Kaspar Hauser
14.01.2020 um 14:40
Ein kräftiges "Hallo" an alle, die hier vielleicht immer noch an dem Fall "Kaspar Hauser" interessiert sind ✋
Ich bin neu hier, aber der Kaspar Hauser hat mich schon seit meiner (nun schon lange zurückliegenden) Kindheit brennend interessiert.
Ich hörte zum ersten Mal von Kaspar durch das Reinhard-Mey-Lied, welches mich als Kind sehr beeindruckt hat.
Dann mussten wir im Deutschunterricht das Schauspiel "Kaspar" vom jetzt frisch gebackenen Nobelpreisträger Peter Handke lesen und im Theater sehen. Dazu werde ich später noch mehr sagen, denn Handke, dem es ja gar nicht um die historische Wahrheit ging, sondern um seine Ansicht, dass junge Menschen durch das Eintrichtern bzw. Einsagen von sog. Bildungsinhalten ge-beziehungsweise verformt werden können, mag durchaus recht dicht dran an den wirklichen Geschehnissen gewesen sein.
Nachdem so das Interesse in mir geweckt war, habe ich mir mehrfach den absolut wunderbaren und auch heute noch sehenswerten Film von Werner Herzog, "Jeder Für Sich Und Gott Gegen Alle" angeschaut. Man sollte diesen unendlich schönen Film als ein filmisches Meisterwerk Herzogs ansehen und daraus keinerlei Schlüsse ziehen, was mit Kaspar wirklich geschah. Herzogs Filme "Aguirre, Der Zorn Gottes" und "Fitzcaraldo" sind ja auch keine exakte Darstellungen der historischen Personen und Ereignisse. Da es aber damals in den 1970er Jahren sehr viel schwieriger war als heute, sich eine Übersicht über die Fakten und diversen Meinungen zu verschaffen (heutzutage ist wohl das größere Problem, aus hunderten von Infos die relevanten herauszufiltern😉), hat der Film von Werner Herzog meine Einstellung zu Kaspar Hauser lange Zeit geprägt. Sehr viel später kam dann der auch sehr schöne Film von Peter Sehr mit Andre Eisermann als Kaspar dazu. Zu dem Zeitpunkt ist es mir bis dahin nicht in den Sinn gekommen, dass Kaspar einfach ein Hochstapler gewesen sein könnte, denn ich habe es als erwiesen angesehen, dass er letztendlich ermordet wurde, und dafür musste es ja einen triftigen Grund geben!
Allerdings kam mir das Szenario, dass Kaspar als Baby ausgetauscht wurde und dass er ein Erbprinz aus dem Hause Baden sei, schon immer völlig abstrus vor, denn selbst wenn bei der hohen Sterblichkeit von männlichen Nachkommen im Hause Baden nicht immer alles mit rechten Dingen zugegangen sein sollte, erschließt sich mir die Motivation hinter so einem komplizierten und langjährigen Komplott nicht. Und dieses Babytausch-Szenario wurde ja schon im 19. Jahrhundert ziemlich schlüssig widerlegt, da zumindest Oma Amalie ihren Enkel nach eigenen Angaben sehr gut kannte und etwas hätte merken müssen.
Außerdem wurde mir spätestens während meines Studiums und meiner Ausbildung zur forensischen Psychologin klar, dass auch die Geschichte der fast lebenslangen Einkerkerung und der damit einhergehenden Sinnesdeprivation unmöglich stimmen konnte. Ich will hier darauf gar nicht näher eingehen, denn in diesem Punkt sind wir uns, glaube ich, weitgehend einig. Diese Geschichte ist einfach unmöglich und ich wundere mich ehrlich gesagt sehr, dass sie damals von vielen geglaubt wurde. Und wenn Kaspar in diesem Punkt ganz klar Unwahrheiten von sich gab, ist seine Glaubwürdigkeit schon von Anfang an lädiert.
