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Bundestag strebt Verfahrensänderung bei Kapitalverbrechen an

100 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Ne bis in Idem, Strafklageverbrauch, Verfahrensrecht ▪ Abonnieren: Feed E-Mail

Bundestag strebt Verfahrensänderung bei Kapitalverbrechen an

01.06.2021 um 08:19
Als ich gerade, die Newsflashs auf meiner Startseite überflogen habe, blieb mein Blick auf einer signalrot unterlegten Meldung hängen.

Dort wurde getitelt:

Regierung will erneute Anklage Mordverdächtiger ermöglichen

Im Kern geht es darin, um das bisherige Verbot der Doppelbestrafung.

Dieser Grundsatz, ist bislang fundamentaler Bestandteil unseres Rechtssystems, mit Verfassungsrang. (Artikel 103 GG, Absatz 3)

Dieser Grundsatz, verhindert bisher, dass eine einmal vor Gericht freigesprochene Person, wegen des selben Sachverhaltes, auch bei Vorliegen neuer Beweise nicht noch einmal angeklagt werden darf.

Wikipedia-Artikel zum Thema Doppelbestrafung:

Lateinischer Rechtsgrundsatz "Ne bis in idem" ( nicht zweimal in derselben Sache)

Wikipedia: Ne bis in idem#:~:text=Im Strafrecht ist ne bis in idem als,unterschiedlichen Gestaltungen in allen modernen (Straf-) Rechtsordnungen wieder.

Dieser Sachverhalt, wird sehr vielen Mitschreiber/innen, die schon länger dabei sind, schon des Öfteren in den Threads der Kriminalrubrik begegnet sein.
Stichwort: Strafklageverbrauch

Deshalb habe ich mich auch spontan entschlossen, diesen Thread zu eröffnen.




Aktuell stellt sich die Lage wie folgt dar:

Die Bild-Zeitung berichtet, dass seitens der Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, eine Formulierungshilfe erstellt worden ist, die noch in der kommenden Woche in erster Lesung, im Bundestag behandelt werden soll.

Der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Johannes Fechner bringt die Motivation dieses Gesetzesvorhabens, auf den Punkt:
Bei unverjährbaren Taten wie Mord darf sich kein Täter sicher sein, auch nach einem Freispruch nicht doch noch verurteilt zu werden, wenn ihn neue Beweise überführen.
Zudem bringt er auch das subjektiv empfundene "Rechtsgefühl", mit in die Diskussion ein:
Es ist schreiendes Unrecht, wenn ein vormals freigesprochener Mörder nicht verurteilt werden kann, obwohl neue Beweise seine Tat belegen.
Auch gibt er zu bedenken, dass viele andere EU-Staaten bereits die Wiederaufnahmegründe für ein Strafverfahren, längst erweitert haben und Deutschland in Bezug auf die Rechtsangleichung innerhalb der EU, quasi ein "Nachzügler" wäre.

Quellartikel

https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/regierung-will-erneute-anklage-mordverd%C3%A4chtiger-erm%C3%B6glichen/ar-AAKzNxF?ocid=msedgntp



In einem weiteren Artikel berichtet der Spiegel, über einen gescheiterten Vorstoß in der selben Sache im Jahre 2019.
Neu ist das Thema keineswegs, einen vergleichbaren Vorstoß hatte es unter anderem bereits Ende 2019 gegeben.
Verlinkung zum Artikel vom 15.November 2019

https://www.spiegel.de/panorama/justiz/justizministerium-prueft-nachtraegliche-verurteilung-freigesprochener-moerder-a-1296693.html


Der Spiegel hebt zudem, ein relativ klares Meinungsbild der Bevölkerung, zu diesem Vorhaben heraus.
Eine Umfrage von Infratest dimap aus dem Jahr 2016 hatte zudem ein klares Stimmungsbild in der Bevölkerung ergeben: 91 Prozent der Befragten

sprachen sich für die Möglichkeit eines neuen Prozesses aus. Nur sechs Prozent lehnten eine solche Möglichkeit ab. Keine Meinung zu dem Problem hatten

zwei Prozent der Befragten.
Link zum Spiegel Artikel

https://www.spiegel.de/panorama/justiz/gesetzesaenderung-regierung-will-erneute-anklage-gegen-mordverdaechtige-ermoeglichen-a-2857d1d1-e705-40cf-8c07-bd79a4cb5db2



Ich gehe davon aus, unter der Voraussetzung, dass es zu einer Gesetzesänderung kommt, alle Taten die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes verübt wurden, nach dem bisherigen Recht behandelt werden.


