Der Dyatlov-Pass-Vorfall
06.06.2019 um 19:15
Moin,
nachdem ich vor einiger Zeit mal auf das Thema gestoßen bin und jetzt zufällig die aktuelle Fallwind-These aus Schweden mitbekommen habe, jetzt auch mal meine Anmeldung hier, um mitzudiskutieren.
Kurz gesagt ist die Fallwind-Theorie die m.E. plausibelste. Dass Fallwinde eine enorme Kraft entwickeln können, dürfte mittlerweile als nachgewiesen gelten und würde auch erklären, warum - wie früher in diesem Thread geschrieben - offenbar auch mehrere Flugzeuge bzw. Hubschrauber in dieser Gegend verünglückt sind. Ähnliche Vorfälle gab es beispielsweise auch in den USA, wobei das prominenteste Opfer in letzter zeit dürft wohl Steve Fosset gewesen sein, der in Fallwinde in der Nähe eines Gewitters geriet und mit seinem Flugzeug gegen einen Berg prallte.
Wenn ich mich in die Situation am Unglückstag am Dyatlow-Pass hineinversetze, klingt der Ablauf, wie ihn der schwedische Archäologe schildert, durchaus plausibel: Die Wandergruppe hat sich in einem Zelt eingerichtet, das eng und auch schon etwas beschädigt ist. Die nassen Schuhe und Oberbekleidung haben sie abgelegt, durch die Enge und die übrige Kleidung ist es aber warm genug.
Plötzlich drücken Fallwinde das Zelt nieder. Auf den Fotos ist zu sehen, dass die Schneehöhe in dem Gebiet offenbar etwa 30 bis 40cm betragen haben dürfte (viele Bilder zeigen wie die Wanderer knapp knietief im Schnee stehen), d.h. das Zelt etwas tiefer im Schneee stehend, auf einer Seite eventuell auch mit etwas angewehtem Schnee. Das Zelt bricht überraschend ein. Wie bereits geschrieben wurde, ist eine Zeltbahn bei der artigen Winden nicht mehr zu kontrollieren. Nachdem das Zelt auch noch mit der Langseite zum Hang stand, also eine enorme Angriffsfläche für den Wind bot, gehe ich davon aus, dass die Wanderer plötzlich - mitten in ihrer Routinetätigkeit - von einer herienkommenden, flatternden Zeltwand runtergedrückt wurden. Das macht es plausibel, warum das Zelt nicht auf "normalem" Wege verlassen wurde, sondern verschiedene Schnitte gesetzt und keine Ausrüstung gerettet wurde. Die neun stehen unzureichend bekleidet in eiskaltem Wind, in dem sie kaum stehen können, die Reste vom Zelt flattern wild herum, das Zelt droht, weggeweht zu werden. In dieser Situation ist es naheliegend a) Die Ausrüstung erstmal zu sichern und die Zeltbahn - so schwer beschädigt sie auch sein mag - irgendwie zu befestigen, um die Ausrüstung im Zelt zu schützen. Unter diesen Umständen noch etwas aus dem Zelt zu holen halte ich für nicht zielführend. Die Zeltbahn schlägt mit enormer Wucht unkontrolliert herum. Es dürfte schwer genug gewesen sein, sie unten zu halten und mit Schnee zu bedecken, damit sie da bleibt, wo sie ist.
Der Einwand "bei rund 100 km/h Windgeschwindigkeit mit bloßen Händen Schnee draufzuschippen klingt nicht plausibel", ist auf den ersten Blick berechtigt. Allerdings darf man nicht vergessen, dass das Zelt vermutlich (der Eingang war 10-15 cm hoch mit Schnee bedeckt) von höherem Schnee umgeben war. Es dürfte also durchaus möglich gewesen sein, in Teamwork (die einen halten, die anderen schieben den Schnee drauf) genug Schnee draufzubringen - trotzd Dunkelheit und Kälte.
