Fedaykin schrieb:Interessanter Bericht über die Mentalität in Russland.
Gerade da die Autorin neben den ziemlich schockierenden, privaten Stimmungsbildern nicht in einer verkürzten toxischen, genetisch bedingten Männlichkeit versumpft, sondern stattdessen eine gesellschaftliche Analyse der aktuellen Verhältnisse betreibt. Was die politische Korrektheit für Früchte trägt, kann man am Ausschluss der russischen Tennisspieler von dem Turnier in Wimbledon erkennen. Nichts, aber auch gar nichts ergibt Sinn an dieser Maßnahme. Im Gegenteil, man spielt letztlich der russischen Propaganda wohlfeil in die Hände und nimmt Individuen in russische Kollektivhaftung anstatt an dieser Stelle die vorzügliche Situation zugunsten einer fairen Beurteilung zu demonstrieren.
https://www.wimbledon.com/en_GB/news/articles/2022-04-20/statement_regarding_russian_and_belarusian_individuals_at_the_championships_2022.htmlDie Versuchung ist gross, die gesamte russische Gesellschaft als Opfer zu betrachten, aber auch wenn dies teilweise zutrifft, sollte uns das nicht der Aufgabe entheben, kollektiv die Verantwortung für die Schandtaten des Regimes zu übernehmen, zu denen auch dieser Krieg gehört.
Die meisten russischen Frauen leben in einem Paradigma von totaler Erniedrigung und häuslicher Gewalt – und sind dennoch weit davon entfernt, über ihre eigenen Rechte nachzudenken. Dies umso mehr, als das System auch die Männer ihrer Individualität und Subjektivität beraubt. Beim heutigen Russland handelt es sich um ein paternalistisches autoritäres System, in dem der Radius der eigenen Entscheidungen und der eigenen Verantwortung rasant schrumpft und schwindet.
Hier differenziert sie sogar den Umstand, dass wahrscheinlich selbst russische Soldaten unter dem System leiden müssen und zeigt sich optimistisch, dass im Falle einer politischen Neuausrichtung somit Aussicht auf Hoffnung besteht.
Es gibt auch eine feministische Antikriegsbewegung, die Frauen im ganzen Land anonym auffordert, Preisschilder in Geschäften durch Informationen über die Massenmorde in der Ukraine zu ersetzen, Denkmäler berühmter Ukrainer in Russland mit Blumen zu schmücken sowie überall in den Städten Antikriegsaufkleber anzubringen. Es existieren mutige Frauen, wie die Mutter eines getöteten Soldaten aus Burjatien, die einsam Mahnwachen hält und ein Ende des Krieges fordert. Ich habe in den vergangenen Jahren an vielen politischen Protesten teilgenommen, die meisten Teilnehmer waren Frauen.
Im scharfen Kontrast zum Traditionalismus, nach dessen Regeln eine gute Mutter ihre Söhne in den Krieg schickt und, wenn sie fallen, neue gebiert, hat sich der Feminismus in Russland dem Kampf für den Frieden verschrieben. Die Feministinnen bilden eine kleine Minderheit, und doch zweifeln sie nicht daran, dass sie auf dem Weg sind, der Mehrheit der Frauen irgendwann mehr Rechte zu verschaffen.
https://www.nzz.ch/feuilleton/mach-nur-vergewaltige-ukrainische-weiber-nur-erzaehl-mir-nichts-davon-ld.1679938Wo früher noch Krankheiten wie die Pest und Krebsgeschwüre oder Heuschrecken und Parasiten für das antifaschistische Gut-Böse-Schema herhalten mussten, ist es heute en vogue diese Art der Sozialhygiene besser mit dem Wort "toxisch" zu markieren, um klarzustellen, man würde sich auf der richtigen Seite der Medaille befinden und ein Teil des gesunden Wirtsvolks sein. Für solche denkbefreiten, verkürzten Lösungsansätze braucht es auch eine tiefergehende Analyse nicht, wozu auch...
https://www.nzz.ch/feuilleton/mach-nur-vergewaltige-ukrainische-weiber-nur-erzaehl-mir-nichts-davon-ld.1679938Alissa Ganijewa lebte als Schriftstellerin und Literaturkritikerin in Moskau. Mittlerweile hat sie Russland verlassen. Auf Deutsch erschien von ihr zuletzt beim Wieser-Verlag der Roman «Verletzte Gefühle». – Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.