Hallo zusammen,
bin neu hier im Forum. Lese gelegentlich mit, wenn Themen diskutiert werden, die mich persönlich interessieren, so wie dieses Thema. Ich möchte gern meine Sicht der Dinge darlegen und ein bissel zusammenfassen, denn so manches, was ich schreibe, wurde auch schon von anderen Forenten geschrieben, aber erfahrungsgemäß fasert eine Diskussion umso mehr auseinander, je länger sie dauert.
Von welcher Ausgangsposition muß man die Frage "Entdeckt oder vorhanden?" beantworten? Alles, was mit Inhalten und den Strukturen unseres Universums, dem darin Existierenden zusammenhängt, gehört traditionell in den Zuständigkeitsbereich der Ontologie, einem Teilgebiet der Philosophie. Im Grunde genommen müssen wir hier beginnen.
Allerdings nicht ohne den Einwand von uatu:
"Die Frage lädt zum Aneinandervorbeireden ein, solange sich nicht alle Beteiligten auf sehr präzise, unmissverständliche Definitionen von 'erfunden' und 'entdeckt' geeinigt haben."
Wir müssen uns also einigen, worüber wir reden, sonst reden wir aneinander vorbei.
Was "ent"deckt wird, war schon vor der Entdeckung da, und zwar in seiner ursprünglichen Form, es war quasi "be"deckt. Wer etwas erfindet, erschafft dagegen etwas Neues, was zuvor in dieser Beschaffenheit nicht vorhanden war. Ich denke, darauf kann man sich einigen.
Zur Ontologie: Platon hat im 1. Jh. v.Chr. seine Ideenlehre entwickelt. Seiner Auffassung nach gibt es hinter unserer, von uns wahrnehmbaren und durch uns bewohnten Welt noch eine Welt der Ideen, die unabhängig und unerkannt vom Menschen existiert, und von der wir nur ihre Schatten wahrnehmen können. Dorthinein gehören auch die Zahlen und die Mathematik (ich setze mal beides gleich, weil beides zusammengehört).
Dem gegenüber steht die naturalistische Position, der zufolge sich auch geistige Prozesse auf physikalische Prozesse
zurückführen lassen, der Geist, die Idee also keinen gesonderten und getrennten Raum von der Materie einnimmt. Daraus folgt, daß Zahlen, Mathematik keine eigenständigen Entitäten sind wie bei Platon, die unabhängig vom Menschen existieren.
Wer also davon ausgeht, daß Zahlen unabhängig von uns existieren, also von uns entdeckt wurden, ist ein Platoniker. Ich habe festgestellt, daß vor allem Mathematiker diese Überzeugung vertreten. Diese weltanschauliche Position ist aber nicht vereinbar mit einem naturalistischen Weltbild, auf dem u.a. die Naturwissenschaften, allem voran die Physik, basieren. Wer ein naturalistisches Weltbild vertritt, vertritt also die Anschauung, daß Zahlen, Mathematik eine Erfindung des menschlichen Intellekts, meinetwegen auch des Geistes, sind. Was sie für uns so nützlich macht ist die Tatsache, daß Mathematik geeignet ist, die Welt mit großer Genauigkeit beschreiben zu können.
Die Einwände gegen eine eigenständige Existenz von Zahlen:
Etwas, das ist (das existiert), muß Eigenschaften besitzen, mittels derer man es beschreiben und darüber reden kann. Nun, welche Eigenschaften haben Zahlen? Sie haben weder eine Masse noch eine Größe, noch Energie, noch einen Ort, an dem sie sich aufhalten oder zu dem sie sich hin bewegen. Sie sind weder Materie noch Energie noch Wellen noch Felder. Sie haben keinen der Aggregatzustände. Nichts von alldem trifft auf Zahlen zu. Man kann sie nicht sehen, riechen, schmecken, hören. Man kann sie lediglich als Idee beschreiben und auffassen; sie sind ein rein geistiges Konstrukt des Menschen.
Wer anderer Meinung ist: Wo waren die Zahlen denn, bevor wir sie entdeckt haben? Sind sie jetzt immer noch an diesem Ort, oder wo sind sie jetzt? Sind die Zahlen in Deinem Kopf die gleichen wie die in meinem Kopf? Welche Eigenschaften besitzen sie denn außer, daß sie existieren (und dann müßte man noch klären, ob "Existenz" überhaupt eine Eigenschaft ist)?
Hinzu kommt: Die Mathematik muß auf nichts außerhalb ihrer selbst Bezug nehmen; sie genügt sich selbst. Zum Addieren brauchen wir keine konkreten Dinge wie Äpfel oder Steine oder Personen, sondern lediglich die Zahlen und die Rechenvorschrift. Mathematik ist eine Abstraktion in Reinstform.