Damit finden sich die Wanderer in folgender Situation: Unzureichend bekleidet in eiskaltem, extrem starkem Wind, das Zelt nicht benutzbar, an die Ausrüstung ist erstmal kein Herankommen (wenn, dann nur mit hoehm Zeitaufwand, was bei der Kälte vermutlich tödlich endet). Abgesehen davon: Wer schonmal im Gelände biwakiert hat und im Winter mit nassem Stoffklamotten herumgelaufen ist, weiß, dass man mit nassem Zeug noch eher auskühlt, als mit etwas weniger trockenen Sachen (ich hatte das Vergnügen bei der Bundeswehr, als es noch die guten Moleskinsachen gab, die sich nach ein paarmal im Schnee rumwälzen so richtig schon vollgesogen haben). Selbst, wenn man davon ausgeht, dass die Kleidung seinerzeit imprägniert gewesen ist, bestand sie doch nicht aus den heute üblichen schnell trocknenden High-Tech-Fasern, sondern aus Stoff.
Die logische Schlussfolgerung für jeden, der überleben will: Eine geschützte Stelle an einer weniger windigen Stelle suchen und dort versuchen, zu überleben, bis es wieder halbwegs hell ist und der Wind nachlässt. In der Dunkelheit unter derartigen Umständen zu versuchen, irgendwas sinnvollerweise zu retten, ist m.E. eher unrealistisch.
Nachdem auf dem Berg selber eher kein Schutz vorhanden ist, erfolgt als der Abstieg über unwegsames Gelände. Vorteil: Bewegung hält warm (wie auch der bereits zitierte Vorfall in Schweden 1978 beweist). Außerdem werden wohl alle - insbesondere der kriegserfahrene Ex-Soldat in der Gruppe, sich vollkommen klar darüber gewesen sein, dass es mit Sicherheit tödlich geendet hätte, in eiskaltem, scharfem Wind zu versuchen, nasse Klamotten aus dem zelt zu retten. Eventuell war auch der Gedanke da, dass die Ausrüstung unter den Resten der Zeltbahn zumindest halbwegs vor Nässe geschützt sein würde und so später dann eher brauchbar.
Der naheligendste Platz, um Schutz zu suchen, war das relativ naheliegende Waldgebiet. Dass die Gruppe zu zweit nebeneinander gegangen ist, hat vermutlich damit etwas zu tun, dass man sich so in unwegsamem Gelände und unter schlechten Sichtverhältnissen besser gegenseitig helfen kann. Die Karten der Gegend zeigen ja, dass es galt, mehrere Felskanten zu überwinden. Keine leichte Übung bei Nacht, erst recht nicht, wenn man schweren Winden ausgesetzt und unterkühlt ist.
Irgendwie haben sie geordnet die 1,5 km zum Wald zurückgelegt. Meine erste handlung dort wäre, mir eine Wärmequelle zu organisieren und mich etwas aufzuwärmen, bevor ich an den Bau einer Behelfsunterkunft gehen würde. Ein Feuer wurde gemacht und brannte wohl eine Weile. Was die Diskussion um Holz betrifft: Nicht alles brennt so ohne weiteres. Es erscheint mir durchaus plausibel, dass die Gruppe trockenes Holz aus etwas größerer Höhe brauchte, um das Feuer in ganz zu bekommen und zu halten. Das erklärt auch die Abschürfungen an den Arminnenseiten Doroshenkos: Er ist den Baum hochgeklettert (naheliegend, weil er auch recht groß war), um Feuerholz zu holen.
Die frischen zweige wurden offenbar zum Bau der Unterkunft abgeschnitten. Um sich gegen Kälte vom Boden zu isolieren, legt man üblicherweise erst eine Lage von Ästen, drüber eine Lage frischer Zweige aus. Das bildet ein Luftpolster und isoliert sehr gut. Um sich weiter zu schützen, sucht man sich eine Ecke, in der man sich leicht in den Schnee graben kann. Das erklärt m.E. auch, warum sie nicht im Wald am Feuer geblieben sind, sondern die Höhle woanders angelgt haben: Wenn man an einem Feuer sitzt, ist zwar der Bauch warm, der Rücken kühlt aber aus. Der Effekt verstärkt sich noch, wenn Wind geht. Das erklärt auch, warum offenbar einige Zweige in Richtung Zelt aufgestellt waren: Nicht als Sichtschutz vor bösen Buben, sondern schlicht als Windschutz, um nicht noch mehr auszukühlen.
Offenbar waren Doroshenko und Krivonischenko allerdings schon so erschöpft bzw. unterkühlt, dass sie starben. Dass ihre Kameraden sie danach weitgehend entkleideten, ist nur logisch, da es um ihr Überleben ging und sie alles nehmen mussten, was sie warmhielt. Die übrigen oberflächlichen Verletzungen der beiden (wie auch der anderen Personen) erkläre ich mir dadurch, dass sie in der Dunkelheit in unwegsamem Gelände und im Wald herumlaufen mussten. Eventuell kamen sie auch dem Feuer etwas zu nah, was die versengten Haare und Kleidungstücke erklären würde (oder der Betreffende ist schlicht am Feuer eingeschlafen / bewusstlos geworden).
