Ich habe mich inzwischen zum Thema Pflanzendarstellungen schlauer gemacht, nämlich mit einer Arbeit von Johannes Gottfried Mayer und Konrad Goehl sowie einer weiteren von Christoph Gerhardt und Bernhard Schnell, die sich mit Kräuterdarstellungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit befassen. Der Schwerpunkt liegt zwar auf Deutschland, aber ich halte das trotzdem auch für das VM für relevant, zumal sein Entstehungsort unsicher ist.
Zunächst ein Blick zurück ins Mittelalter, auf die Entwicklung vor der Entstehungszeit des VM. Gerhardt/Schnell stellen klar, dass in Büchern dieser Zeit generell nicht mit realistischer Pflanzendarstellung gerechnet werden kann, sie bleiben meist unspezifisch. Weder in Romanen und Erzählungen, wo die Beschreibungen meist sehr allgemein bleiben, noch in Fachbüchern, nicht einmal in pharmazeutischen Werken. In deutschen Kräuterbüchern kommen vor dem 15. Jahrhundert überhaupt keine Abbildungen vor. Das liegt daran, dass es sich um medizinische und nicht um botanische Werke handelt. Demnach stand die Wirkung der Pflanze im Vordergrund, nicht ihr Aussehen:
Es gilt generell der auffällige Befund: Über das Aussehen der Pflanzen, deren Vorkommen, Standort oder Sammelzeit wird nichts mitgeteilt. Es gibt ferner keinen einzigen handschriftlichen Textzeugen, der Abbildungen aufweist. Von Anfang an waren in den deutschen Kräuterbüchern keine Abbildungen vorgesehen und die Texte waren so formuliert, daß aus ihnen keine Illustrationen ableitbar waren. Die botanische Kenntnis der Pflanzen und damit ihre alltägliche Verfügbarkeit wird schlicht ebenso wie die richtige Diagnose vorausgesetzt, die die erfolgreiche Therapie erst erlaubt.
Mit dem Kräuterbuch des Münchner Arztes Johannes Hartlieb kommen wir ins mittlere 15. Jahrhundert und damit in die Zeit des VM. Hier finden sich erstmals durchgehend Illustrationen. Aus diesen ist aber kaum schlau zu werden, was offenbar damals die Regel war:
[Es] behandelt in der vollständigen Fassung knapp 170 Pflanzen. [...] Die Bedeutung des Werkes liegt darin, daß es das einzige durchgehend illustrierte, selbständige Kräuterbuch in deutscher Sprache vor der Inkunabelzeit ist. [...] Aus heutiger Sicht verblüffen jedoch vor allem die Pflanzenillustrationen, die, von Ausnahmen abgesehen, so naturfern, ja phantastisch sind, daß sie selbst von einem Fachmann der Botanik oft nicht identifiziert werden können, und dies, obwohl der Name der Pflanze bekannt ist. Was können die Gründe für die ,Naturferne' der Abbildungen sein? Liegt sie etwa im Unvermögen der Illustratoren? Der Vergleich mit anderen Kräuterbüchern des 15. Jahrhunderts zeigt allerdings einen ähnlichen Befund und warnt uns daher vor voreiligen Schlüssen.
Genauer gesagt:
Von den circa 170 Pflanzenbildern besteht bei der überwiegenden Mehrheit ein krasser Widerspruch zwischen Bild und Beschreibung. Nur in knapp 20 Prozent stimmen Darstellung und Text überein, während man bei dem Rest der Abbildungen nur entfernte Übereinstimmung konstatieren kann. Etwas euphemistisch spricht die Literatur hier von „stilisierten Bildern".
In Italien gab es zu dieser Zeit offenbar schon genauere Abbildungen. Das wäre relevant, falls das VM tatsächlich von dort stammt:
Die in Italien um 1400 aufkommenden lateinischen illustrierten ,Circa instans'-Handschriften
waren den Illustratoren offensichtlich nicht bekannt.
Die Ungenauigkeiten liegen auch daran, wie solche Abbildungen entstanden: Sie wurden immer wieder von Buchvorlagen kopiert, offensichtlich ohne einen Abgleich mit der Natur vorzunehmen. Zu naturgetreuen Pflanzendarstellungen kommt es erst ab dem „Gart der Gesundheit", erschienen 1485.
Der Wissenstransfer erfolgte nahezu ausschließlich über das Medium ,Buch' und keineswegs wurde aus dem „mythischen" Wissen der Volksmedizin geschöpft.
Aufgrund dieser stetigen Kopiervorgänge war diese unrealistische Darstellungsweise sehr hartnäckig:
Der bei Hartlieb gewonnene Befund unterstreicht nachhaltig die Richtigkeit der von Arnold Pfister aufgestellten These: „Es gibt nichts Konservativeres als das Pflanzenbild im Buch".
Im Thread wurde vermutet, die Pflanzen seien wegen ihrer fremdartigen Darstellung symbolisch zu verstehen. Dem widerspricht eine Feststellung von Gerhardt/Schnell, dass gerade bei einem symbolischen Einsatz der Wiedererkennungswert wichtig sei, und weisen auf Tafelbilder des 15. Jahrhunderts hin, die im Gegensatz den Kräuterbüchern realistische Darstellungen zeigen:
Auf den zeitgenössischen Tafelbildern z. B. sollen dagegen ein Feigenbaum oder eine Akelei, eine Nelke, eine Rose oder Lilie stets unterschiedliche symbolische Bedeutungen bei den Betrachtern ansprechen bzw. hervorrufen. Sie müssen daher in ihren individuellen Eigentümlichkeiten, Farben, Formen und Details identifizierbar sein, um die entsprechenden spirituellen Regungen, d. h. Andacht, Erbauung, Compassio, Tugendhaltungen etc., zu evozieren. [...] Wenn der Mensch im Mittelalter eine Pflanze in den Bildenden Künsten dargestellt sah oder in der Literatur von ihr hörte oder las, da hatte er es meist nicht mit bloßen Abbildern aus der Natur zu tun, sondern mit Metaphern, Symbolen oder Allegorien.
