Der Dyatlov-Pass-Vorfall
21.07.2015 um 23:08
Hallo Leute, ich bin neu hier, ein tolles Forum! Werde bestimmt öfter hier schreiben. Konkret bin ich wegen des Djatlow-Vorfalls auf allmystery gestoßen, halte gerade ein Seminar über Verschwörungstheorien ab und ein Teilnehmer hat mich auf die Geschichte aufmerksam gemacht.
Ich habe fast den gesamten Thread durchgelesen, so ca. ab Seite 80 hat sich meine Meinung aber nicht mehr verändert.
Folgender Dialog, im Stile sokratischer Mäeutik, dürfte meine Position am besten wiedergeben. Leider ist er nicht ganz kurz geraten.
emodul möchte ich übrigens besondere Grüße entrichten (warum, wird sich noch offenbaren).
Sokrates: Mein lieber Menedemos, hast du eigentlich schon einmal von dem seltsamen Unfall am Djatlow-Pass anno 1959 gehört?
Menedemos: Sicherlich, Sokrates, du weißt doch, dass ich mich für alle diese mysteriösen Fälle interessiere.
S: Ich meine, der Fall gehört endlich einmal gelöst. Wollen wir uns der Sache annehmen?
M: Liebend gern, Sokrates, aber glaubst du wirklich, wir können dieses ewige Rätsel lösen?
S: Probieren wir es einfach einmal. Zunächst: Ich habe ein Bild gesehen, auf dem erkennt man, dass die Skifahrer ihr Zelt an mehreren Stellen aufgeschnitten haben. Warum haben sie das getan?
M: Keine Ahnung! Vielleicht sind sie verrückt geworden, völlig plemplem! Bei den Temperaturen, das war ja so gut wie ihr Todesurteil.
S: Meinst du denn, dass die verrückt werden konnten?
M: Sicher. Also in dieser menschenverlassenen Ödnis, in dem engen Zelt - ich würde da nach wenigen Stunden einen Koller kriegen!
S: Du vielleicht. Aber es waren doch alles Sportler, die sich freiwillig auf das Abenteuer eingelassen haben und ungefähr wussten, was auf sie zukommt.
M: Nun ja, bei denen hat es dann wohl ein paar Stunden länger gedauert, als es bei mir gedauert hätte. Vielleicht war ja auch noch Wodka im Spiel, du weißt ja - Russen!!
S: Also gut, nehmen wir als Arbeitshypothese, alle werden unter dieses Umständen irgendwann verrückt, Menedemos vielleicht früher, der Expeditionsleiter Djatlow später. Oder glaubst du, dass alle Menschen zur exakt gleichen Zeit verrückt werden?
M: Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube in der Tat, ich würde viel früher verrückt werden als Djatlow.
S: Denkst du, dass zum Beispiel Zolotarew und Djatlow zum exakt selben Zeitpunkt verrückt wurden?
M: Nein, wie gesagt, der eine wird früher, der andere eben später verrückt.
S: Aber sie müssen alle genau zum gleichen Zeitpunkt verrückt geworden sein! Zolotarew, Djatlow, Dubinina, Slobodin und wie sie alle hießen. Denn sie haben alle gleichzeitig mit dem Zerschneiden des Zeltes angefangen, man sieht auf dem Foto, dass an den unterschiedlichsten Stellen angesetzt wurde.
M: Nun, alle zugleich können nicht verrückt gewesen sein, einige Nichtverrückte haben dann mitgeschnitten.
S: Soso! Wenn also Nichtverrückte mitgeschnitten haben, muss es insgesamt einen einen vernünftigen Grund für das gemeinsame Zerstören des Zeltes gegeben haben, siehst du das auch so?
M: Ja. Aber welcher sollte das sein? Damit unterzeichneten sie doch praktisch ihr Todesurteil.
S: Das müssen wir eben herausfinden! Die Ermittler haben konstatiert, dass das Zelt von innen aufgeschnitten wurde. Offensichtlich wollten sie das Zelt auf diesem Weg verlassen. Hatte das Zelt denn keinen Ausgang?
