"Wählen, auch wenn es wehtut.
Über kaum etwas wird in diesem Wahlkampf so viel debattiert wie über den wachsenden Wahl-Widerwillen. Doch zwischen freudiger Politik-Bejahung und Ausstieg aus dem demokratischen Prozess gibt es noch etwas anderes: das ganz normale Leiden an der "eigenen" Partei. Wer das unerträglich findet, muss nicht weniger, sondern mehr tun als wählen.
Seit 32 Jahren habe ich das Wahlrecht, und ich habe es immer genutzt. So etwas wie die aktuelle, unmittelbar bevorstehende Wahl habe ich allerdings noch nie erlebt. Geredet wird fast nur über Typen:
Wie langweilig und im Wortsinn nichtssagend die Merkel sei.
Wie unerträglich und in der SPD deplatziert der Steinbrück.
Wie überflüssig die FDP,
wie chaotisch die Piraten,
wie bräsig-populistisch die CSU,
wie unglaubwürdig die Grünen.
Das Irre daran ist, dass es oft die vermeintlichen Anhänger dieser Parteien sind, die am lautesten klagen. Ich will mich da gar nicht ausnehmen. Ich hadere seit Jahren mit "meiner" Partei. Irgendwie scheinen wir den Kontakt zueinander verloren zu haben.
Das ist das große Lamento dieser Wahl, eine fast schon universelle Stimmung in allen Lagern: Meine Partei kennt mich nicht mehr. Sie tut nicht, was ich von ihr erwarte. Sie verändert sich in unliebsamer Weise. Sie steht nicht mehr für mich.
Klingt das vertraut? Es ist Zeitgeist. Und es legitimiert die Tatenlosigkeit, das Hinnehmen, die Wahlabstinenz. Man kann ja doch nichts ändern, oder?
Aber sicher doch. Wahl bedeutet nicht, sich für eine Partei zu erklären, die ihr Programm direkt aus unserem Kopf bezieht. Das ist eine nicht erreichbare Utopie, diese Partei gibt es nicht. Aber noch immer geht es darum, als Bürger zu signalisieren, wie man sich dieses Deutschland vorstellt, in dem man leben möchte - und wie seine weitere Entwicklung.
Die Stimmabgabe ist deshalb ein progressiver, fast schöpferischer Akt. Er besiegelt ein Bündnis auf Zeit zwischen Partei und Bürger. Er ist dafür gedacht, dem Gemeinwesen Bewegung und Veränderung zu ermöglichen. Und er legitimiert Politiker, in unserem Auftrag tätig zu werden.
An einer Wahl teilzunehmen, ist also ein kommunikativer Akt. Eine Stimme abzugeben, bedeutet nicht, Applaus zu spenden, sondern eine Erwartungshaltung auszudrücken: Partei, ich erwarte, dass du jetzt etwas für mich tust. Halte deine Versprechen, sonst strafe ich dich beim nächsten Mal, indem ich andere wähle oder gegen dich demonstriere. Tacheles muss man von der Politik auch verlangen, sonst kommt da nichts. Man nennt das Demokratie. Es ist das Gegenteil von Lethargie.
Früher war Politik besser? Unsinn!
Gut angefühlt hat sich das übrigens noch nie. Partei und Wähler passen nur in Ausnahmefällen widerspruchsfrei zusammen. Helmut Kohl war auch unter CDU-Wählern bis zur Wiedervereinigung keine beliebte Person. Für viele Konservative war er als Führungspersönlichkeit damals so unpassend wie für viele Linke derzeit Steinbrück. Auch der heute so verehrte Helmut Schmidt galt vielen im eigenen Lager als der Mann, der den Nato-Doppelbeschluss forcierte und damit den Kalten Krieg anheizte. Die Grünen verdankten ihm quasi ihre Existenz. Viele, die nicht zu ihnen abwanderten, demonstrierten gegen Schmidt - und wählten unter Schmerzen trotzdem SPD, sonst wäre er 1980 nicht noch einmal Kanzler geworden.
Dass uns die Parteien heute oft so entrückt vorkommen, ist auch unsere eigene Schuld. Wir sind ihnen in Scharen davongerannt, haben uns am politischen Diskurs nicht mehr beteiligt. Wir haben sogar aufgehört, mit denen zu streiten, von denen wir Vertretung unserer Interessen erwarten.
Die Parteien erscheinen vielen von uns heute als unzeitgemäß, veraltet, strukturell verhunzt. Wir vermissen bei ihnen Bürgerbeteiligung, basisdemokratische Elemente und ein stärkeres "Von unten"-Prinzip. In interaktiven Zeiten erwarten wir zunehmend Interaktion - und verweigern sie zugleich selbst. Man kann Parteien zerstören, indem man ihnen Stimme und Kontakt entzieht. Verändern kann man sie so nicht.
Wer wirklich leidet am Zustand der deutschen Politik, sollte mehr tun, als nur zu wählen. Man muss ja nicht gleich ein Parteibuch annehmen, schon der Wiedereinstieg in den politischen Diskurs wäre ein Anfang. Mit Reden über Inhalte statt über Merkel-Rauten und Stinkefinger.
Und mit kleinen, demonstrativen Schritten: Ich werde deshalb wählen gehen."
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/wahl-blog-warum-man-waehlen-sollte-a-923498.html