Hier wurde schon über die Seerose diskutiert, daher ist folgender Abschnitt besonders interessant, der genau diese als Beispiel für die generelle Entwicklung der Pflanzendarstellung behandelt:
Zunächst sei an die beiden überaus naturnahen Darstellungen in der Reimser Kathedrale aus dem 13.Jahrhundert, dem Zeitalter des Albertus Magnus, erinnert (Abb. 6). In den Kräuterbüchern, so in einer Konrad von Megenberg-Handschrift, wird die Seerose ohne jeglichen Bezug zur Realität dargestellt (Abb. 7). Aber auch in den Hartlieb-Handschriften wird sie, im Vergleich zu denen des 13. Jahrhunderts, noch stark schematisch abgebildet (Abb. 8). Die betreffende Illustration im ,Gart der Gesundheit' könnte man dagegen zur Kategorie „Schema-Darstellung mit Naturbeobachtung" einstufen (Abb. 9). Der ,Gart der Gesundheit' ist einerseits die Summe der mittelalterlichen Kräuterbuchliteratur. Er eröffnet aber auch eine neue Entwicklung, wie sie im 16. Jahrhundert etwa durch Brunsfels und im 17. Jahrhundert durch den Hortus Eichstättensis zu Höhepunkten der naturgetreuen Pflanzendarstellungen gelangte.
(Abbildungen von Gerhardt/Schnell)
Inzwischen werden sich wohl einige Leser fragen, warum es diese nutzlosen, unrealistischen Pflanzendarstellungen überhaupt gegeben hat. Die Antwort von Gerhardt/Schnell:
Wir haben es mit einer gattungsgebundenen Buchillustration zu tun. Die Illustrierung von Enzyklopädien, selbst von Naturenzyklopädien, war – vereinfacht gesagt - in erster Linie eine Frage der Buchgestaltung, der Inhaltsgliederung und Kapiteleinteilung und erst in zweiter Linie eine der Sinnerschließung. [...] In den Kräuterbüchern bzw.Pflanzenkapiteln von Enzyklopädien beschränkt sich das Naturverständnis weitgehend auf die Heilkraft der Pflanzen. Diese war jedoch nicht so ohne weiteres darzustellen, d. h. nicht ohne zusätzliche Attribute oder Nebenszenen, wie z. B. auf dem Bild der Aristolochia aus dem Cod. 93 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, der um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden ist. Eine marginale Federzeichnung neben dem Hauptbild zeigt: „Eine Frau mit Ketten an den Handgelenken und grotesk verzerrtem Gesicht hält eine Osterluzeipflanze in der Hand, und aus ihrem Mund entschlüpft ein hahnenfüßiger Teufel. In den letzten Zeilen des Textes wird beschrieben, daß die Osterluzei gegen dämonische Anfechtungen hilft". Wegen dieser Schwierigkeiten bestand offenbar nur geringes Interesse, die Heilpflanzen abzubilden.
Als weiteren Punkt weisen Gerhardt/Schnell darauf hin, dass gerade Kräuterbücher im Umkreis von Fürstenhöfen reich bebildert wurden, was ganz einfach zur repräsentativen Aufmachung des Buches gehörte.
Ob eine mittelalterliche Enzyklopädie bebildert ist oder nicht, verändert ihren naturkundlichen Informationswert so gut wie nicht; und wenn sie einmal illustriert worden ist, dann kann für alle ihre Themenbereiche - man denke nur an Isidors Etymologien' - Naturnähe kein Maßstab gewesen sein, weder für die Autoren noch für die Rezipienten. Der Wandel in der Darstellung von Naturdingen, von Bäumen, Blumen, aber auch von Tieren, vom ,Sinnzeichen' zum ,Naturgegenstand', vollzieht sich nördlich der Alpen weit mehr in der religiösen bildenden Kunst des Mittelalters als in der Illustrierung von Wissensliteratur.
Quelle für alles Vorige:
https://ubt.opus.hbz-nrw.de/opus45-ubtr/frontdoor/deliver/index/docId/1512/file/1512_Gerhardt_Schriften_12.pdfDas Herbarium von Vitus Auslasser von 1479 ist ebenfalls ein Zwischending. Dazu J. G. Mayer und K. Goehl:
Teilweise sind die Darstellungen sehr naturnah, teilweise zeigen sie aber auch noch die mittelalterliche Tradition der schematischen, symmetrischen Abbildung, die meist nur erahnen läßt, welche Pflanze hier gemeint sein könnte.
Was kann man nun für das Voynich-Manuskript daraus mitnehmen? Seine Entstehung fällt in eine Übergangszeit, in der in Büchern noch mit naturfernen Darstellungen zu rechnen ist und eine wirkliche Naturtreue erst nach und nach aufkommt. Seine Pflanzenbilder sind also für die Zeit nichts Besonderes und lassen alle möglichen Inhalte und einen Hoax offen.
Bleiben also nur die übrigen Abbildungen und der Text selbst, wobei ja vor allem letzterer bekanntlich laut den Analysen sehr nach Hoax aussieht.