M: O doch, Sokrates, natürlich hatte das Zelt einen Ausgang, jedes Zelt hat einen Ausgang.
S: Aber warum haben sie den nicht benutzt, sondern stattdessen ihr Zelt zerstört?
M: Sicherlich, weil sie den normalen Ausgang nicht benutzen konnten oder wollten.
S: Aber warum denn?
M: Mhhh, vielleicht wollten sie sich etwas Abwechslung verschaffen. "Immer derselbe blöde Ausgang, wie langweilig!", könnten sie sich gesagt haben. "Schaffen wir einen neuen!"
S: Menedemos, ich bin durchaus nicht so humorlos, wie meine marmorne Büste im Louvre den Eindruck erweckt, aber wir wollen jetzt doch einmal ernsthaft bleiben! Also?
M: Nun, der Ausgang war irgendwie nicht passierbar.
S: Wie könnte das sein? War der Reißverschluss zugefroren?
M: Nein Sokrates, damals gab es noch keine Reißverschlüsse. Man hat Zelte von innen zugeknöpft.
S: Aber warum haben sie den Ausgang nicht aufgeknöpft, wenn sie an die frische Luft wollten?
M: Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder war der Ausgang einfach physisch blockiert, da könnte ich mir eine Lawine vorstellen, oder am Eingang war irgendeine Gefahr, die ihnen große Angst gemacht hat.
S: Angst gemacht? Am Ausgang? Wo genau müsste denn dieses angsteinflößende Etwas positioniert gewesen sein, wenn sie sich stattdessen für einen panischen Abgang durch die Seitenwand entschieden haben? Sagen wir, in 20 Metern Entfernung?
M: Nein Sokrates, das wäre unlogisch. Denn wenn das, was ihnen Angst bereitete, 20 Meter entfernt gewesen wäre, dann wäre es ja praktisch egal gewesen, ob sie vorne oder zur Seite rauskommen. Das "angsteinflößende Etwas" muss DIREKT am Ausgang gewesen sein.
S: Aber vielleicht wollten sie einfach möglichst schnell das Zelt verlassen und nicht zwanzig Knöpfe aufdröseln?
M: Das halte ich nicht für möglich, die Zeltbahn zu zerschneiden dauerte auf jeden Fall länger als das Aufknöpfen; man sieht ja auf dem Foto, wie oft sie ansetzen mussten, der Stoff hat bestimmt auch nachgegeben, am Schluss haben sie den Schnitt sogar noch durch Reißen mit den Händen vergrößern müssen. Und die Plane, die Sturm trotzen und Kälte abhalten musste, war bestimmt nicht gerade filigraner Natur. Nein, da ergab sich mit Sicherheit keinerlei Zeitgewinn.
S: Du hast mich überzeugt, eine Gefahr lauerte also unmittelbar am Ausgang und durch den wollten sie deshalb nicht gehen. Aber wer oder was könnte das gewesen sein?
M: Das weiß ich, ein Alien!!! Nichts macht so viel Angst wie ein Alien!
S: Oho, ein Außerirdischer also, so mit grünen Antennen und großen Mandelaugen und riesigem Gehirn, nehme ich an. Und bösen Absichten. Der stand also vor dem Zelt. Wie kommst du denn darauf?
M: Nun, Wochen später haben Leute einige komische Lichter am Himmel gesehen! Auch an dem Tag, als die Studenten gestorben sind, will jemand Lichter gesehen haben. Es kann allerdings auch ein paar Tage vorher oder nachher gewesen sein, so genau wusste derjenige das nicht mehr.
S: Aber ich dachte, die Gegend sei völlig menschenleer. Wie kann es Beobachtungen geben, wenn gar niemand da ist, der etwas beobachten kann?
M: Nun, natürlich nicht direkt vom Djatlow-Pass, aber in etwa 50 Kilometern Entfernung hat jemand etwas gesehen.
S: Was hat er denn genau gesehen? Eine fliegende Untertasse?
M: Nein, nur Lichter. Aber komische halt. Orangene!