Was mir etwas Kopfweh bereitet, ist die Auffindesituation der vier bei der provisorischen Unterkunft. Die Verletzungen (Rippenserienfrakturen, Schädelfrakturen) sprechen für einen Sturz aus etwas Höhe. Dabei sind niedrigere Höhen fast noch schlimmer, als größere. Um ein Beispiel zu nennen: Sturz vom Pferd, resultierend in einem Beckenbruch. Die Sturzhöhe betrug hier gerade mal rund 1,70 m. Mit etwas Schwung vom bockenden Pferd vielleicht gute zwei Meter. Es muss also keine große Höhe sein, um sich derart schwere Verletzungen zuzuziehen, insbesondere dann nicht, wenn der Betreffende schon (wie es hier der Fall gewesen sein dürfte) erschöft und reaktionsarm ist. Was mich allerdings wundert, ist die Auffindesituation. Grundsätzlich erscheint mir eine einbrechende Einsbrücke durchaus plasibel: Die vier bauen die Unterkunft, und der Boden unter ihnen gibt plötzlich nach. Alle fallen ein paar wenige Meter tief und schlagen in verschiedenen Positionen auf. Dass Zolotaryov und Dubinina ebenso wie Thibeaux-Brignolle nicht mehr zu größeren Aktionen fähig waren, erscheint aufgrund der Verletzungsmuster logisch. Zolotaryov ist offenbar auf der rechten Thoraxseite aufgekommen, Dubinina frontal mit dem Brustkorb und dem Gesicht. Thibeaux-Brignole schlug offenbar mit der rechten Schädelseite auf. Bedenkt man, dass alle wohl schon ziemlich erschöpft und unterkühlt waren, erschient das durchaus plausibel. Allerdings verwundert es mich etwas, dass Kolevatov sich an Zolotaryov angeschmiegt hat, obwohl er in einem Flussbett lag und seine Verletzungen offenbar eher leichterer Natur. Allerdings mag es sein, dass er sich eine Gehirnerschütterung (mit entsprechender Bewusstlosigkeit) zuzog bzw. die Aussichtslosigkeit seiner Lage erkannte und aufgab.
Die übrigen drei begaben sich entweder nach diesem Vorfall oder bereits vorher in Richtung des Zeltes. Logisch wäre hier, dass sie - möglichst gut gegen die Kälte gewappnet - versuchten wollten, Material aus dem Zelt zu holen, um bessere Überlebenschance zu haben. Geschafft haben sie es dann - wohl aufgrund der Erschöpfung - nicht mehr. Das aufgeknöpfte Hemd von Dyatlov lässt sich zwanglos durch den Kältetod erklären: In der Literatur finden sich öfter Beschreibungen, dass Erfrierende ein plötzliches Hitzegefühl empfinden und beginnen, sich zu entkleiden. Es ist also keineswegs ungewöhnlich, jemanden, der erfroren ist, so vorzufinden.
Zu den diversen Verschwörungstheorien, die so herumgeistern: Wenn ich Hufgetrappel höre, denke ich nicht an Zebras, sondern an Pferd - zumindest hier in Deutschland. Anders gesagt: Es ist eine Frage der Plausibilität. Gerade mysteriöse Ereignisse werden gerne durch Zeugen aussagen noch mysteriöser gemacht - aus diversen Gründen. Deswegen nehme ich die "Feuerbälle" die angeblich gesehen wurden, nicht übermäßig ernst. Durchaus möglich, dass es sich hier schlicht um Wetterphänomene handelte, die aufgebauscht oder fehlintepretiert wurden. Dazu muss man auch bedenken, dass wohl nichts so unzuverlässig ist, wie Zeugenaussagen. Diverse Experimente aus der Psychologie beweisen das.
Auch der kalte Krieg ist da keine Entschuldigung. Die Sowjets wären wohl kaum so dämlich gewesen, irgendwelche Raketenexperimente in einer Gegend zu machen, wo Wandergruppen unterwegs sein durften. Da geb es genug wirklich abgeschirmte Areale. Abgesehen davon: Selbst angenommen, eine Rakete wäre dort außerplanmäßig rumgesaust: Die Behörden hätten wohl kaum Zivilisten bei der Suche zugelassen oder das Anfertigen ausführlicher Fotodokumentationen.
