Wohin geht die Türkei unter Erdogan?
11.05.2014 um 23:13Kommentar von Dr. Lale Akgün:
DIESER ARTIKEL VON MIR IST AM FREITAG, DEN 9.MAI IM KÖLNER STADTANZEIGER ERSCHIENEN!https://de-de.facebook.com/pages/Dr-Lale-Akg%C3%BCn/207066919326902
"Der 10. August 2014 könnte zum Schicksalstag für die Türkei werden. An diesem Tag wird in der Türkei der nächste Staatspräsident gewählt, zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei direkt vom Volk. Und es gibt sichere Indizien dafür, dass Recep Tayyip Erdogan der Präsidentschaftskandidat der AKP in der Türkei werden wird.
Erdogan geht auf Wahlkampf – nicht nur in der Türkei! Wenn er – wie angekündigt – am 24. Mai 2014 in der Lanxess Arena in Köln auftritt, kommt er nicht zum ersten Mal zu einer Wahlkampfveranstaltung nach Deutschland. Auch in der Vergangenheit hat er die deutsche Bühne benutzt, um sich als der Beschützer der „Auslandstürken“ zu profilieren und von hier aus auf Stimmenfang zu gehen. Doch diesmal geht es um mehr. Denn zum ersten Mal dürfen auch türkische Staatsbürger im Ausland mitwählen. Deshalb startet Erdogan eine Großoffensive, die in Köln ihren Anfang nimmt. Hier hat seine Lobby ihr europäisches Zentrum, hier sitzen die Institutionen, die ihn unterstützen. Offiziell wird – und das auch nicht zum ersten Mal – die UETD (Union der Europäischen Türken) als Gastgeberin für die AKP fungieren, aber natürlich stehen islamische Organisationen Gewehr bei Fuß, um die Veranstaltungen zu füllen und Erdogan zu feiern.
An erster Stelle ist die DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) zu nennen, die gegenüber der deutschen Politik als Ansprech- und Dialogpartnerin auftritt, hinter den Kulissen aber als Strippenzieherin der türkischen Regierungsaktivitäten fungiert.
Erdogan ist nach wie vor für die konservativen, sozial benachteiligten Menschen aus Anatolien ein Idol. Sie akzeptieren seine konservative Lebenseinstellung, seinen autoritären Stil, seinen Umgang mit der Macht, ja, sie bewundern ihn dafür. Zu seinen Veranstaltungen kommen sie in Leichentüchern, um zu signalisieren, dass sie bereit sind, für ihn zu sterben. Für ihren Helden, der ihnen zum ersten Mal die Teilnahme an einer Wahl ermöglicht, obwohl diese Wahl für sie überhaupt nicht relevant ist, da sie in Deutschland leben. Da fragt man sich, warum sie sich nicht haben einbürgern lassen, denn dann hätten sie an den deutschen Wahlen teilnehmen können. Sie hätten die Politik mitbestimmen können, die für ihr Leben hier in Deutschland wichtig ist.
Mit dieser türkischen Wahl wird türkische Politik mehr denn je zur deutschen Innenpolitik. Das wirft grundsätzliche Fragen auf – vor allem diese: Sollen überhaupt türkische Wahlen auf deutschem Boden stattfinden? Welche Konsequenzen hat es, wenn das Staatsoberhaupt eines anderen Landes in Deutschland direkt gewählt wird? Dient das der fortwährend beschworenen Integration? „Körperlich hier, geistig in der Türkei“ – dieses Bild wird sich weiter festigen. Da liegt es nahe, dass die Mehrheitsgesellschaft fragt: „was haben wir damit zu tun?“
Hinzu kommen wichtige Fragen im Zusammenhang mit der Situation in der Türkei und der Person Erdogan. Heute ist die Türkei undemokratischer denn je. Erdogan hat sich mit seinem Verhalten verheerende Blößen gegeben. Jeden Tag kommen neue Vorwürfe: Korruption, Eingriffe in die Rechtsprechung und in die Rechtssetzung, Kontrolle der Exekutive. Die für jede Demokratie unabdingbare Gewaltenteilung gibt es nicht mehr. Der Politikwissenschaftler Ümit Özdag sagt, „dass es in der Türkei keinen Rechtsstaat mehr gibt und der Geist eines Überwachungsstaates entstanden ist“. Nach Feststellung der Nichtregierungsorganisation Freedom steht die Türkei in Fragen der Pressefreiheit auf Platz 134 der Weltrangliste, und das Weltwirtschaftsforum sieht die Türkei in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz auf Platz 85. Da frage ich mich – und mit dieser Frage stehe ich längst nicht mehr allein: Warum gibt Deutschland einem türkischen Politiker, der für derart unverantwortliches politisches Handeln steht, die Möglichkeit, in unserem Land für seine Politik Wahlkampf zu machen?
Erdogan will die große Inszenierung. Er will, dass ganz Europa mitbekommt, wie die Massen hinter ihm stehen. Die Prognosen deuten auf die AKP als Wahlsiegerin hin. Sollte Erdogan neuer Staatspräsident werden, würde er den ungeliebten Europäern demonstrieren, dass er auch in ihren Ländern Wahlen für sich entscheiden kann. Und er könnte sich als Präsident aller Türken auf der ganzen Welt hochstilisieren. Was für eine Symbolik!
Für Erdogan und seine AKP wird dieser Sieg ein Triumph, für die türkische Demokratie eine Katastrophe. Und wir hier in Deutschland? Schauen wir stumm und tatenlos zu? Mit Erdogan als Triumphator führt der Weg der Türkei tiefer hinein in eine Diktatur – und das auch von Deutschland aus, das den Auftritt dieses türkischen Autokraten ermöglicht." Dr. Lale Akgün