Ein möglicher Kritikpunkt für mich wäre, dass eine neue Regelung, eine Vielzahl von Fällen vor Gericht bringen dürfte, die nach dem alten Verfahrensrecht "auf die lange Bank geschoben wurden".

Eben begründet mit der Unsicherheit der Staatsanwaltschaft, eine Niederlage vor Gericht zu erleiden und bei dem Auftauchen von neuen Beweisen, dann mit einem Strafklageverbrauch, nicht mehr handlungsfähig zu sein.

Mit dem neuen Gesetz, hätte man dann quasi eine "Freifahrt". Um es salopp auszudrücken: Wenn es klappt ist es gut...Wenn nicht können wir bei passender Gelegenheit, noch einmal nachlegen.

Was denkt ihr darüber ?


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Bundestag strebt Verfahrensänderung bei Kapitalverbrechen an

01.06.2021 um 08:24
@EDGARallanPOE

hierzu hatte ich hier schon einmal etwas geschrieben: Peggy Knobloch (Seite 4851) (Beitrag von DoctorWho) und hier: Peggy Knobloch (Seite 3944) (Beitrag von DoctorWho)


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Bundestag strebt Verfahrensänderung bei Kapitalverbrechen an

01.06.2021 um 08:37
Zitat von EDGARallanPOEEDGARallanPOE schrieb:Was denkt ihr darüber ?
Grundsätzlich eine gute Sache und zwar auch Hauptsächlich wegen dem Rechtsempfinden
Zitat von EDGARallanPOEEDGARallanPOE schrieb:h gehe davon aus, unter der Voraussetzung, dass es zu einer Gesetzesänderung kommt, alle Taten die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes verübt wurden, nach dem bisherigen Recht behandelt werden.
Könnte ich mir auch vorstellen und zwar wegen § 1 StGB aufgrund von Art. 103 Abs. 2 GG oder? Immerhin auch ein Grundsatz.
Zitat von EDGARallanPOEEDGARallanPOE schrieb:Dieser Grundsatz, verhindert bisher, dass eine einmal vor Gericht freigesprochene Person, wegen des selben Sachverhaltes, auch bei Vorliegen neuer Beweise nicht noch einmal angeklagt werden darf.
Glaube aber, aus der Erinnerung heraus, dass selbst dieser Grundsatz nicht völlig unantastbar ist, sondern kann auch schon nach aktueller, geltender Rechtslange unter ganz bestimmen Ausnahmefällen, Voraussetzungen ein Freigesprochener nochmals wegen desselben angeklagt werden.


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01.06.2021 um 08:47
@DoctorWho

Danke...damit hast du gleich zu Beginn, eine fachlich fundierte Kritiklinie gelegt.

Ich nehme aus deinem damaligen Beitrag, der Einfachheit halber die Begriffe....Vertrauensschutz aus dem Rechtsstaatsprinzip...Rechtssicherheit und "Freisprüche unter Vorbehalt" für meine weiteren Überlegungen mit.


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01.06.2021 um 09:32
Sehr gemischte Gefühle; die Rechtssicherheit ist ebenfalls ein hohes Gut, aber das hat @DoctorWho bereits kompetent ausgeführt.

Daneben bezweifle ich die praktische Relevanz solch eines Gesetzes; hier in Deutschland fällt mir spontan kein Fall ein, bei dem ein Freigesprochener nachträglich des Mordes überführt worden wäre. Eher hat man das gegenteilige Problem (eben wegen ne bis in idem), dass man in manchen Fällen trotz erdrückender Indizienlage sehr lange mit einer Anklage wartet (Mordfall Maria Baumer).