S: Mmmhh, du stützt deine Alien-Behauptung also allein darauf, dass irgendjemand irgendwelche Lichter am Himmel gesehen hat in 50 km Entfernung, so grob zum Zeitpunkt des Unglücks?
M: Außerdem waren noch zwei Kleidungsstücke ein bisschen radioaktiv!!! Okay, ich gebe zu - du hast es ja wahrscheinlich auch längst gelesen -, das kann auch daran gelegen haben, dass einige der Studenten in der Uni mit radioaktiven Substanzen hantiert haben. Aber vielleicht waren die Klamotten vor Beginn der Reise ja nur halb so radiaktiv. Die andere Hälfte der Strahlungsdosis kam dann eben doch von den Aliens... jajaja, ich weiß, ich rede gerade Blödsinn, aber sei doch nicht immer so entsetzlich nüchtern!
S: Ich lasse mich gerne vom Numinosen begeistern, bester Menedemos, wenn es denn etwas Numinoses ist. Aber hier spricht doch gar nichts für Außerirdische, oder willst du ernsthaft alles, wofür wir (noch) keine Lösung haben, als erstes mit Außerirdischen erklären? So nach dem Motto: Mein Fön fönt nicht. Erster Erklärungsversuch: Außerirdische Machenschaften, Alarm! Zweiter Erklärungsversuch: Habe ich den Stecker in die Steckdose gesteckt? Menedemos, bevor wir Außerirdische ins Spiel bringen, sollten wir immer erst einmal die gewöhnlicheren Ursachen abchecken. Wenn wir am Ende unserer Untersuchung immer noch nichts Rechtes haben, kommen wir auf deine Außerirdischen zurück, einverstanden?
M (kleinlaut): Na gut.
S: Also, was kann dann noch direkt vor dem Eingang gewesen sein, was unsere Abenteurer lieber den unkomfortablen "Hinterausgang" nehmen ließ?
M: Jetzt hab ich's, ein Bär! Da würde ich auch den Hinterausgang nehmen.
S: Ich zugegeben auch - wenn's denn einen Hinterausgang gäbe. Allerdings habe ich auch mal wo gelesen, dass Bären zu dieser Jahreszeit Winterschlaf zu halten pflegen, in ihrer Höhle. Und da haben sie auch recht, denn im Nordural gibt es zu der Jahreszeit eh nichts zu fressen.
M: Aber vielleicht war es ein Bär, der an Schlaflosigkeit litt?
S: So, und dann hat er einen netten Abendspaziergang gemacht, bei -30 Grad. Und mit seinen riesigen Tatzen hat er dann die Bärenspuren hinterlassen, die man später in der Nähe des Zeltes gefunden hat.
M: Aber die Ermittler haben keinerlei Spuren auf dem Hang gefunden, nur die der Studenten.
S: Ach tatsächlich? Dann war es vielleicht ein Schwebebär?
M: Ach Sokrates, jetzt veräppelst du mich. Also ich gebe zu, das mit dem Bären war keine sonderlich gute Idee.
S: Schön, dass du das einsiehst. Aber was wäre eine gute Idee?
M: Ein schießwütiger Manse, so ein Ureinwohner. Der stand mit einer Knarre vor dem Ausgang.
S: Aber ich habe gehört, die Mansen seien ein recht friedfertiges Völkchen, warum sollte also einer mit einem Gewehr harmlose Studenten bedrohen?
M: Was weiß ich, vielleicht mochte er keine Russen?
S: Vielleicht. Die Frage wäre dann nur, wie er sie gefunden hat, mitten in der Nacht, im Schneesturm. Aber gut, nehmen wir an, er war unterwegs, um die bekannten Uralischen Nachteulen zu jagen, da stolpert er zufällig im Hochgebirge über die Schnüre des Zelts, er kriegt seine heilige Wut, stößt mansische Kraftausdrücke aus, schießt erst einmal in die Luft, die Studenten erwachen unsaft aus ihrem Schlaf ...
