Allein wenn wir die Berichte des die Deportationen strikt ablehnenden Konsuls von Erzerum, Max-Erwin von Scheubner-Richter, aus dem Jahr 1915 zugrunde legen, erschließt sich ein deutliches Bild des Völkermordes.
Zunächst lag das Augenmerk der deutschen Beobachter darauf, dass sich keine pogromartigen Massaker wie 1895/96 oder 1909 wiederholten.
Beruhigt stellten sie fest, dass “die Behörden” zur vorgeblichen Abwehr eines imaginierten armenischen Aufstandes, die Einwohner armenischer Dörfer und Städte “nur” umsiedelten.
Doch schon Ende Juni 1915 wurde den Diplomaten deutlich, dass die Umsiedlungen unter den organisatorischen und klimatischen Umständen einem Massenmord gleichkamen.
Die angeblichen Aufstände zeigten sich schnell als Abwehrversuche seitens schlecht bewaffneter Armenier, nach den ersten Morden und Übergriffen von türkischer Seite.
Die mit “militärischen Notwendigkeiten” camouflierten Deportationen wurden von beobachtenden Diplomaten schon kurz nach Beginn als Todesurteil für die Armenier gewertet: “[D]ie Art, wie die Umsiedlung durchgeführt wird, [... zeigt], daß die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten”, schrieb Botschafter Wangenheim am 7. Juli 1915 an Reichskanzler Bethmann Hollweg.
Wenige Tage zuvor notierte sein Stellvertreter Mordtmann, es handele sich, wie ihm der Innenminister “Talaat Bej vor einigen Wochen sagte, darum die Armenier zu vernichten” (S. 185, 182). Der aufmerksame Scheubner-Richter berichtete der Botschaft bereits Anfang Juli 1915, dass das jungtürkische Komitee “Einheit und Fortschritt” mit einer geheimen parallelen Befehlsstruktur zur offiziellen Verwaltung und mit besonderen “Banden” die “Aussiedlungen” und “Massakers” organisiere (S. 198).
Aufmerken lassen Berichte, nach denen türkische Offiziere und Offizielle die Deportationen zur eigenen Exkulpation auf deutsche Veranlassung zurückführten.
“Belgien” diente ihnen als Vorbild und Rechtfertigung.
General Colmar von der Goltz - von den Türken hochachtungsvoll Goltz-Pascha genannt-, der 1883 in das osmanische Heer eintrat und den Aufbau einer modernen türkischen Armee organisierte hatte schon um die Jahrhundertwende ein politisches Konzept für das Osmanische Reich entworfen, in dem kein Platz mehr für das armenisch-christliche Element vorgesehen war.
Kurz vor Beginn des Weltkrieges stellte Goltz die Armenier als größte Bedrohung für das Osmanische Reich dar und empfahl eine umfassende Deportation in die Wüste Mesopotamiens.[3]
In den Jahren 1915/16 fanden sich Unterstützer der türkischen Völkermörder in Kreisen des deutschen Militärs, die in dem paritätisch türkisch-deutsch besetzten osmanischen Generalstab arbeiteten und Deportationsbefehle akzeptierten, oder gar “widerständige” Armeniersiedlungen mit ihren Geschützen in Schutt und Asche legten.
Über die Rolle der “Militärmission” und der deutschen Offiziere, von denen in Kriegszeiten bis zu 700 in der Türkei aktiv waren - zuzüglich einiger Tausend Soldaten, ist trotz der Forschungen von Dadrian immer noch viel zu wenig bekannt.
In der Sammlung von Gust fehlen Dokumente wie die Weisung von Kaiser Wilhelm II. vom 11. März 1915, alles zu tun, um die “vertrauensvolle Stimmung der Türkei” zu erhalten.
Ebenso die Anfrage von Oberst Seyfi von der Geheimdienst-Abteilung des Ottomanischen Hauptquartiers vom 4. April 1916 an die deutsche Botschaft in Bukarest, Fotografien von allen armenischen Bewohnern dort zu übersenden
oder der Bericht von Otto Günther Wesendonck (Politische Abteilung des Auswärtigen Amtes) vom 4. Mai 1916, wonach die “Vertilgung” der Armenier “auf deutschen Befehl” geschah - Dokumente, mit denen die Frage der deutschen Verstrickung näher beleuchtet werden könnte. ...
aus:
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-3-148