Einen Fall kenne ich aus Amerika: Caylee Anthony- von der Mutter ermordet?. Hier hatte die Mutter wochenlang Party gemacht und sich ein "life is beautiful"-Tattoo stechen lassen, statt ihre Tochter vermisst zu melden. Freigesprochen wurde die Mutter, weil die Leiche des Mädchens während der U-Haft umgebettet worden war. Erst nachträglich kamen weitere Belastungsmerkmale ans Licht. Die forensische Analyse ihres PCs hatte man schlicht verschlampt.

Mit dem einen oder anderen Freispruch dieser Art muss man in einem Rechtsstaat wohl zähneknirschend leben. Mir reicht das ewige Gequengel einiger Protagonisten auf der Gegenseite.


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Bundestag strebt Verfahrensänderung bei Kapitalverbrechen an

01.06.2021 um 10:01
Zitat von Mr.StielzMr.Stielz schrieb:hier in Deutschland fällt mir spontan kein Fall ein, bei dem ein Freigesprochener nachträglich des Mordes überführt worden wäre.
Nun ja, ein recht eindeutiger Fall ist der Mord an Frederike Möhlmann und sicher gibt es noch einige solcher Fälle, vor allem weil in letzter Zeit durch die moderne Technik der DNA - Analyse lange zurückliegende Morde aufgeklärt werden können.
https://www.welt.de/vermischtes/article145372551/Wenn-der-Moerder-der-Tochter-neben-einem-sitzt.html
An einer Binde in der Unterhose von Frederike fanden sie eine „sekretverdächtige Anhaftung“, die sie mithilfe einer DNA-Analyse untersuchten – eine Methode, die es in den 80er-Jahren noch nicht gegeben hatte.

In der Kammer lag auch noch eine Haarprobe von Ismet H. Die DNA-Muster von Sekret und Haar waren in allen Punkten identisch.
Quelle:


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Bundestag strebt Verfahrensänderung bei Kapitalverbrechen an

01.06.2021 um 10:30
@seli
Danke, an den Fall dachte ich auch. Die geplante Änderung des Gesetzes ist durchaus sinnvoll und überfällig


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01.06.2021 um 11:02
Ich sehe das auch mit gemischten Gefühlen. In mancher Hinsicht würde ich es begrüßen, aber leider sehe ich da auch den menschlichen Faktor und aus diesem Grund halt ich nicht viel davon.

Mit einer Änderung des Gesetzes würde aber die Hemmschwelle wegfallen und viel schneller angeklagt und verurteilt mit häufig weniger Beweisen bzw Indizien, denn wenn es diesmal nicht klappt mit der Verurteilung, dann vielleicht das nächste mal.


Beispiel zur Erklärung an Hand Fall Reusch:

Man geht davon aus F.R. war hat R.R. getötet und versteckt/verscharrt.
Nach jetzigen Stand gibt es Indizien dafür und die Behörden sind sich sicher. Es wird trotzdem weiter ermittelt zur Be- und Entlastung. Weil bekannt ist, daß wenn er jetzt freigesprochen wird, ist das endgültig (bis auf extreme Sonderfälle). Er wird also noch nicht angeklagt bzw verurteilt. Und gilt somit noch als unschuldig.

Mit geändertem Gesetz sagt jetzt die Staatsanwaltschaft, ok wir haben eine ganze Menge Indizien, versuchen wir unser Glück. Dazu kommt noch ein Richter der etwas gegen solche Taten hat und sich denkt sofort aus dem Verkehr ziehen diesen F.R.( Was viele incl.mir wohl auch so sehen und verstehen würden) und verurteilt ihn. Und jetzt wird es verdammt schwierig für F.R., denn wenn er wirklich unschuldig ist, muss er das jetzt beweisen.

Und in dem Fall steht plötzlich nicht mehr der Grundsatz unschuldig bis zum Beweis der Schuld, sondern schuldig bis zum Beweis der Unschuld.

Und es gibt genug Anwälte und Richter die sich mit bestimmten Fällen gerne profilieren würden.
Und im Moment ist einfach die Messlatte für Verurteilung sehr hoch und immer gut abzuwägen. Dies würde aber mit Sicherheit aufgeweicht durch eine Gesetzesänderung.

So denke zumindest ich darüber.