Auch die Provokationstheorie ist in sich absolut unlogisch. Warum soll ich eine Wandergruppe aus Studenten meucheln, wenn ich eine Reaktion gegen irgendwelche westlichen Staaten oder Agenten provozieren möchte? Insbesondere, wenn dann auch noch irgendwie irgendwas vertuscht wird? Das ist in etwa so, wie wenn ich in China einen Sack Reis umschubse, um eine Reaktion gegen die Bundesrepublik zu provozieren. Das ist schlicht unlogisch. Zumal man 1959 nun wirklich nichts provozieren musste.
Gleiches gilt für irgendwelche Räuberpistolen á la: KGB meuchelt Wandergruppe, weil irgendwas mit Spionage. Das ist schlicht unlogisch im Russland des Jahres 1959. Wozu der Aufwand? Schnappen, einsperren, fertig. Abgesehen davon hätte man mit Sicherheit keine Amateure dabeihaben wollen. Das Risiko, dass irgendwas schief geht, wäre viel zu groß. Und wozu der Aufwand, ein Szenario wie das vorgefundene zu gestalten? Wenn man einen "bedauerlichen Unfall" simulieren wollte, gäbe es wohl plausiblere Szenarien, bessere Auffindesituationen und ein klareres Setting. Wozu soll ich ein dermaßen unklares Szenario schaffen, das Fragen über Fragen aufwirft, wenn ich gerade solche Fragen vermeiden möchte?
Und wenn es nur um das Verschwindenlassen von Leuten geht: Das sollte in den Weiten Russlands bei einer Wandergruppe nun wirklich das geringste Problem sein: Sie verschwinden im Zweifelsfall eben einfach. Das Land ist groß und fertig. In einem totalitäten System dürfte das wohl die kleinste Übung sein.
Ich habe lange über eine halbwegs plausible Erklärung für dieses Unglück geknobelt. Aber ich denke, dass das Fallwind-Szenario mit Abstand das Plausibelste ist. Auch in Hinblick auf die Obduktionsbefunde. Sicher bleiben ein paar Lücken, die sich aber aus der lückenhaften Dokumentation und der teilweise unsicheren Datenlage erklären lassen.
BTW: Zur Diskussion vor ein paar Seiten, wie es denn zu Einblutungen im Herz von Dubinina kommen konnte: Wenn ich mit voller Wucht aus etwas Höhe frontal auf meinen Brustkorb knalle, dann kommt es durchaus auch zu einer Herzquetschung. Dass Dubinina noch einige Zeit gelebt hat, ist nicht unmöglich und erklärt auch die Einblutungen. Die fehlende Zunge erklärt sich durch die Liegeposition im Wasser (das Weichteilgewebe weicht auf und zersetzt sich. Dubinina hatte ja kaum noch Weichteile am Gesicht). Die "heraustretenden Venen", die weiter oben in einer Diskussion erwähnt wurden, snd schlicht das klassische durchschlagende Venen netz, das mit Regelmäßigkeit im Rahmen des Verwesungsprozesses auftritt. Nichts besonderes also. Abgesehen davon bin ich der Ansicht, dass man die Obduktionsbefunde mit Vorsicht genießen sollte. Üblicherweise wird im Rahmen einer Obduktion rein deskriptiv vorgegangen. Hier waren teilweise Interpretationen dabei. Letztlich muss man die Ergebnisse immer in der Gesamtschau sehen und versuchen, sie logisch zu verknüpfen.
Das gleiche gilt für die Radioaktivität, die angeblich gemessen wurde. a) Ist die Frage, wer sie wie gemessen hat und b) haben zwei der Personen in Nukearlabors gearbeitet, als man es mit dem Strahlenschutz noch nicht so genau genommen hat. Wenn wirklich eine signifikante Strahlung vorgelegen hätte, wäre wohl kaum jemand so blöd gewesen, da ohne Schutzanzug hinzugehen. Bzw. - siehe oben - der Mantel des Schweigens wäre deutlich besser drübergelegt worden und man hätte sicher keine Studenten am Ort des Geschehens rumlaufen lassen.
Ich bin mal gespannt, zu welchem Ergebnis die offizielle Untersuchung kommt.