Dann kamen 1996 und 2002 die beiden sich scheinbar widersprechenden Genanalysen. Die erste Genanalyse von 1996 ist vermutlich irrelevant, da es sich bei dem getesteten Blut höchstwahrscheinlich nicht um Kaspars Blut handelt. Denn es hat sich wohl leider herausgestellt, dass der Blutfleck von übereifrigen Mitarbeitern des Museums immer mal wieder "aufgefrischt" wurde, damit das Ausstellungsstück schön authentisch gruselig rüber kam😉
Was die zweite Genanalyse, in der andere Proben untersucht wurden, angeht, sollte man im Auge behalten, dass die Ergebnisse nie veröffentlicht wurden und daher ein sog. "Peer Review" nie stattfand. Das ist sehr schade, aber es gibt immerhin einige interessante Aussagen von beteiligten Wissenschaftlern in einem sehr aufschlussreichen Artikel im Spiegel, der hier auch wiederholt erwähnt wurde, denn die ZDF-Doku ist leider wirklich mehr eine Märchenstunde. Ich möchte hier auf einen Aspekt der Genanalyse hinweisen, der - so glaube ich - oft missverstanden wird. Es wird immer wieder gesagt, dass das Genmaterial der Haarlocke in allen Positionen bis auf einer mit den in mütterlicher Linie vererbten Genen des Hauses Baden übereinstimmt. Für den Laien klingt das sehr bedeutungsvoll, obwohl es das in Wirklichkeit gar nicht ist. Denn nur eine hundertprozentige Übereinstimmung wäre ein tauglicher Beweis, dass Hauser tatsächlich ein Spross des Hauses Baden war! Denn es gibt in der Gegend in Deutschland sehr viele Menschen, die genau den gleichen Übereinstimmungsprozentsatz aufweisen und nicht mit dem Haus Haus Baden blutsverwandt sind. Die Testergebnisse von 2002 sind also eigentlich gar nichts Besonderes, und eigentlich sollte die Nichtübereinstimmung auf einer Position ausreichend sein, um Kaspars Zugehörigkeit zum Haus Baden auszuschließen! Dass der Leiter der Untersuchungen soweit aber nicht gehen möchte, hat folgenden Grund: er kann nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen, dass die Nichtübereinstimmung auf einer Position nicht durch eine spontane Mutation zustandegekommen ist, die irgendwann seit der Geburt Kaspar Hausers und der Geburt der Frau, die das Testmaterial zur Verfügung gestellt hat, stattgefunden hat. Da dies nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausgeschlossen werden kann, will der Leiter der Untersuchungen sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen und kategorisch behaupten, es sei unmöglich, dass Kaspar mit dem Haus Baden blutsverwandt ist - obwohl die Nichtzugehörigkeit wahrscheinlicher als das Vorkommen einer spontanen Mutation ist. Das heißt mit anderen Worten, dass es für die Anhänger der Erbprinz-Theorie noch ein Schlupfloch gibt☺ Ich persönlich würde aber nicht von einer Patt-Situation sprechen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass eine spontane Mutation für die Nichtübereinstimmung auf einer Position verantwortlich ist, ist kleiner als dass Kaspar einfach nicht mit dem Haus Baden verwandt ist.
Es ist schade dass seitdem keine weiteren Untersuchungen des vorhandenen Materials stattgefunden haben, denn die Technik hat sich seitdem rasant entwickelt, und man könnte eventuell eingrenzen, aus welcher Gegend Kaspar höchstwahrscheinlich stammt. Außerdem wäre es möglich, die Erbprinz-Theorie ein für allemal zu klären, wenn man die Überreste in der Gruft zur Abklärung heranziehen würde. Es ist sehr schade, dass die vorherrschende Ethik da offenbar ein Hemmshuh ist. Ich kann ja verstehen, dass die Totenruhe nicht wegen jeder willkürlich aufgestellten Behauptung gestört werden sollte. Aber die Geschichte Kaspar Hausers ist doch mittlerweile deutsches Kulturgut. Es ist natürlich auch möglich, dass viele Hauserianer vieles gar nicht wirklich wissen wollen, denn eine entgültige Klärung würde ja viele Jahre Forschung den Bach runtergehen lassen 😉
Ich habe nach gründlicher Betrachtung aller vorhandenen Informationen für mich ausgeschlossen, dass Kaspar ein Angehöriger des Hauses Baden ist und als Baby ausgetauscht wurde. Ich habe ebenfalls ausgeschlossen, dass er von Kind an in einem dunklen Verließ eingesperrt war und nur mit Brot und Wasser ernährt wurde, und dass er alle Fähigkeiten, die er ja offenbar doch schon hatte, als er in Nürnberg auftauchte, erst in einem Crash-Kurs von seinem Peiniger beigebracht bekam. Und während es für die Zugehörigkeit zum Haus Baden noch ein winziges Schlupfloch in Form einer möglichen spontanen Gen-Mutation gibt, kann man das Szenario einer langjährigen Einzelhaft in einem dunklen Kerker mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen.
Leider lässt sich damit die Frage, wer Kaspar Hauser denn nun wirklich war, nicht mal annähernd beantworten. Ich denke aber, dass seine ganz offensichtlich schon vorhandenen Fähigkeiten als er auftauchte, und seine zunächst rasanten Fortschritte mit der er angeblich Neues lernte, ein Hinweis sind, dass er keineswegs total ungebildet war. Denn es ist nach heutigem Erkenntnisstand einfach nicht möglich, Dinge wie Lesen und Schreiben - oder sogar Latein - in dieser Geschwindigkeit zu lernen, wenn nicht schon Basisfertigkeiten vorhanden sind. Und das sagt uns ja eigentlich schon eine Menge über Kaspar Hauser! Entweder ist er in die Schule gegangen (was er offenbar anfänglich ja sogar selber behauptet hat) oder jemand hat sich die Mühe gemacht, ihm eine Basis-Erziehung angedeihen zu lassen. Wenn das so war, könnte ich mir gut vorstellen, dass er ein uneheliches Kind aus einer Beziehung war, die aus irgendeinem Grund nicht öffentlich bekannt werden durfte, und dass Kaspar extrem isoliert aber nicht völlig ohne menschliche Kontakte aufwuchs. Aber mindestens einer seiner Eltern könnte gebildet gewesen sein. Es ist zwar sehr spekulativ, aber ich finde die immer wieder auftauchende Idee, dass sein Vater ein Geistlicher war, durchaus nicht unplausibel, denn es würde erklären, warum Kaspar einerseits isoliert aufgewachsen sein könnte, aber dennoch einen gewissen Bildungsgrad hatte. Obwohl das natürlich nicht mit den mitgeführten Briefen übereinstimmt, die besagen, dass sein Vater ein "Reiter" war, also vermutlich irgendeiner Kavallerie angehörte. Es stellt sich ohnehin die Frage, was man Kaspar glauben kann und was nicht. Und während etliche Behauptungen Kaspars ganz klar nicht stimmen können, ist es doch so, dass viele Lügner und Phantasten ihre erfundenen Geschichten auf einem Körnchen Wahrheit aufbauen, denn es ist ist sehr schwierig, etwas völlig Neues aus dem Nichts heraus zu erfinden.