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01.06.2021 um 11:54
Dann erwecke ich diesen seinerzeit von mir verfassten Beitrag erneut zum Leben:
Zitat von emzemz schrieb am 04.02.2021:Auch wenn man es von der Empathie her gern anders hätte, aber es ist nun mal so, man kann nicht jede Tat bestrafen, auch wenn man es für noch so ungericht empfinden mag. Irgendwann ist halt auch mal Schluss.

Frederike von Möhlmann, 17 Jahre - Lolita Brieger, 18 Jahre
Beiden Tätern ist die Tötung zweifelsfrei nachgewiesen.
Beide leben in Freiheit und das nach wie vor in der Nähe der Opferfamilien
Beim einen gilt ne bis in idem, dem anderen konnte Mord nicht nachgewiesen werden und Totschlag war verjährt.

Aber nicht, dass jetzt einer meint, man müsste auch an der Verrjährung basteln ;)
Damit will ich sagen, es wird immer etwas geben, was einem ungerecht erscheint und das darf es auch.
Aber dieses ne bis in idem, das hatten schon die alten Römer. Und wenn danach heute noch verfahren wird, dann würde ich mal annehmen, hat sich das halt auch bewährt.


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Bundestag strebt Verfahrensänderung bei Kapitalverbrechen an

01.06.2021 um 12:08
Zitat von EDGARallanPOEEDGARallanPOE schrieb:Was denkt ihr darüber ?
Ich halte die Abschaffung des "ne bis in idem" für MEHR als überfällig.

Begründung:
Dieses Prinzip stammt - die Sprache verrät es - aus der Antike. Die Althistoriker und Altphilologen unter uns wissen, wie Justizverfahren im alten Rom abliefen. ;) Spoiler: Wenige bis gar keine Sachbeweise, dafür große Redekunst der sorgfältigst ausgebildeten oratores.

Seit der Antike hat sich hinsichtlich der Beweisführung unendlich viel "getan".

Es ist erst wenige Jahrzehnte her, da waren kartierte Fingerabdrücke und die Blutgruppe das Höchste des Ermittelbaren. Die Verfahren machen von Jahr zu Jahr unglaubliche Fortschritte. Es spricht erheblich mehr gegen als für den aus der Antike (jahrhundertelang zu Recht) übernommenen Strafklageverbrauch. Sein Fortbestand im 21. Jahrhundert ist ein Skandal, der die forensische Wissenschaft verhöhnt und die Opfer bzw. deren Angehörige abwertet und in erheblichem Maße den vielbemühten "Rechtsfrieden stört".



Auch müssten Wiederaufnahmen vereinfacht werden. Auch die Rechtsprechung bedarf einer Kontrolle. Alle öffentlichen Institutionen unterliegen einer Kontrolle, nur die Rechtsprechung kontrolliert sich selbst. Irren ist menschlich. Richter sind Menschen. Ergo können Richter sich irren. Und sie irren sich - dauernd.

Der Umstand, dass die Justiz sowieso heillos überlastet ist, darf kein Argument sein, wenn es um Schicksale geht.


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Bundestag strebt Verfahrensänderung bei Kapitalverbrechen an

01.06.2021 um 12:33
Zitat von EclipseFirstEclipseFirst schrieb:Auch müssten Wiederaufnahmen vereinfacht werden.
Und wieviele Wiederaufnahmeverfahren führen dann tatsächlich zum Erfolg?
Hat hier irgendjemand Zahlen?
Es würde dann zwar die Anzahl der Verfahren ansteigen, aber würde es auch mehr Freisprüche geben?


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Bundestag strebt Verfahrensänderung bei Kapitalverbrechen an

01.06.2021 um 12:40
Zitat von EclipseFirstEclipseFirst schrieb:Die Althistoriker und Altphilologen unter uns wissen, wie Justizverfahren im alten Rom abliefen. ;) Spoiler: Wenige bis gar keine Sachbeweise, dafür große Redekunst der sorgfältigst ausgebildeten oratores.
Falsch. Einfach mal ein Sachbuch zum römischen Recht lesen oder hilfsweise bei Wiki: Wikipedia: Rechtswesen im antiken Rom#Prozessordnung


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01.06.2021 um 12:41
Nehmen wir doch einmal die Position des direkt Betroffenen ein.