M: ... und schnippeln in Panik ihr Zelt auf der Seite auf, weil der Manse mit dem Gewehr ja am Vorderausgang steht und sein Gewehr nur zwei Meter weit schießt. Darauf willst du doch hinaus? Okay, ich gestehe ein, ein Manse kommt wohl auch nicht in Frage. Aber vielleicht war eine geheime militärische Übung im Gange, in die die Gruppe aus Versehen hineingeraten ist.
S: Das glaube wiederum ich nicht, Menedemos. Schau, warum sollten Militärs Geheimwaffen testen, mitten in der Nacht und im Schneesturm? Militärs sind doch wie kleine Kinder, die wollen sehen, wie es "bumms" macht, am Schluss macht es "bumms" und sie haben des Schneegestöbers wegen gar nichts richtig mitgekriegt und dann sind sie sehr traurig. Militärs freuen sich, das Ausmaß ihrer Zerstörung zu begutachten. Außerdem, im Bombenhagel, meinst du, es mache einen Unterschied, ob man ein Zelt vorne oder seitwärts verlässt?
M: Nein.
S: Außerdem hätte man wohl Spuren solcher Aktivitäten finden müssen?
M: Das Militär war ja an der Suche nach den Vermissten beteiligt, in den Akten könnten Hinweise darauf leicht unterschlagen worden sein.
S: Dann müssen wir uns an die Fotos halten. Sieht man darauf so etwas wie Bombentrichter oder von Druckwellen abgeknickte Bäume?
M: Auf den bekannten Fotos jedenfalls nicht.
S: Welche Bereiche decken diese ab?
M: Also auf jeden Fall die Hochfläche, auf der die Tourengeher lagerten, und Teile des Waldes, in den hinein sie geflüchtet sind.
S: Na also. Ich sage, für die Militär-These gibt es auch nichts Substanzielles. Hast du weitere Alternativen?
M: Vielleicht ein Yeti oder sowas? Habe mal gehört, dass auch die Mansen an einen Schneemenschen glauben.
S: Aber die Yetis leben doch im Himalaya, Dummerchen! Oder ob wir einmal Reinhold Messner um Rat fragen sollten? Aber im Ernst, bevor ich einen Yeti ernsthaft in Erwägung ziehe, würde ich mich lieber noch einmal mit deiner Alien-These ausführlich auseinandersetzen. Also weiter: Wer oder was könnte denn noch vor dem Zeltausgang gestanden haben? Denk scharf nach!
M: Hmmmm... Entschuldige Sokrates, mir fällt nichts mehr ein...
S: Schon am Ende deiner Weisheit?
M: Scheint so, aber irgendeine logische Erklärung muss es doch geben?
S: Gewiss, es gibt immer eine logische Erklärung, und zwar eine, die keine Widersprüchlichkeiten zulässt. Denn die Realität ist so. Die Realität ist immer widerspruchsfrei. Also muss auch unsere Erklärung vollkommen widerspruchsfrei sein. Deshalb stelle ich die Frage noch einmal: Warum haben die Skiwanderer nicht den vorhandenen Zeltausgang benutzt, um das Zelt zu verlassen?
M: Hilf mir auf die Sprünge!
S:Betrachten wir einmal folgenden Vergleichsfall: Ein Mann lebt in einem Haus. Eines Tages benutzt er aber statt der Haustür das rückwärtige Fenster, um es zu verlassen. Warum?
M: Vielleicht, weil ein Bär vor der Tür lauert, oder ein Mörder oder ein Außerirdischer. Oder seine Schwiegermutter.
S: Das könnte natürlich sein. Deshalb setzen wir noch eine zusätzliche Prämisse. Das Haus steht mitten in der Pampa. Komplett bären-, alien-, mörder- und schwiegermutterfreies Terrain. Niemand steht also vor der Tür. Warum benutzt er dennoch das Fenster?
M: Weil die Tür klemmt? Verzogen vom strengen Pampawind?
S: Richtig! Weil er die Tür nicht aufkriegt! Aber was bedeutet das für unser Zelt?
