@NemonIch tue mich schwer mit dieser Erklärung zur Wahl des Zeltplatzes. Ich habe ja schon einmal geschrieben, dass ich mich mit über mehrere Tage dauernde Ausdauersport-Events (auch in Gruppen) etwas auskenne. Es ist richtig, dass man da abends keinen Luxus benötigt, da man sowieso platt ist und beim Bikepacking habe ich gelernt, dass auch das Übernachten im Zelt seinen Reiz haben kann. Ich weiß daher aber auch, dass einem auf solchen Reisen nichts ferner liegt, als die Übernachtungssituation
unnötig unkomfortabel zu machen.
Weiterhin meine ich, dass selbst wenn diese Übernachtungsform unbedingt genau so hätte absolviert werden müssen (und nicht z.B. etwas näher am Wald und nicht ganz so exponiert gangbar gewesen wäre - immerhin stand ja kein Prüfer daneben), dann verstehe ich den wahrscheinlichen Routenplan so, dass diese Art der Übernachtung ohnehin noch notwendig geworden wäre. Der Otorten erhebt sich etwa 500 Höhenmeter über die Baumgrenze und ist von der dorthin gewandten Süd-Ostseite extrem steil. Ein Aufstieg musste daher also ohnehin über den südlichen oder östlichen Vorpass erfolgen. Ich bezweifle stark, dass dies samt folgendem Abstieg möglich gewesen wäre, ohne gezwungenermaßen sowieso eine Nacht oberhalb der Baumgrenze verbringen zu müssen. Den Qualifikationsvorgaben wäre also auch ohne die Übernachtung am Kholat Genüge getan gewesen. Ich bleibe dabei: Der Grund für die Übernachtung an dieser Stelle war schlichter Zeitdruck. Es war erkannt wurden, dass man die Strecke nicht schaffen würde, wenn man solche Übernachtungen scheut und war bereit, die Nachteile in Kauf zu nehmen.
Von diesen Erwägungen leite ich dann jedoch mein ABER ab: In einer solchen Gruppe gibt es immer divergierende Meinungen. Erst recht dann, wenn Risiken im Spiel sind. Es ist aus meiner Sicht ein Holzweg, sich die Menschen dieser Gruppe als meinungslose Sowjet-Maschinen vorzustellen. Ich meine damit nicht, dass ich erwarten würde, irgendjemand sei auf die Barrikaden gegangen, als die Ansage kam "so, hier wird jetzt übernachtet". Nicht einmal Diskussionen oder Widerworte würde ich für besonders realistisch halten. Aber ein ungutes Gefühl? Sorge, unterschwellige Angst? Ein 'Igor, bist du dir wirklich sicher, dass das eine gute Idee ist?' Das kann ich mir schon gut vorstellen und ist aus meiner Sicht wichtig, um die Folgeereignisse zu verstehen. Wir sprechen von einer irrationalen überstürzten Flucht, als ob der Leibhaftige persönlich im Zelt aufgetaucht wäre. Hierbei spielte ganz sicher Gruppendynamik eine Rolle; beim einen wird der Fluchtreflex extremer gewesen sein, als beim anderen. Immerhin sind zumindest wir beide uns ja einig, dass es nicht den konkreten Moment des Umschwungs von Seelenruhe zu konkreter Lebensgefahr gegeben haben kann, weil dies nicht zu den Rahmenbedingungen passt. Es muss also eine gewachsene, aufgestaute Angst bei zumindest einigen gegeben haben, die sich letztlich in der Panikreaktion Bann brach. Und hierfür ist es sehr wesentlich, ob eine grundsätzliche Sorge bezüglich des Zeltplatzes existierte. Immerhin wird von erfahrenen Leuten berichtet, dass sie nie nie nie das Zelt verlassen würden, egal was passiert. Dieser Gedanke scheint in der Psyche (eines Teils) der Gruppe zugunsten einer Flucht-Alternative eine Optionalität bekommen zu haben, die theoretisch dort keinen Raum hat. Dies funktioniert lediglich über Zweifel.
Nemon schrieb:Und nach bestem Wissen und Gewissen durften sie davon ausgehen, im Notfall schnell absteigen oder zwei Mann zum Lager zurückschicken zu können, was auch immer.
Bist du dir sicher? Besteht nicht Einigkeit darüber, dass ein Verlassen des Zelts einem Todesurteil gleich kam? Rechnete man damit, bei einem Notfall in Ruhe Schuhe, Jacken und Äxte zusammensammeln zu können?
Tron42 schrieb:Es kommt halt auf das Wetter an.
Wenn die Wetterlage so exterm war, dass Sie ihre Tour unweigerlich abbrechen mussten, dann stellt sich mir die Frage warum sie nicht den Berg hinunter gefahren sind und sich z.B. eine vom Wind geschütztere Stelle gesucht haben.
Ich weiß, dass die Wanderer - insb. Dyatlow - gerne zu erfahrenen Extremsport-Koryphäen stilisiert werden. Fakt ist: Die gesammelten Erfahrungen der Gruppe mit Übernachtungen in baumlosem schneebedecktem Gelände lassen sich an einer Hand abzählen. Wer von denen hätte denn einschätzen sollen, wann das Wetter an der konkreten Stelle nun riskant war - und wann tatsächlich gefährlich? Für mich ist die entscheidende Frage aus den oben beschriebenen Gründen dann lediglich, wie stark sie selbst an ihrer Kompetenz zur Beurteilung einer solchen Situation zweifelten. Sie waren in der konkreten Situation
Anfänger, die erste Erfahrungen vorweisen konnten. Bei uns sagt man gerne, die Leute seien 'gerade lang genug dabei, um zu denken, sie wüssten, was sie tun'.