Der freigesprochene Angeklagte, weiß ja sofort nach der Urteilsverkündung, ob der Richter mit seinem Urteil richtig gelegen hat.

Als tatsächlicher Täter, hat er nur einen Etappensieg errungen, den man ihm jederzeit wieder streitig machen kann.



Was aber ist mit dem Angeklagten, der weiß das er die Tat nicht begangen hat ? Auch er kann mit dem Freispruch, als vorläufigem Etappensieg erstmal zufrieden sein.

Nach dem sich die erste Freude gelegt hat, wird ihm aber klar werden, dass nun solange er auf Erden weilt, das sprichwörtliche "Damoklesschwert" über ihm pendelt.

Denn dieselben Fehleinschätzungen und vermurksten Ermittlungen, die ihn ungerechtfertigterweise beim ersten Prozess vor Gericht brachten, können sich jederzeit wiederholen und in einem zweiten Prozess münden, der ihn dann hinter Gitter bringen könnte.
Zitat von emzemz schrieb:Und wieviele Wiederaufnahmeverfahren führen dann tatsächlich zum Erfolg?
Ich habe eben erfolglos, nach statistischen Angaben gesucht, wie viele Mordanklagen mit einem Freispruch endeten.

Da gibt es jährlich eine staatliche Statistik. Die ist so groß, dass man meinen könnte es wären sogar alle Duftsteine erfasst, die seit Kriegsende in den Pissoirs deutscher Gerichte zum Einsatz kamen...aber von Freisprüchen und deren Erfassung....weit und breit keine Spur.


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01.06.2021 um 12:46
@abberline
Ich denke inzwischen auch, daß eine Reform dazu inzwischen überfällig ist.
Diesen, auch "Double Jeopardy" genannten Rechtsgrundsatz mit den Augen von Opfern oder Opferangehörigen zu sehen, könnte hilfreich sein.
Gerade heute, wo forensische Wissenschaft derartige Fortschritte gemacht hat, sollte man wirklich mal darüber nachdenken.
Wir klagen ja auch anderweitige Verbrechen noch mehrere Jahrzehnte später an, warum auch nicht zukünftig Kriminal Verbrechen?

Ich habe mich mit der Frage erstmalig befasst, als ich mich in den Fall des US Sergeant Timothy Hennis und den soggn. Eastburn Family Morden
eingelesen habe.
Die Morde fanden 1986 statt. Der Täter Hennis wurde im ersten Verfahren verurteilt. Im zweiten Verfahren (Berufung) frei gesprochen .
Dann viele Jahre später, hat man endlich noch mal DNA Spuren untersucht, was 86 so noch nicht möglich war.
Und siehe da Match zu Hennis. Die Staatsanwaltschaft stand nun vor dem Problem, wie ihn noch mal anklagen?
Und dann das Novum in der US Justiz Geschichte, die Army hat ihn noch mal einberufen als Sergeant A.D. Und kaum wieder im Dienst durfte ihn ein Militärgericht 2010 erneut anklagen und letztendlich zum Tod verurteilen.
Der Ehemann und Vater der ermordeten Familie von damals dürfte darüber mehr als glücklich sein. Ebenso die Ermittler, die sich seit 1986 damit befassen mussten.


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01.06.2021 um 13:13
Ein Gericht wird sich doch weitaus mehr bemühen, dem Beschuldigten die Tat wasserdicht nachzuweisen, wenn es weiß, wenn's mit der Verurteilung nicht hinhaut, dann war's das.


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01.06.2021 um 14:24
Zitat von EDGARallanPOEEDGARallanPOE schrieb:Mit dem neuen Gesetz, hätte man dann quasi eine "Freifahrt". Um es salopp auszudrücken: Wenn es klappt ist es gut...Wenn nicht können wir bei passender Gelegenheit, noch einmal nachlegen.

