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Franz Werfel - Die vierzig Tage das Musa Dagh
01.04.2023 um 12:55Der österreichische Schriftsteller Franz Werfel veröffentlichte 1933 einen aus drei Büchern bestehenden, etwa 1000-seitigen Roman über den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915. Angeregt wurde der aus der deutschsprachigen jüdischen Gemeinde Prags stammende Schriftsteller durch eine Orientreise 1929/30, als er in Syrien in einem Waisenhaus Kindern der verfolgten Armenier begegnete. Werfel begann Interviews mit Überlebenden zu führen und in französischen Archiven zu recherchieren. Sein großes Interesse galt dabei den auf den Mosesberg (Musa Dagh) an der Mittelmeerküste geflohenen Einwohnern von sieben armenischen Dörfern, die 53 Tage lang (Werfel kürzt die Zeitdauer auf 40 Tage) sich bewaffnet gegen die osmanische Armee verteidigten und schließlich von französischen Kriegsschiffen gerettet wurden.
Werfels Fiktionalisierung führt in seinen Roman noch den Aspekt der armenischen Diaspora und den Werteunterschied zwischen einer tätigen westlichen Kultur und einer schicksalsergebenen orientalischen Kultur ein. Den Widerstand führte in Realität ein osmanischer Offizier namens Moses Der Kalousdian (Infos im SPIEGEL und in der Wikipedia), der sich nach der Befreiung der französischen Armee anschloss, nach Ende des Ersten Weltkriegs Abgeordneter im syrischen Parlament und nach dem Zweiten Weltkrieg im libanesischen Parlament war.
Werfels Anführer Gabriel Bagradian stammt aus einer reichen armenischen Kaufmannsfamilie, lebt als philosophierender Intellektueller mit Geldmitteln aus dem Familienunternehmen, das von seinem Bruder geführt wird, mit seiner französischen Frau in Paris, hatte Kontakt nicht nur zur armenischen, sondern auch zur jungtürkischen Diaspora und war Offizier der osmanischen Armee in den Balkankriegen. Geprägt ist er von einem Zwiespalt zwischen westlicher Denkweise und dem Traum eines nicht nationalistischen, republikanischen osmanischen Reichs. Die jungtürkische Bewegung jedoch bricht während des Ersten Weltkriegs mit übernationalen Vorstellungen und wird radikal nationalistisch. Aus einer Mischung von Angst vor den reicheren Armeniern und der Befürchtung, dass sie mit Russland zusammengehen könnten, beschließt das Politbüro Ittihad der Jungtürken die physische Vernichtung der Armenier in der syrischen Wüste.
Bagradian fährt noch vor den Kriegshandlungen des Ersten Weltkriegs wegen des Todes seines Bruders mit seiner Frau Juliette und dem 13-jährigen Sohn Stephan in seinen Geburtsort, wo sie in der Familienvilla wegen des Weltkriegs festsitzen. Langam sickern Meldungen durch, dass intellektuelle und wirtschaftstreibende Armenier in Stambul verhaftet werden, und mit den Vertriebenen aus Zeitun ist es Gewissheit, dass das armenische Volk in die Wüste zum Sterben geführt werden soll. Gute Kontakte, die Bagradian als ehemaliger Offizier immer noch hat, bestätigen diese Absicht, und er knüpft auch Verbindung mit Alttürken, denen die Politik von Ittihad zutiefst zuwider ist. Bagradian beschließt, mit den Dorfbewohnern auf den Musa Dagh zu fliehen. Etwa fünftausend Frauen, Männer und Kinder folgen ihm. Innerhalb kürzester Zeit wird alles Notwendige auf den Berg gebracht, so auch Unmengen an Lebensmitteln und Viehherden.
Am Berg werden eine Laubhüttenstadt und werden Verteidigungsanlagen errichtet. Ein gewählter Rat hat mehr oder weniger diktatorische Befugnisse, die männliche Bevölkerung wird nach Wehrfähigkeit eingeteilt, militärische Zehnergruppen werden gebildet, die alle möglichen Angriffswege verteidigen sollen. Insgesamt werden drei osmanische Angriffe abgewehrt, während des vierten erhalten sie Unterstützung durch Beschuss eines französischen Kriegsschiffs, das auf die Geflüchteten aufmerksam geworden ist und schließlich die Rettung einleitet.
