@inci2Distrikte waren Neugründungen der Kolonialverwaltung, die auf drei Prinzipien basierten: Sie sollten handhabbare Verwaltungsgrößen sein; sie sollten möglichst eine ethnisch homogene Bevölkerung haben; und diese ethnisch homogene Bevölkerung sollte traditionelle politische Führer haben, die als Chiefs der Kolonialverwaltung dienen konnten . Die Umsetzung dieses Verwaltungsdesigns stieß – aus heutiger Sicht kaum überraschend – auf große Probleme. So konnten die von den Kolonialherren identifizierten ethnischen Gruppen so groß sein, dass sie auf mehrere Distrikte verteilt werden mussten. Oder in einem Distrikt lebten Menschen, die sich unterschiedlichen ethnischen Gruppen zugehörig fühlten und sich mit guten Gründen gegen eine ethnische Homogenisierung wehrten – ein Problem, dass auch in Europa bis in die jüngste Zeit hinein anzutreffen ist. In einigen Gebieten des kolonialen Afrikas ließen sich ethnische Gruppen kaum identifizieren oder die Bevölkerung äußerte sich zu Fragen ihrer ethnischen Zugehörigkeit widersprüchlich und irreführend. In vielen Distrikten sahen sich die europäischen Kolonialbeamten mit Ansprüchen rivalisierender afrikanischer Autoritäten konfrontiert und mussten hier häufig Partei ergreifen, was die Etablierung einer Kolonialverwaltung zumeist verkomplizierte. Auch unumstrittene politische Autoritäten konnten sich als problematisch erweisen, wenn sie sich als rebellisch oder renitent erwiesen und der Kolonialstaat die Vorstellung von „traditionell legitimierter“ Herrschaft dem Primat des Machterhalts unterordnen und an manchen Orten de facto neue Dynastien einsetzen mussteAls Reaktion auf all diese Probleme hat der koloniale Staat nicht nur das mit spezifischen Funktionen ausgestattete Amt des Chiefs geschaffen, sondern mitunter auch die dazu passenden ethnischen Gruppen. So war der Kolonialismus die Zeit einer invention of tradition und auch einer invention of tribes. Diese „Stämme“ wurden im kolonialen Kontext verstanden als eine quasi natürliche und abgeschlossene soziale Gruppe, die letztlich auf einer biologischen Abstammung basierte, als eine geschlossene kulturelle und auch sprachliche Einheit, mit eindeutig identifizierbaren und ererbten Traditionen und Organisationsformen, in deren Rahmen das Zusammenleben, kulturelle und religiöse Praktiken und teilweise auch die Wirtschaftsweise geregelt wurden.[43] Der so verstandene „Stamm“ oder tribe war in der von den Kolonialherren propagierten Vorstellung eine Primordialkategorie, die eine traditionelle, geschlossene und stagnierende Gesellschaftsformation beschrieb, die – im impliziten Gegensatz zu den dynamischen Gesellschaften Europas – aus sich heraus keine historische Dynamik entfalten könne. Ähnliche Vorstellungen sind auch in der Gegenwart noch verbreitet. So sagte der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy im Jahr 2007 ausgerechnet vor einem universitären Publikum im senegalesischen Dakar:
„Le drame de l'Afrique, c'est que l'homme africain n'est pas assez entré dans l'Histoire. Le paysan africain, qui depuis des millénaires, vit avec les saisons, dont l'idéal de vie est d'être en harmonie avec la nature, ne connaît que l'éternel recommencement du temps rythmé par la répétition sans fin des mêmes gestes et des mêmes paroles. Dans cet imaginaire où tout recommence toujours, il n'y a de place ni pour l'aventure humaine, ni pour l'idée de progrès.”[44]
In der Kolonialzeit beinhalteten derartige Vorstellungen nicht nur eine Abwertung afrikanischer Gesellschaften, sondern auch eine grobe Vereinfachung und Vereinheitlichung ihrer Organisationsformen. Im vorkolonialen Afrika fanden sich die verschiedensten sozialen und politischen Ordnungen: von Gesellschaften, die in kleinen Gruppen basierend auf realer oder fiktiver Verwandtschaft lebten und in mehr oder weniger lockeren Verbindungen und Allianzen zu anderen Gruppen standen, bis hin zu zentralisierten Königreichen mit einer ausgeprägten Verwaltungsstruktur. Auch afrikanische Vorstellungen von ethnischen Gruppen, ihrer Bedeutung und ihren Funktionen, waren höchst unterschiedlich. Dabei war besonders das 19. Jahrhundert von raschen und tiefgreifenden Veränderungen geprägt: von umfangreichen Migrationsbewegungen, von gravierenden religiösen und kulturellen Veränderungen, von der Notwendigkeit weitgehender ökonomischer Neuausrichtung, von politischen Zentralisierungsprozessen, aber auch vom Zerfall größerer politischer Einheiten. "