Was denkt ihr darüber ?
Ich sehe drei gravierende Probleme:

Problem 1: Wie andere schon anmerkten, schafft eine solche Abschaffung ziemlich direkt einen "Freispruch 2. Klasse", d.h. der Freispruch wegen erwiesener Unschuld wird inhaltlich deutlich unterschieden zum "Freispruch aus Mangel an Beweisen". Das kann man (aus der Situation "das wird mich nie betreffen" heraus) für unerheblich halten, aber die Nachwirkungen einer solchen Sache auf Betroffene sollte man nicht unterschätzen. Gerade in hässlichen Erbschaftsgeschichten usw. sehe ich da erhebliche Missbrauchspotenziale (da ja unter Anderem auch Zeugenaussagen oder Vergleichbares ein Beweismittel im Sinne des Gesetzes sind)...

Problem 2: Eine solche Regelung eröffnet Missbrauchspotenzial für Staatsanwälte usw. - man könnte in Versuchung kommen, bei der ersten Anklage Beweismittel gezielt zurückzuhalten um bei einem Scheitern des Verfahrens dann mit "neuen" Beweisen einen zweiten Versuch starten zu können, ggf. mit anderen Richtern, Schöffen usw. Im Extremfall, wenn es dann um eine möglicherweise lebenslange Haft geht, kommen da dann fast zwangsläufig regelrechte Verfahrensschlachten zustande, mit Berufung, Revision, internen Ermittlungen bei Polizei und Staatsanwaltschaft (da es verfahrenserheblich wird, Wissen oder Nichtwissen um die Beweise zu bestimmten Zeitpunkten nachzuweisen) und auch im Verfahrensablauf würde das massive Folgen nach sich ziehen (von der freien Beweiswürdigung müsste man sich weitgehend verabschieden).

Problem 3: Rein logisch ist eine Beschränkung auf Mord oder auch auf Kapitalverbrechen kaum leistbar - es stellt sich ja direkt die Frage wie es aussieht, wenn z.B. die ursprüngliche Anklage mal auf "Mord" lautete, sich im Verfahren dann eine z.B. KV mit Todesfolge oder ein Totschlag erweisen und man verurteilt wird - ist der Täter jetzt vor weiteren Mordanklagen sicher, kann man nochmal neu anfangen? Umgekehrt, ich verurteile jemanden wegen Totschlag, kann ich jetzt, mit der sicheren Verurteilung "in der Tasche" nochmal auf Risiko gehen und denjenigen auf Mord "upzugraden" versuchen? Glaubt irgendjemand, das 2. Verfahren wäre noch fair, wenn der Täter definitiv im 1. Verfahren schon überführt wurde? Kann derjenige jetzt im 2. Verfahren ganz freigesprochen werden? Und so weiter.

Das alles erscheint mir sehr schlecht durchdacht und praxisfern.

Zwei Anmerkungen noch:

- Dieser Blödsinn ist, was von einer Initiative übrigblieb, die ursprünglich mal gestartet war um den Mordparagraphen von Nazi-Justiz-Relikten zu befreien, insbesondere den Mordmerkmalen "Heimtücke" und "Niedere Beweggründe", seinerzeit noch unter Heiko Maas
- Ich freue mich schon auf die Fischer-Kolumne zu diesem Thema


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02.06.2021 um 04:04
Als Jurist sehe ich das Ganze mit schwerem Herzen. Ich habe zwar keine Sympathie mit Mördern und ihren Genossen, aber ich schaue auf die Fälle, in welchen wirklich Unschuldige zu Unrecht angeklagt wurden. Da schliesse ich mich den Sichtweisen von @blacklady2309
und anderen hier an.

Man muss sich einmal in die Situation eines wirklich Unschuldigen versetzen, dem ein solch schweres Verbrechen vorgeworfen wird. Er steht mutterseelenallein mit seinem Verteidiger der geballten Macht des Staates gegenüber: dieser hat unendliche Ressourcen, unendliches Personal in Form von Polizei und Staatsanwaltschaft. Der Beschuldigte hat begrenzte Ressourcen, wenn er nicht zu den ganz wenigen reichen Beschuldigten gehört. Nun nehmen er und sein Verteidiger den Kampf um die Freiheit auf und siehe da: im Prozess stellt sich heraus, dass der Staat seine Pflicht nicht erfüllt hat, überzeugend dem Gericht die Schuld des Angeklagten zu beweisen.