M: Also klemmen kann der Zeltausgang ja nicht. Es kann nur was Schweres draufliegen.
S: Und was? Ein Wackerstein?
M: Es käme Schnee in Frage. Ein Lawinenabgang, hab ich ja vorhin schon gesagt.
S: Eben, das hast du schon gesagt, ist nur etwas in Vergessenheit geraten. Aber kann eine Lawine in Frage kommen? Das Gelände mutet doch recht flach an, wenn man sich die Fotos betrachtet. Ab welchem Neigungswinkel droht eigentlich Lawinengefahr?
M: Ich gehe geschwind mal googeln!
(Nach fünf Minuten kehrt Menedemos zurück vom "Googeln".)
S: Und, was hast du herausgefunden in deinem neumodischen Internet?
M: Alsooo, Lawinen drohen normalerweise ab einer Hangneigung ab ca. 25°. An der Stelle, an der das Zelt stand, beträgt die Neigung nur 15°. Aber unmittelbar hangaufwärts ist die Steigung 23°. Das Zelt stand genau in dem Gefällwechsel.
S: Aber das scheint immer noch ein bisschen zu wenig zu sein. Es fehlen 2°!
M: Ja, aber Experten meinen, dass dies nur grobe Angaben und Lawinen insgesamt schwer berechenbar seien. Es kommt auch immer auf die Art des Schnees und auf die Unterlage an. Außerdem haben die Tourengeher vor dem Aufrichten des Zeltes eine regelrechte Stufe in den Schnee gegraben, damit sie ihr Zelt eben aufstellen konnten, das zeigt ihr letztes Foto, das könnte die Schneeschichten destabilisiert haben. Außerdem muss gar keine richtige Lawine abgegangen sein, es reicht eigentlich, wenn nur ein Schneebrett abgerutscht und auf das Zelt gestürzt ist.
S: Mir scheint, dass endlich einmal nichts Gravierendes gegen deine Behauptungen spricht. Vielleicht etwas unwahrscheinlich, angesichts der Hangneigung, aber unwahrscheinlich ist nicht unmöglich. Ein fliegender Bär zum Beispiel ist unmöglich. Aber unwahrscheinliche Dinge passieren häufiger als man denkt. Manche Leute habe zum Beispiel sogar einen Sechser im Lotto.
M: Und ein Sechser im Lotto dürfte weitaus unwahrscheinlicher sein als ein Schneerutsch im Gebirge, selbst wenn der in Frage kommende Hang etwas zu flach erscheint.
S: Aber seien wir nicht vorschnell mit unserem Urteil. Einige Ungereimheiten gibt es schon. Warum zum Beispiel haben die Skifahrer nicht wenigstens ihre Kleidung ausgegraben? Sie standen ja teilweise in Unterwäsche und ohne Schuhe in der eiskalten Nacht, in ihrer Schlafkleidung also; es musste ihnen doch klar sein, dass sie in diesem Aufzug nicht lange überleben können?
M: Vielleicht haben sie das ja versucht. Aber wahrscheinlich haben sie gemerkt, dass sie, zumal in der Dunkelheit, mindestens ein bis zwei Stunden dazu gebraucht hätten und gespürt, dass sie bis dahin erfroren wären, ihre klammen Hände gehorchten ihn bereits zu einem viel früheren Zeitpunkt nicht mehr. Eventuell ist auch ständig Schnee nachgerutscht.
S: Aber die Alternative, das Zelt zu verlassen, führte doch ebenso in den Tod?
M: Das wissen wir jetzt, im Nachhinein. Womöglich hat ja einer die verhängnisvolle Idee geäußert: "Leute, wenn wir hier noch länger herumwühlen, erfrieren wir. Lasst uns den Hang hinuntergehen, das Tal ist bewaldet und windgeschützt, vielleicht gibt es dort einen natürlichen Unterschlupf, dort unten gibt es auch Brennholz, um ein Feuer zu entzünden. So überstehen wir vielleicht die Nacht und nach Sonnenaufgang, bei Tageslicht, können wir immer noch unsere restlichen Sachen bergen.