Noch ein paar Bemerkungen zu den Diskussionsbeiträgen, was mir auf die Schnelle erwähnenswert war:
Izaya weist darauf hin, daß die
"Beschreibung durch Mathematik ... von der eigentlichen Sache getrennt betrachtet werden"
muß, und diese für dieses Thema eigentlich wichtigste Unterscheidung wird leider häufig nicht beachtet.
Oder mit anderen Worten: Das Etikett auf einer Flasche beschreibt ihren Inhalt, ist aber nicht der Inhalt selbst. Die Speisekarte ist nicht das Essen. Oder, wie es Alfred Korzybski schrieb:
"The map ist not the territory. The Word 'dog' does not bite." (Die Karte ist nicht das Gelände; das Wort "Hund" beißt nicht.)
Und so ist der Goldenen Schnitt bespielsweise lediglich die Beschreibung eines Sachverhalts, einer Propoertion, aber nicht der Sachverhalt selbst. Die Natur hat weder den Goldenen Schnitt noch die Geometrie erfunden. Ein paar andere Irrtümer: Mathematik kann in der Natur nicht gefunden werden (außer in unseren Gehirnen, denn wir sind auch ein Teil der Natur). Die Welt funktioniert nicht durch Mathematik, sondern durch ihr innewohnende Gesetzmäßigkeiten (aber sie kann durch Mathematik beschrieben werden).
Woertermord schreibt:
"Die Notwendigkeit zu zählen besteht eigentlich gar nicht in der Natur, braucht ein Tier das?"
Schwer zu beantworten. Aber die Notwendigkeit, Mengen und Größenverhältnisse (viele/wenige Verfolger/Beutetiere, große/geringe Entfernung für Flucht/Jagd) nicht nur zu unterscheiden, sondern auch ins Verhältnis zueinander zu setzen, ist schon im Tierreich vorhanden und auch fürs (Über-)Leben notwendig, und das könnte durchaus die Vorstufe des Rechnens mit Zahlen gewesen sein. Der Übergang zum konkreten Zählen beim Menschen (auch der gehört zur Natur!) dürfte fließend erfolgt sein. Vielleicht ist das auch das Resultat der Herausbildung des Intellekts, der Fähigkeit des abstrakten Denkens. Vielleicht war Zählen anfangs eine bloße Luxustätigkeit, heute allerdings ist das Zählen für uns notwendig.
Wenn wir mit Natur das vom Menschen Unberührte, Unveränderte bezeichnen und mit Kultur das, was der Mensch geschaffen, geändert oder beeinflußt hat, dann würde ich Mathematik als einen Teil der menschlichen Kultur bezeichnen.
shionoro schreibt:
"Es ist ja durchaus eine relevante Frage, ob ein abstraktes Konzept existiert selbst wenn niemand es erdacht hat."
Das uralte Universalienproblem. Platon? Kant? Hume? Wittgenstein? Im ersten Moment könnte man meinen, daß es vermutlich ein rein philosophisches Problem bleiben wird, ein Metadiskurs, denn für die wissenschaftliche Forschung ist es ohne Belang, ob das Konzept Mathematik erfunden oder gefunden wurde.
Das greift aber zu kurz. Der von Dir gewählte Begriff "Konzept" besagt ja im Grunde genommen, daß das etwas mit Wissen, Erkennen zu tun hat, und Erkenntnis setzt ein zu einer Erkenntnis fähiges Wesen voraus. So gesehen ist ein abstraktes, niemals erdachtes Konzept ein Widerspruch in sich.
neoschamane fragt:
"es gibt doch einige "quasi zeitgleiche" entdeckungen/erkenntnisse, wie erklaert sich das mit einer "erfundenen" mathematik? wieso passiert da in zwei koepfen zur gleichen zeit das gleiche?"
Eine plausible Erklärung wäre, daß gleich aufgebaute Gehirne gleichen Denkstrukturen folgen, denn sie haben sich in der selben Umwelt entwickelt, um gleichartige Probleme zu lösen. (Das mit der "gleichen Zeit" würde ich nicht so wörtlich nehmen; wer überprüft mit schon Stoppuhr und Kalender, wann ihm welcher Gedanke zuerst kam und vergleicht sich mit dem anderen?)
Die Struktur, die ich in meinen Beitrag reinbringen wollte, ist mir dann doch nicht so ganz gelungen, aber das Thema ist komplex und berührtgleich mehrere philosophische Gebiete. Ich hoffe aber, daß ich einiges plausibel erklären konnte.
Gruß
observer