Der Angeklagte wird, nach Monaten in Untersuchungshaft, die bei solchen Anklagen recht wahrscheinlich ist, finanziell und emotional als ziemliches Wrack entlassen. Trotz Freispruch ist sein bisheriges Leben meist zerstört. Hinter seinem Rücken tuschelt man eh, dass das ja nur ein "Freispruch zweiter Klasse gewesen sei..." usw. Aber immerhin: er kann nun versuchen die Scherben seines Lebens aufzusammeln und zu kitten, denn der uralte und fundamentale Grundsatz "ne bis in idem" schützt ihn davor, diese Hölle noch einmal durchzumachen.

Jetzt wird der abgeschafft. Der Staat sagt: OK, probieren wir es halt noch mal, in einem halben Jahr, in einem Jahr, in fünf Jahren... Wir haben das Geld, wir haben die Leute, wir haben Zeit.

Unser Unschuldiger dagegen muss jeden Tag Angst haben, dass die Polizei wieder mit den Handschellen vor der Tür steht und alles von vorne losgeht.

Das ist nur ein Aspekt, der m.E. die Abkehr vom Prinzip des ne bis in idem so problematisch macht. Freilich, man mag nun einwerfen: wieviele Unschuldige werden denn angeklagt? Wie viele wirklich Schuldige sind dagegen freigekommen, obwohl sie mal angeklagt waren?

Das weiss freilich keiner so genau. Aber hier sollte in einer Gesellschaft, die nach Gerechtigkeit strebt, immer der Grundsatz gelten, den der berühmte englische Jurist Sir William Blackstone einmal so formuliert hat: "Es ist besser, dass zehn Schuldige entkommen, als dass ein Unschuldiger verfolgt wird."

In der Praxis, wage ich mal vorherzusagen, wird die Sache nicht oft vorkommen. Schon heute ist ein Freispruch nach einer Mordanklage relativ selten, und das mag, wie hier manche gesagt haben, auch mit dem drohenden Strafklageverbrauch zu tun haben: dass die Staatsanwaltschaft nur dann Anklage erhebt, wenn sie sich sehr sicher ist, das Richtige zu tun. Fatal wäre m.E. freilich, wenn sich aufgrund der neuen Regelung eine "Freischussmentalität" bei der Staatsanwaltschaft einstellen würde.

Freilich hat am Ende auch noch das Bundesverfassungsgericht mitzureden. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Gesetz aus dem Hause Maas oder Lambrecht in hohem Bogen in den Mülleimer geworfen wird.


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Bundestag strebt Verfahrensänderung bei Kapitalverbrechen an

02.06.2021 um 06:15
Zitat von Rick_BlaineRick_Blaine schrieb:Man muss sich einmal in die Situation eines wirklich Unschuldigen versetzen, dem ein solch schweres Verbrechen vorgeworfen wird. Er steht mutterseelenallein mit seinem Verteidiger der geballten Macht des Staates gegenüber: dieser hat unendliche Ressourcen, unendliches Personal in Form von Polizei und Staatsanwaltschaft.
Ich denke das ist eigentlich der viel größere Kritikpunkt. Klar, die Staatsanwaltschaft und auch die Polizei sollen ja eigentlich belastendes aber eben genauso entlastende ermitteln. Fakt ist aber auch das wenn die sich einmal eingeschossen haben der Weg eigentlich vorgezeichnet ist. Dann wird oft nur noch belastendes ermittelt und andere Indizien ignoriert.
Meine Ansicht nach müsste eigentlich genau mindestens eine 2. Behörde gegründet werden die eben genau nur damit befasst ist eben entlastende Material zu sammeln.

Ich glaube aber auch nicht das sich eine andere Mentalität der Ermittlungsbehörden einstellen wird groß, was hier schon angesprochen wird. Ich denke der Sinn solch einer Änderung is es dem technischen Fortschritt mit einzubeziehen der in der Zukunft eben evtl. auch andere Beweise ermöglicht, siehe z.B. Gentests, vor 40 noch fast undenkbar das sowas mal geht.