Im Fall Kaspars glaube ich auch, dass er wohl nicht von Anfang an die Idee hatte, sich mit einer wilden Räuberpistole gezielt materielle Vorteile zu schaffen. Es spricht viel dafür, dass ihm zunächst viel in den Mund gelegt wurde und er irgendwann den ihm zugespielten Ball aufnahm um zu gefallen und vielleicht so etwas wie menschliche Nähe und Zuneigung zu erfahren. Ich sehe Kaspar nicht so sehr als gerissenen Betrüger sondern als einen tragischen Fall, der so sehr nach Zuneigung und Anerkennung lechzte, dass er sogar bereit war, sich selber zu verletzen - was dann beim dritten Mal tragischerweise tödlich endete. Speziell diese Fälle von Selbstverletzung, die ja in den ersten beiden Fällen ziemlich eindeutig sind, weisen für mich darauf hin, dass Kaspar nicht so sehr ein gerissener Betrüger sondern ein psychisch auffälliger Jugendlicher war, der sehr viel Phantasie hatte, und der das Mittel der Selbstverletzung benutzte um bestimmte emotionale Ziele zu erreichen. Heute ist uns dieses Konzept viel vertrauter als damals. Das erklärt, warum viele seiner Erzieher sich von ihm, nach anfänglicher Begeisterung, abwandten und ihn als gerissenen Lügner einstuften. Heute würde man das ganz anders beurteilen. Es ist durchaus möglich, dass Feuerbach mit seiner Idee des Verbrechens an einer Menschenseele gar nicht so unrecht hatte, dass die Verletzungen von Kaspars Seele aber ganz andere waren als von Feuerbach angenommen.
Kaspars tatsächliche Herkunft wird man wohl nicht mehr ermitteln können. Ich glaube aber nicht, dass er ein Teil eines langjährigen politischen Komplotts war, oder dass jemand ihn seit seiner Kleinkindzeit zu irgendwelchen wissenschaftlichen Experimenten missbrauchte und dann aussetzte, um festzustellen, wie er sich in die menschliche Gesellschaft einfügen würde. Letzteres habe ich lange Zeit für möglich gehalten. Aber das Studium von Quellen, die Aufschluss darüber geben, was Kaspar tatsächlich alles schon konnte und wusste, als er auftauchte, sowie sein guter körperlicher Zustand, haben mich dazu gebracht, diese Idee entgültig zu verwerfen. Vermutlich war er einfach das Resultat einer illegitimen Beziehung, die geheim gehalten werden musste. Das war damals ja keine Seltenheit und hat die Psyche vieler junger Menschen sehr geschädigt.
Das war ein seeeehr langer und ausführlicher Erstlingsbeitrag mit vielen Spekulationen, und ich weiß nicht mal, ob irgendjemand hier noch mitliest und mitdenkt 😁😁😁. Aber ich habe mich tatsächlich schon sehr lange mit dem Thema beschäftigt und wollte meine Gedanken einfach mal ordnen.
Noch eins: ich bin keineswegs immer ein Fan von Wikipedia. Besonders, wenn man sich in einem Thema gut auskennt, entdeckt man oft viele Fehler oder fehlende wichtige Informationen. Aber der Artikel über Kaspar Hauser ist meiner Meinung nach sehr gründlich und empfehlenswert, da er seht viele Quellen und Informationen zusammengestellt hat, die zum Weiterverfolgen einladen. Und vielleicht ist es ja möglich, hinter den gängigen Klischees des vertauschten Erbprinzen einerseits und dem gerissenen Betrüger andererseits den jungen Menschen Kaspar Hauser zu sehen, dessen kurzes Leben tragischerweise sehr jung endete - vielleicht, weil schon zu Lebzeiten ihn keiner wirklich verstanden hat...
Und jetzt werde ich mir nochmal die beiden wunderbaren Filme von Werner Herzog und Peter Sehr anschauen. Denn sie erzählen wunderbar romantische Geschichte - und dass sie vermutlich nicht wahr sind, macht die Geschichten nicht weniger schön!