Kaspar Hauser
26.11.2021 um 12:56
Hallo Siefried, schön, dass Du vorbeischaust!
Eigentlich hab ich ja in meinem neuesten und sehr langen Beitrag Eulen nach Athen getragen. Denn in den 18 Seiten unserer Allmystery-Diskussion hat sich ja irgendwann die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Erbprinztheorie ziemlich absurd ist, und dass Kaspars eigene Erzählungen einfach nicht stimmen können. Ich weiss nicht, ob sich dann doch viele Kommentatoren haben überzeugen lassen, oder ob sie einfach aufgegeben haben, sich hier zu äussern 😉 Denn erfahrungsgemäss ist es extrem schwer, Ansichten, die sich über einen längeren Zeitraum gebildet haben, zu ändern. Denn es ist ja durchaus unangenehm, einsehen zu müssen, dass man eventuell sehr viel Grips und Zeit in eine falsche Fährte investiert hat.
Aber ich habe selbst vor vielen, vielen Jahren geglaubt, dass Kaspars Geschichte von der fast lebenslangen Einkerkerung im Dunklen bei Brot und Wasser stimmte. Ausserdem glaubte ich, dass er ermordet wurde. Und wenn er getötet wurde, musste es dafür ja einen sehr triftigen Grund geben! Aber ich hatte mih damals nicht mit den Einzelheiten von Kaspars Tod beschäftigt. Ausserdem war ich damals massgeblich von Feuerbachs Abhandlung, die ich tatsächlich komplett gelesen habe, und von den beiden Filmen beeinflusst. Und die Filme sind ja auch hervorragend und auch heute noch sehr sehenswert. Vor allem Werner Herzogs Film ist ein Kunstwerk. Aber man muss sich eben klar machen, dass die Handlung teilweise fiktiv ist! Und Werner Herzog hat Lord Stanhope ja als dekadenten und ganz offensichtlich schwulen Dandy mit einem sehr fragwürdigen Charakter gezeigt, der sich nur deshalb für Kaspar interessierte, weil er eine viel beachtete Kuriosität war. Das könnte sogar der Wahrheit entsprechen. Vielleicht war Kaspar für den Lord lediglich ein exotisches Exemplar, das er für seine Menagerie haben wollte. Aber man muss Lord Stanhope immerhin zugute halten, dass er - wie Du sagtest - irgendwann dann doch seinen gesunden Menschenverstand einschaltete und die richtigen Fragen gestellt hat. Und er hat immerhin seine Zahlungen für Kaspars Unterhalt nicht eingestellt, obwohl er zu der Überzeugung gekommen war, dass Kaspar ein Hochstapler war! Leider war Lord Stanhope schon zu Lebzeiten und auch danach ein Charakter mit einem etwas zweifelhaften Ruf. Das trifft übrigens auf die gesamte Familie Stanhope zu, deren Mitglieder für die damaligen Zeiten sehr unkonventionell erzogen worden waren. Vor Allem Hester Stanhope hatte einen sehr interessanten Lebenslauf, und sie war schon zu Lebzeiten berühmt und berüchtigt, weil sie sich um die damaligen Vorstellungen, wie sich eine adlige Frau zu benehmen hat, einfach nicht gekümmert hat. Es lohnt sich sehr, sich mit ihrer Person näher zu beschäftigen.
Wie auch immer - ich denke, dass Lord Stanhope irgendwann die richtigen Schlüsse zog, nachdem alle seine Bemühungen, Kaspars Herkunft aufzuklären, gescheitert waren, und als er merkte, dass Kaspar oft nicht die Wahrheit sagte. Im Übrigen gibt es ja auch diese Notiz von Feuerbach, die darauf schliessen lässt, dass selbst er anfing, einige von Kaspars Erzählungen anzuzweifeln. Aber vielleicht war es auch für ihn schwierig, die Reissleine zu ziehen, nachdem er sich jahrelang um Kaspar bemüht hatte und Zeit, Geld und vor Allem seinen guten Ruf investiert hatte, um das Geheimnis von Kaspars Herkunft zu klären. Da er kurz darauf starb, werden wir nie erfahren, ob Feuerbach es geschafft hätte, seine Ansichten zu revidieren.
Ich persönlich finde, dass Kaspars Fall auch dann, wenn er kein Erbprinz war, sehr interessant und auch tragisch ist. Ich würde sehr gern mehr über ihn herausfinden. Aber leider sind die Spuren nach so langer Zeit nicht mehr vorhanden. Und ielleicht ist die Erbprinztheorie auch deshalb so populär, weil man mit den heutigen wissenschaftlichen Mitteln, wie zB genetischen Untersuchungen und Exhumierungen, tatsächlich ein paar Sachen überprüfen kann, und weil die Personen, die in eine mutmassliche Verschwörung verwickelt sein könnten, bekannt sind. Leider haben die Ergebnisse der bisherigen genetischen Untersuchungen nicht zu Ergebnissen geführt, die von allen akzeptiert werden. Es ist ein wenig so, wie mit dem Turiner Grabtuch. Die bishrigen Untersuchungen haben gezeigt, dass es sich um eine recht geniale mittelalterliche Fälschung handelt. Aber die "true believers" argumentieren, dass es sich ausgerechnet bei dem Gewebeabschnitt, der untersucht wurde, um Reparaturen handeln könnte, die im Mittelalter am echten Grabtuch vorgenommen wurden. Im Falle Kaspar Hauser kann man alle genetischen Untersuchungen die zu dem Ergebnis kommen, dass Kaspar kein badischer Erbprinz war, anzweifeln, indem man behauptet, dass das untersuchte Material nicht von Kaspar Hauser stammt 😉