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Bundestag strebt Verfahrensänderung bei Kapitalverbrechen an

02.06.2021 um 12:41
Zitat von McMurdoMcMurdo schrieb:Ich denke der Sinn solch einer Änderung is es dem technischen Fortschritt mit einzubeziehen der in der Zukunft eben evtl. auch andere Beweise ermöglicht, siehe z.B. Gentests, vor 40 noch fast undenkbar das sowas mal geht.
Die Initiative zielt ja erkennbar auf die Ausnutzung des technischen Fortschritts ab.

Aber, und das sollte man nicht vergessen: wie hoch ist den der tatsächliche Nutzen von z.B. DNA-Tests in einem Mordprozess wirklich? In der wohl häufigsten Konstellation "Täter im Bekanntenkreis" wohl doch eher gering - dass die Person mal irgendwann am Tatort war, vielleicht mal mit dem Opfer was getrunken hat usw. ist in der Regel doch eher ein Indiz, vielleicht auch ein schlagendes, aber eben kein hinreichender Beweis.

Und da laufen wir dann in ganz andere Messer: eine neue, zweite Anklage impliziert ein komplett neues Verfahren - ein komplett neues Verfahren heißt aber auch: vollkommen neue Beweisaufnahme, nochmalige freie (!) Beweiswürdigung usw.

Stelle ich mir interessant vor, wenn nach 10, 20 oder mehr Jahren maßgebliche Beteiligte wie die Polizisten vielleicht längst verrentet oder tot sind, Zeugen nicht mehr auffindbar sind oder sich inzwischen "Im Kopf" eine ganze andere Version dessen, was sie damals gesehen haben, zusammengebaut haben, materielle Beweise verloren gingen, sich zersetzt haben, aufgrund technischer Verwendungen nicht mehr auswertbar oder zulässig sind und was es sonst noch an Problemquellen geben könnte.


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Bundestag strebt Verfahrensänderung bei Kapitalverbrechen an

03.06.2021 um 03:20
Zitat von bgeowehbgeoweh schrieb:Stelle ich mir interessant vor, wenn nach 10, 20 oder mehr Jahren maßgebliche Beteiligte wie die Polizisten vielleicht längst verrentet oder tot sind, Zeugen nicht mehr auffindbar sind oder sich inzwischen "Im Kopf" eine ganze andere Version dessen, was sie damals gesehen haben, zusammengebaut haben, materielle Beweise verloren gingen, sich zersetzt haben, aufgrund technischer Verwendungen nicht mehr auswertbar oder zulässig sind und was es sonst noch an Problemquellen geben könnte.
Sehr richtig, das ist mit das grösste Problem und betrifft sowohl Anklagebehörde als auch Verteidigung. Je später es zum "zweiten" Prozess kommt, desto problematischer die Beweislage.

Und das kann auch extrem problematisch werden: Nehmen wir mal an, im ersten Prozess wurde Angeklagter Ehrlich Unschuldig freigesprochen. Es gab zwar eine Zeugin, die ausgesagt hat, EU am Tatort zur Tatzeit gesehen zu haben, aber sie war die einzige, nicht sehr glaubwürdig, dafür aber sehbehindert. Für das Gericht zu wenig.

Staatsanwalt Dr. Bissig ist aber fest überzeugt, dass Unschuldig der wahre Täter ist. Er lässt weiter auf Teufel komm raus ermitteln und siehe da, 10 Jahre später ist die Technologie so weit, dass es gelingt, auf einer Teppichfliese am Tatort DNA des Unschuldig zu finden.

Ha, denkt Bissig und klagt erneut an.

Unschuldig allerdings hat durchaus eine Erklärung: am Tag vor der Tat war er schon mal am Tatort, da wird er die DNA hinterlassen haben. Jetzt aber ein Problem: Es gab einen Menschen, der das klar bezeugen konnte. Der ist aber vor 3 Jahren verstorben. Im ersten Prozess wurde er nicht angehört, da es nicht um diese Frage ging. Jetzt, wo dieser Zeuge hilfreich für die Verteidigung wäre, vielleicht der entscheidende Zeuge, ist er tot.

Dieses Problem stellt sich schon durch die Entscheidung des Gesetzgebers, Mord nicht verjähren zu lassen, wird aber durch diese neue Regelung eventuell weiter verstärkt.


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