Werfel gestaltet die 40 Tage auf dem Musa Dagh sehr differenziert, er zeigt sowohl die Unbillen (die Getreidevorräte werden gleich zu Beginn durch ein Unwetter vernichtet, die Schafherden werden gegen Ende von den Osmanen gestohlen, sodass die Gemeinschaft am Verhungern ist) als auch die immer wieder auftretenen Spannungen zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen. Immer wieder wird Bagradian als Fremder (reicher Kaufmannssohn, kein Bauer oder Handwerker) argwöhnisch beobachtet, seine französische Frau, die schwer an Fleckfieber erkrankt, wird als reiche Französin ausgegrenzt. Dass ihre Vorräte nicht der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt werden, kommt nicht gut an.
Die Zerrissenheit der Familie Bagradian zeigt sich am platonischen Verhältnis Gabriels zu einer jungen, aus Zeitun vertriebenen und durch einen Gewaltakt behindeten Armenierin sowie dem wohl nicht platonischen Liebesverhältnis seiner Frau zu einem griechischstämmigen US-Amerikaner, der zufällig in einem Armenierdorf anwesend ist und die Flucht freiwillig miterleben will. Der 13-jährige Stephan setzt alles dran, seine musterschülerhafte französische Identität abzulegen und zu einem wilden armenischen Jüngling zu werden. So schließt er sich gegen die Entscheidung des Rats einem Jungen an, der in Aleppo dem amerikanischen Konsul von der Flucht der Armenier auf den Musa Dagh berichten soll. Er wird krank und auf dem Rückweg zum Musa Dagh von Osmanen ermordet.
Auch vermeidet Werfel jegliche Idyllisierung der armenischen Gesellschaft. Bettler, Blinde, Krüppel, Sieche, Verrückte und die sogenannten Klageweiber sind aus der Gemeinschaft ausgestoßen und leben auf Friedhöfen. Die Deserteure, die vor den Armeniern sich am Berg versteckt haben, werden zwar in die Abwehr integriert, leben jedoch als Außenseiter und brennen am Ende die Laubenstadt nieder, da sie meinen, dass ihnen Nahrungsmittel vorenthalten werden.
Es ist der Lichtschein dieser Brände, welche das französische Kriegsschiff veranlasst hat, seinen Weg zu verlassen, um Nachschau zu halten. Und es ist das Schwenken der Fahne "Christen in Not" eines querulantischen Lehrers, der sich einer Selbstmordsekte angeschlossen hat, selbst aber nicht den Mut zum Freitod hat, was zur Rettung und zum Beschuss der osmanischen Stellungen führt. Der orthodoxe Priester und gewählte Präsident der Gemeinschaft sinniert, als er vom französischen Kapitän über die Entdeckung der Geflohenen in Kenntnis gesetzt wird, über die seltsamen Wege Gottes: Ohne Überfall und Brandschatzung seitens der Deserteure wäre die Gemeinschaft verhungert bzw. von der osmanischen Armee niedergemetzelt worden. Das Schiff hätte den nächtlichen Lichtschein nicht gesehen.
Und Gabriel Bagradian? Als die Gemeinschaft auf die Schiffe gebracht war, irrt er in einem Müdigkeitswahnsinn auf den Berg zurück, die Schiffe fahren ab, da Bagradian unterschiedliche Angaben gemacht hat, auf welchem Schiff er mitfahren will. Am Grab seines Sohnes wird er von einer osmanischen Patroille entdeckt und erschossen.
Mit seinem sehr erfolgreichen Roman bringt Werfel in den 1930er Jahren den Genozid an den Armeniern in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Er widmet ein Kapitel dem Gespräch des deutschen Theologen Johannes Lepsius mit dem Kriegsminister Enver Talaat. Lepsius will Hilfsleistungen durchsetzen, Enver lehnt ab: "Das Ziel der Deportation ist das Nichts." Für Werfel ist die Vertreibung in die Wüste geplanter Völkermord.