Abahatschi schrieb am 17.03.2019:Das letzte (aktuelle) deutsche Großprojekt, das die Welt beeindruckt hat, ist:
Die Wiedervereinigung bzw. der Aufbau Ost. Ich kann mich noch an die maroden Städte und Dörfer der DDR erinnern, durch die man mit dem wohlklingenden Getucker des Zweitakter-Trabi gezuckelt ist, eine blaue Abgaswolke hinterlassend, die jedem Westler nach 2 Stunden Kopfschmerzen bereitete. Dass der Osten Deutschlands in nur einer Generation nicht mehr wiederzuerkennen ist, ist ein Verdienst! Bei allem Gemecker und allem Hohn, der Kohl ob seiner "blühenden Landschaften" damals entgegengebracht wurde, der ausländische Besucher heute staunt, wenn er das alte Erfurt oder Leipzig kennt und das neue sieht.
Deutschland ist im folgenden Bereich weltweit führend:
Tja, hier wird's schwieriger. Anderen mit dem Zeigefinger vor dem Gesicht herumwedeln und die Welt verbessern wollen ist vermutlich keine Kategorie, die hier gefragt ist. Einzelne Industriezweige haben in den letzten Jahren gewaltig an Image verloren, aber im Maschinenbau schaut man immer noch gern nach Deutschland.
Die letzte grosse politische Änderung/Entscheidung, die das Leben der Gesellschaft eindeutig verbessert hat, ist:
Oh je. Verbessert? Mal abgesehen von der Wiedervereinigung und ihrer Auswirkung auf den östlichen Gesellschaftsteil erinnere ich mich nicht sonderlich an "Verbesserungen." Da muss ich gewaltig in meiner Kindheit suchen. Abschaffung der Regelarbeit an Samstagen, daran kann ich mich noch erinnern, von den Gewerkschaften hart erkämpft ("Samstags gehört der Vati mir"). Die Einbindung in Europa vielleicht, die aber schon vor meiner Zeit erreicht wurde.
Aber ich erlaube mir noch eine Bemerkung, da ich aus Erfahrung sprechen kann. In Deutschland aufgewachsen und vom westdeutschen Bildungssystem ausgebildet worden bin ich einer dieser Akademiker, die aus freien Stücken das Land verlassen haben. Ich hatte ein im deutschen Vergleich hohes Einkommen, das sprichwörtliche Haus, Boot, Auto... und doch bin ich weggegangen. Im Studium habe ich mir Italien und England angeschaut und bin dann schliesslich in die USA ausgewandert.
Ich kann sagen: nicht die Abgabenhöhe in Deutschland hat mich dazu gebracht. Es ist eine Milchmädchenrechnung, wenn man nur Netto und Brutto vergleicht. Ja, in den USA zahle ich weniger Steuern und viel weniger Abgaben, aber in Wirklichkeit wird der Unterschied viel geringer, wenn ich einrechne, was ich dann eben privat bezahlen muss. Ich habe eine erstklassige medizinische Versorgung, zahle aber weit mehr als das Doppelte dafür, als was ich in Deutschland zahlen würde. Was der Staat mir in Deutschland zur Altersversorgung abverlangt, zahle ich hier aus gutem Grund freiwillig, denn sonst habe ich nichts im Alter. Und so weiter.
Es gibt Preisunterschiede, aber die werden erst interessant, wenn man den persönlichen Lebensstil zugrunde legt: mein Haus mit pool und allem ist kaum billiger in als in Deutschland, dafür sind die Lebensmittel hier um einiges teurer. In vielen Städten sind die Mieten hier weitaus höher als in Deutschland. Drei Wochen Urlaub auf der Alm in Österreich sind vermutlich billiger als drei Wochen Urlaub auf der Alm in Colorado. Ausserdem hatte ich in Deutschland 6 Wochen, hier würde ich höchstens vier haben (ich bin selbstständig, daher betrifft mich der Vergleich nicht so). Dafür ist mein Auto um einiges billiger als in Deutschland und für Benzin zahle ich nur ein Drittel. Genau wie für Strom. Für den Preis eines Restaurantbesuchs in Paris kann ich hier viermal essen gehen.
Es ist also sehr schwer pauschal zu sagen, wo man "billiger" lebt, es kommt darauf an, wie man lebt.
Wo aber liegt dann der Grund für den Frust, den ich bei vielen anderen ausgewanderten Deutschen sehe, mit denen ich beruflich sehr viel in Kontakt bin? Es sind alles Menschen, die in Deutschland durchaus zu den Hochverdienern gehört haben, die ohne grosse Probleme die höheren Abgaben oder Steuern tragen konnten, ohne am Hungertuch zu nagen.
Was sie und mich verärgert hat und vermutlich sehr viel zur Entscheidung auszuwandern beigetragen hat, ist, dass wir oft die Ideologie hinter den Preisen nicht akzeptieren. Wenn ich z.B. weiss, dass Benzin in Europa oder den USA am Markt ungefähr gleich viel kostet, dass aber in Deutschland aus ideologischen Gründen eine mehrfache Steuerlast auf den Preis gelegt wird, dann ärgert das. Beim Strompreis das Gleiche, siehe diesen interessanten Artikel:
https://www.faz.net/aktuell/finanzen/meine-finanzen/geld-ausgeben/energie-strompreise-in-deutschland-auf-rekordniveau-16119044.htmlWarum ist Strom in Deutschland mehr als doppelt so teuer wie in Frankreich und dreimal so teuer wie hier in den USA? Weil deutsche Politiker es so wollen.
Und, um der langen Rede kurzen Sinn darzustellen: viele, die ich kenne, gerade diejenigen, die es sich leisten können, die hochgebildeten usw. wandern aus, weil sie selbst entscheiden mögen, was sie für sinnvoll halten und wofür sie ihr Geld ausgeben wollen. Wie sie leben wollen.
Das wird immer noch sehr unterschätzt. Um am Beispiel Schweiz zu bleiben: das Hochpreisland par excellence. Warum würden so wenige Schweizer tauschen und in Deutschland leben wollen, wo alles so viel billiger zu sein scheint?
Vielleicht weil man in Deutschland das Gefühl hat, nichts zu sagen zu haben?