S: So könnte es gewesen sein. Das war ihre letzte Hoffnung. Sie marschierten also ins Tal...
M: ...und stellten dort fest, dass es eben keine bergende Höhlung gab, kaum brennbares Holz und die verzweifelte Hoffnung auf Windstille hatte sich auch nicht erfüllt.
S: Und als die ersten zu sterben begannen, versuchten die Fittesten doch wieder zum Zelt zurückzukehren, ihren verhängisvollen Fehler korrigieren wollend, haben es aber nicht einmal mehr bis zum Zelt geschafft.
M: Vielleicht war es auch gar kein Fehler, sie hatten wohl so oder so keine Chance.
S: Das erscheint mir eine nachvollziehbare Erklärung. Aber wir dürfen es uns nicht zu leicht machen. Gab es Spuren eines Schneeabgangs? Lag Zelt auf dem Schnee, als man es fand? Und war es zerstört?
M: Schnee lag in der Tat auf dem Zelt, sogar mehr, als man auf den Fotos sieht. Denn es wird berichtet, dass man das Zelt bei der Suche zunächst gar nicht fand, weil so viel Schnee darauflag. Bevor die bekannten Fotos entstanden, ist also erst einmal Schnee weggeschaufelt worden. Aber selbst auf den Fotos liegt noch Schnee auf dem Zelt.
S: Und war das Zelt noch intakt?
M: Es stand natürlich nicht mehr aufrecht, wenn du das meinst. Auf einem Foto sieht es so aus, als ob die rechte Stange noch aufrecht stünde, aber dies wurde wahrscheinlich für die Aufnahme so hindrappiert, auf dem allerersten Foto der Suchmannschaft zeigt sich das Zelt noch weitgehend von Schnee begraben und vollkommen platt. Es gibt also keinen Widerspruch zu unserer Lawinenhypothese; es ist freilich gleichwohl kein Beweis, da seit dem Unglück fast vier Wochen vergangen waren und für den Schnee auf dem Zelt auch Schneeverwehungen verantwortlich gewesen sein könnten.
S: Apropos Schneeverwehungen und heftige Winde: Wenn das Zelt nicht von einer Lawine umgeschmissen worden wäre, aber eine Zeitlang mit offenen, zerschnittenen Zeltwänden herumstand, was wäre dann passiert?
M: Der Wind hätte wohl jede Menge Schnee ins Zeltinnere hineingeblasen.
S: Und in welchem Zustand hätten die Sucher das Zelt dann gefunden?
M: Mit viel Schnee auch innerhalb des Zeltes?
S: Bestimmt! Und war das der Fall?
M: So weit ich weiß, nicht. Es lag zwar Schnee auf dem Zelt, aber nicht innerhalb des Zeltes.
S: Mir scheint, es spricht immer mehr für unsere Überlegung. Aber ein großes Rätsel gibt es noch: Warum haben die Ermittler nicht schon damals an eine Lawine gedacht?
M: Ich meine, das haben sie. Auch die an der Suche beteiligten Mansen haben gleich als Erstes gesagt, dass ihrer Erfahrung nach ein Schneerutsch die Ursache der Katastrophe sein dürfte. Aber vielleicht haben die Ermittler genau den Fehler begangen, der auch den Studenten vier Wochen zuvor zum Verhängnis geworden war: Dass sie gedacht haben, dass in so relativ flachem Gelände ein Schneerutsch unmöglich wäre.
S: Und dann hat sich herausgestellt, dass er nicht unmöglich, sondern nur unwahrscheinlich ist.
M: Was meistens ja auch auf dasselbe rauskommt, in der Alltagserfahrung.
S: Nur wenn das Unwahrscheinliche dann einmal doch eintritt, bemerkt man, dass zwischen "unmöglich" und "unwahrscheinlich" eben doch ein kleiner, aber feiner Unterschied besteht. Ein feiner Unterschied, der neun jungen Menschen das Leben gekostet hat. Sie hatten keine Angst vor Lawinen, weil sie die Erfahrung hatten, dass es im Ural keine Lawinen gibt. Mein Philosophenfreund John Locke hätte seine wahre Freude an diesem Fallbeispiel.
