehen auf die Ukraine, die Moldau und Weißrussland haben wird. Realistische Schätzungen gehen jedenfalls davon aus, daß Russland bis zum Jahr 2050 nicht weniger als 17,5 Millionen Einwanderer brauchen wird. Wohl nur 15 % davon werden ethnische Russen sein.
Schluss
Als Fazit läßt sich festhalten, dass die russische Gesellschaft seit dem Zusammenbruch des Kommunismus einen tiefgreifenden und beschleunigten demographischen Wandel erfährt, der die Bevölkerung immer mehr schrumpfen und altern läßt. Vieles spricht dafür, daß die Geburtenrate, auch bei einer wirtschaftlichen Gesundung und einem Aufschwung Russlands, auf niedrigem Niveau bleiben und nicht ausreichen wird, um die abgehende durch eine neue Generation zu ersetzen. Wegen des starken Bevölkerungsschwundes und der sich abzeichnenden Überalterung der russischen Gesellschaft ist auch die Stellung Russlands als Weltmacht gefährdet. Dem kann das Land langfristig nur durch die Schaffung eines wirtschaftlich stabilen und kinderfreundlichen Umfeldes sowie durch verstärkte Immigration begegnen.
Stand: September 2001