Da wir jetzt fast am Ende sind: Möchtest du, dass wir noch einmal über deine Alien-Hypothese sprechen? Ich halte mein Wort!
M: Nein Sokrates, das erscheint mir nicht mehr nötig.
S: Auch recht.
M: Aber dürfen wir dann deiner Meinung nach das Rätsel als wirklich gelöst betrachten?
S: Ich meine schon, dass wir das tun dürfen. Nachdem wir allen Blödsinn als solchen erkannt und ausgeschlossen haben, ist eben nur eine Möglichkeit übriggeblieben, gegen die auch keine Fakten sprechen. Also muss sie die richtige sein. Es sagt einem im Grunde ja schon der gesunde Menschenverstand: Warum schlitzen neun Skisportler im Hochgebirge von innen ihr Zelt auf, obwohl sie damit ihre schützende Unterkunft zerstören? Ich glaube, wenn ich jetzt raus auf die Straße ginge und einem x-beliebigen Passanten spontan diese Frage stellen würde, würde der mit großer Wahrscheinlichkeit antworten: "Vielleicht, weil ihr Zelt von einer Lawine verschüttet worden ist und sie sich befreien wollten?"
M: Aber wie kann es sein, dass wir beide als erste das Rätsel gelöst haben? Sind wir denn die einzigen halbwegs intelligenten Menschen auf der Welt?
S: Das will ich doch nicht hoffen und glaube ich auch nicht. Außerdem sind wir nicht die ersten, die das Rätsel gelöst haben. Dieses Rätsel haben schon viele vor uns gelöst.
M: Aber Sokrates, warum gilt es denn dann immer noch als "ungelöst" und "mysteriös"?
S: Ach Menedemos, das liegt halt daran, dass es gleichzeitig Leute gibt, die das Rätsel noch nicht gelöst haben, was sie aber nicht hindert, an der Debatte teilzunehmen. Die sind wahrscheinlich sogar in der Mehrzahl. Und für Außenstehende wirkt es dann eben so, als sei das Rätsel noch nicht gelöst. "Die einen sagen so, die anderen so", heißt es dann. Außerdem haben wir mit unserer spröden Lawinenerklärung gegenüber Leuten, die von Aliens fabulieren, eh kaum eine Chance auf Gehör. Und so kann es eben vorkommen, dass Rätsel, die bereits hundertmal gelöst worden sind, als ungelöst gelten.
M: Dass es immer so viele Leute gibt, die nur glauben etwas zu wissen, und es doch nicht tun.
S: Das ist halt so, das hat mich früher schon geärgert, das ist ja bekannt. Doch auch sie erfüllen eine sinnvolle Rolle im Kreislaufe des Lebens. Wenn es sie nicht gäbe, was hätten wir für einen Anlass gehabt, an dieser interessanten Frage unseren Verstand zu schärfen? Und Menschen in fünfzig Jahren hätten auch keine Motivation mehr, über den Vorfall am Djatlowpass zu spekulieren. Aber da die Welt nun mal so ist, wie sie ist, müssen wir das nicht fürchten. Das Rätsel um den Vorfall am Djatlow-Pass wird der Menschheit gewiss erhalten bleiben. Allein wir beide müssen uns einem anderen Problem zuwenden, um uns die Zeit zu vertreiben. Wir wär's denn damit: "Was geht am Morgen auf vier, mittags auf zwei, abends auf drei Beinen...?"
M: Ach, die Sphinx-Frage! Ödipus wusste die Antwort, doch ich hab sie vergessen. Dafür wusste Ödipus andere Fragen nicht zu beantworten, zum Beispiel die, wer er selbst ist, hat sie sich auch nie ernsthaft gestellt. Sehr zu seinem Verhängnis. Findest du sie nicht manchmal auch seltsam, o Sokrates, die Auswahl der Fragen, mit denen wir Menschen uns beschäftigen??